Reflexionen, Fragen und Thesen angesichts der aktuellen Entwicklungen

06.11.2024

Die Ampel ist Geschichte. Aber nach wie vor ist die Regierung im Amt. Es ist keine Übergangsregierung, sondern eine Minderheitsregierung – in anderen Ländern oft über längere Phasen eine Normalität, bei uns Anlass, das wie einen Verrat am Grundgesetz zu bewerten.

Mir stellen sich Fragen. Und ich habe auch Vermutungen und wage auch eigene Erklärungen. Ich bin dabei keiner Partei verpflichtet, gehöre keiner an. Und äußere mich in der Unabhängigkeit eines mündigen Bürgers und eines wachen Christenmenschen, dem das Gemeinwesen nicht gleichgültig ist.

1. Die Ampel wurde medial seit längerer Zeit nur noch unter der Frage in den Blick genommen: Worüber streiten sie gerade wieder? Tatsache ist doch: Die Ampel bildete mit den drei ihr angehörenden Parteien eine breite Spanne politischer Überzeugungen ab. Das war für eine „Fortschrittskoalition“ eine notwendige Voraussetzung. Der Streit spiegelte immer auch den gesellschaftlichen Diskurs wider und gehört in einer Demokratie dazu. Warum auch (links)liberale Medien dies immer mehr mit Häme begleitet haben, hat sich mir nie erschlossen.  Dass unter dem öffentlichen Druck dann die Fehlerquote zunimmt, liegt in der Natur der sich zuspitzenden Situation. Und: Eine neue Regierung wird um diesen Spagat ebenfalls nicht herumkommen. Auch sie wird nicht ohne Streit Erfolg haben können. In einer Phase, in der Blasen und Einzelgruppen vor allem ihre eigenen Ansprüche formulieren, kann der Streit nicht ausbleiben!

2. Die Ampel stand vor größeren Herausforderungen wie jede Regierung vor ihr! Corona, Überfall auf die Ukraine, Kompensierung des Wegfalls der Gaslieferungen etc. Sie hat das insgesamt gut gemeistert. Insgesamt lässt sich sagen: Die Erfolgsbilanz der Ampel ist größer als es auf den ersten Blick den Anschein hat (Mindestlohn erhöht, Deutschland-Ticket, Lobby-Register, Klimaschutz, Ausbau regenerativer Energien, ja- auch das Heizungsgesetz etc.).  Dies wurde und wird viel zu wenig gewürdigt. Es war der Quote dienlicher, die Ampel täglich neu vorzuführen. Einer der drei Partner hat sich unter Profilierungsdruck (schlechte Umfragewerte) aus meiner Sicht zusehends mehr aus der Solidarität entfernt und „über die Bande“ (mit „Durchstechen“ und öffentlichem Veränderungsdruck, kurz nachdem ein Konsens hergestellt worden war) ein eigenes, koalitionsschädliches Spiel gespielt, am Ende mit einem Papier, das für die beiden anderen Partner so nur als Affront wahrgenommen werden konnte. Zwei Gründe sprechen dafür, dass die Entlassung des Finanzministers darum kein abgekartetes Spiel gewesen ist: Zum einen die offensichtliche emotionale Betroffenheit des Kanzlers in seiner Ansprache und zum anderen – was bisher unter diesem Gesichtspunkt noch wenig diskutiert wurde – die Absatzbewegung des Verkehrsministers Volker Wissing, der ja durch diesen Akt nichts gewinnen konnte als seine eigene Glaubwürdigkeit. Das Spiel war zumindest in letzter Zeitoffensichtlich zusehends ein falsches!

3. Medial inszenierte Kampagnen haben mich sehr betroffen zurückgelassen! So etwa die öffentlich inszenierte Kampagne gegen den Wirtschaftsminister nach dem durchgestochenen Entwurf des Heizungsgesetzes (das kommunikativ falsch eingefädelt gewesen sein mag, aber in der Sache richtig war) und das mit Halb- und Unwahrheiten einen bis dato mit hohen Zustimmungswerten Minister und seine Partei diskreditierte. Auch die Außenministerin wurde, so scheint’s mir, trotz ihres hohen Einsatzes medial immer weniger beachtet.

4. Bleibt der Bundeskanzler. Man muss ihn nicht mögen, ein Kanzler soll seine Sache gut machen, aber er muss kein medialer Star sein! Aber der Spott und die Häme, die immer mehr zugenommen haben, führten am Ende zu einer Situation, in der Scholz parallel dafür gescholten wurde, dass er das Richtige zum falschen Zeitpunkt, zu früh oder zu spät tue oder zum rechten Zeitpunkt das Falsche – Hauptsache eins drauf und „Die Ampel wars!“ gerufen. Ich frage mich, ob manche Medienmenschen nicht verkraftet haben, dass der von ihnen vor der letzten Bundestagswahl auch schon als Kanzlerkandidat vorgeführte Scholz am Ende dennoch der Kanzler geworden ist – und die aus narzisstischer Kränkung heraus in einer zweiten, jetzt anstehenden Wahl die (so nicht erwiesene) Richtigkeit von damals endlich wiederherstellen wollen. Rational kann ich mir diese Scholz-, Habeck- und Ampelschelte fast nicht erklären.

5. Was bleibt? Auch ein neuer Kanzler (eine Kanzlerin wird’s wohl nicht) muss einen weiten Laden zusammenhalten. Und wer mit bestimmten Medien „ins Bett geht“ braucht sich am Ende auch nicht wundern, wenn er bald auch wie der Kaiser mit seinen neuen Kleidern selbst vor der Türe steht. Fürs Land wäre es – zumal nach der Trump-Wahl eher - schlecht. Aber womöglich schalten ein paar Menschen mehr den Sender ein, kaufen sich eine Zeitung - und bringen Quote.

6. Und wie geht‘s weiter? Die Opposition drängelt, das mag man ihr nachsehen. Aber die Vorstellung, wir müssten im Januar wählen, hätte zur Folge, dass über Advent, Weihnachten und den Jahreswechsel die Städte mit Wahlplakaten voll wären, der Ton noch rauher – von den Schwierigkeiten der Wahlvorbereitung, Listen etc. ganz zu schweigen. Warum reagiert der politische Raum nur noch mit Reflexen? Sagt der Kanzler Wahl im März, was eigentlich vernünftig wäre, weil alles Zeit braucht, will die Opposition möglich morgen alles über die Bühne bringen – nicht einmal den Wahltermin kann man noch im Konsens bestimmen, wo doch schon die Bundeswahlleiterin auf einen geordneten Vorlauf hinweist. Die beiden Parteien am rechten Rand wird es freuen.

7. Manchmal will ich’s nicht glauben – dabei hat die Welt derzeit noch weit größere Probleme als die persönlichen Ambitionen bestimmter Personen. Am Ende geht’s doch nicht darum, recht zu behalten, sondern das Gemeinwohl im Blick zu haben! Wer hat den Mut zum rechten mahnenden Wort in der Öffentlichkeit? Der Kirche stände es doch gut zu Gesicht, sich hier in Unabhängigkeit mahnend zu äußern – finde ich jedenfalls! Und eigentlich uns allen doch auch! (geschrieben am Abend des 6.11.2024)

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat i.R., Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, Opa, liest und schreibt gern.