Predigt über Jakobus 2,1-13
gehalten am Sonntag, den 22. Oktober 2000 (18.S.n.Tr.)
in der Ludwigskirche in Freiburg

22.10.2000

"Dominus Iesus" - und immer noch kein Ende, liebe Gemeinde! Da veröffentlicht die vatikanische Kongregation für Glaubensfragen eine Erklärung. Und sie erntet einen Sturm der Entrüstung. Provoziert heftige Erklärungen auch auf seiten der evangelischen Kirche bis in die höchsten Ebene. Bringt römisch-katholische Pfarrgemeinderäte und Pfarrer dazu, sich in zuvor nicht gekannter Weise öffentlich zu distanzieren. Legt heftige innerkatholische und innervatikanische Kontroversen offen. Kasper hier und Ratzinger da.

Der erste Zorn ist verraucht. Die Notwendigkeit zum offenen Gespräch, zur klärenden Auseinandersetzung, ja auch zum theologischen Streit ist geblieben. Zwischen der römisch-katholischen Kirche und den anderen, die nach ihrem eigenen Selbstverständnis auch Kirche Jesu Christi sind. Geblieben ist aber auch die Notwendigkeit für uns, neu darüber nachzudenkken, was denn Kirche eigentlich sei. Geblieben ist die berechtigte Erwartung, dass wir unsere eigene Position klären und in den Dialog zwischen den verschiedenen Konfessionen und Denominationen - oder sollte man besser sagen: Teilkirchen einbringen. Geblieben ist die Erkenntnis, dass es nicht ausreicht, den anderen ein energisches Nein! Zuzurufen. Wir müssen selber positiv aussagen können, warum und wie wir Kirche sind.

Der neugierige Blick in die Ur-Kunden unseres Kircheseins ist da sehr hilfreich. Unsere Bekenntnisse, ob altkirchlichen oder reformatorischen Ursprungs helfen hier weiter. Etwa der Blick in das Augsburger Bekenntnis. Oder in die Bekenntnisschriften der Reformationszeit. Notwendig ist auch die kritische Befragung der Briefliteratur des Neuen Testamentes. Nicht Einheitliches wird da zu Tage gefördert. Aber Grundlegendes. Und das nicht nur bei Paulus.

Der vorgeschlagene Predigttext für den heutigen Sonntag etwa führt uns noch einmal auf eine ganz andere Spur. Der Jakobusbrief ist kein Bestseller in der Reihe der Predigttexte. Auch nicht bei den Theologen. Eine stroherne Epistel hat Martin Luther ihn genannt. Und ihn in der Reihe der neutestamentlichen Schriften zusammen mit dem Judasbrief flugs ganz nach hinten verbannt. Direkt vor die ebenfalls sperrigen Kapitel der Offenbarung des Johannes. Die Johannes-Apokalypse hat ihre Neuentdeckung schon hinter sich. Ihre eindrückliche Bildersprache hat Konjunktur in der Zeit der Video-Clips. Meine Oberstufenschüler haben Gefallen gefunden an der Eindrücklichkeit der Visionen des Buches mit den sieben Siegeln.

Jakobus wartet immer noch auf seine Entdeckung. Vielleicht kann ich heute dazu beitragen, ihm etwas Gerechtigkeit widerfahren lassen. Denn er trägt durchaus Bemerkenswertes bei zu meiner eingangs gestellten Frage nach der Kirche. Und das in geradezu modern anmutenden Themenkreisen. Jakobus hat - in heutiger Sprache gesprochen - sozialethische Kompetenz. Gerade darin müsste er uns Evangelischen doch sympathisch sein.

Vom Unterschied zwischen Hören und Tun schreibt er in seinem theoligischen Traktat. Man könnte auch sagen zwischen bloßem Erkenntnisgewinn und dessen Umsetzung. Der zersetzenden Kraft menschlicher Rede widmet ein Abschnitt. Eine lesenswerte Botschaft für eine Welt wie die unsrige, die wie nie zuvor bestimmt von der Macht der Medien des Wortes und des Bildes. Worte, bewusst falsch gesetzt, können einen Menschen zerstören. Grund genug, die Ausführungen des Jakobus über die Wirkung der Zunge, wie er es umschreibt, zu beherzigen.

Mit seiner Behauptung, der Glaube ohne Werke sei tot, hat er es sich mit Martin Luther und den Reformatoren endgültig verscherzt. Hier trifft er den Nerv der reformatorischen Botschaft. Aber doch nur scheinbar. Wenn man den Jakobusbrief genauer liest, dann trifft er eine richtige Sache, aber in einer von Paulus unterschiedenen Terminologie. Theologische Richtigkeiten allein bringen uns dem Reich Gottes nicht näher. Gefordert ist die Existenz, die sich auf‚s Spiel setzt. Die das Leben wagt. Und nicht nur von Sicherheiten lebt. Die liebt. Und die nicht einfach nur recht haben will.

Übrig bleibt ein weiteres Thema, das ihm am Herzen liegt. Er verhandelt es unter der Frage nach dem Verhältnis von christlicher Gemeinde und Reichtum. Man könnte auch sagen, dem Verhältnis von gesellschaftlicher Rollenzuweisung und innergemeindlicher Position. Hören wir bei diesem Beispiel einmal genauer hin, welche Situation er gewissermaßen entwirft und zu welchen Konsequenzen für die Gemeinde seine Überlegungen führen:
    Text: Jakobus 2,1-13
Nein, nur einfach so der Phantasie entsprungen und konstruiert ist dieses Beispiel des Jakobus nicht. Der gemeindliche Normalfall wird es allerdings auch nicht gewesen sein. Sonst hätte er sich auf einen konkreten und seinen Leserinnen und Leser bekannten Vorfall bezogen. Zu viele Angehörige der oberen sozialen Schichten werden damals den christlichen Gemeinden ohnedies noch nicht angehört haben. Christsein war noch lange nicht ohne ernsthafte Alternative wie in späteren Jahrhunderten. Aber erste Tendenzen in der von ihm kritisierten Richtung scheinen sich bereits abgezeichnet zu haben.

Aus den Briefen des Paulus nach Korinth wissen wir, dass einzelne Vertreter der korinthischen Elite den Weg in die christliche Gemeinde gefunden haben. Wie etwa Erastus, der Stadtkämmerer. Und wir wissen auch, dass dies zu Problemen geführt hat, wenn die einen schon mit dem Essen fertig waren, ehe die anderen nach getaner Arbeit zur gemeinsamen Mahlfeier erschienen waren. Wenn sich die einen im Tempelrestaurant irgend eines antiken Kultes ihren alten Gewohnheiten entsprechend tafelten. Während sich die anderen Fleisch - und gar solches - nicht einmal leisten konnten.

Doch zurück zu Jakobus. Noch, so scheint es, wehrt er den Anfängen. Noch ist die Unerhörtheit, ja eigentlich die Unmöglichkeit der von ihm beschrieben Situation deutlich spürbar. Noch ist die Ausnahme, was später immer mehr die Regel wird. Noch ist die christliche Bewegung ein Alternativmodell zur gesellschaftlichen Realität.

Jakobus wäre erstaunt, erlebte er Kirche unter den Bedingungen des Jahres 2000. Mit einer über Jahrhunderte gewachsenen gesellschaftlichen Positionierung. Mit gesetzlich regelten Formen der Kooperation zwischen Staat und Kirche. Mit Konsultationen mit allen, die in dieser Gesellschaft Verantwortung tragen. Mit Verhandlungen mit den Regierenden über die Minimierung negativer Folgen der geplanten Steuerreform.

Er wäre irritiert, nähme er die erste Reihe großer kirchlicher Veranstaltungen und die Liste der Grußredner bei kirchlichen Empfängen näher in Augenschein. Könnte er feststellen, für wen die Plätze mit Reserviert-Schildchen freigehalten würden. Ja, er wäre entsetzt, welche Gruppen sich insbesondere angezogen fühlen von den Angeboten einer Kirche mit volkskirchlicher Ausrichtung.

Unsere Kirche, und die evanglische zumal, ist nicht zuletzt geprägt von der gesellschaftlichen Mittelschicht. Sie ist als Institution geprägt von Menschen, für die Bildung eine Rolle spielt. Und dies nicht einfach im Sinne einer Fehlentwicklung. Sondern in bewusster Konsequenz der reformatorischen Tradition.

Wie würden wir uns vor Jakobus rechtfertigen? Was würden wir ihm antworten, hielte er uns entgegen, was wir vorhin aus seinem Brief gehört haben. Wir sind keine Kirche ohne Ansehen der Person. Wir drucken die Namen unserer Predigerinnen und Prediger in der Zeitung aus. Und es tut uns gut zu wissen, dass es unter den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft und Kultur Menschen gibt, die sich der Kirche verbunden fühlen. Unsere Kirche kommt in der in Geltung stehenden Organisationsform ohne Lobbyisten ebensowenig aus wie andere gesellschaftliche Großorganisationen. Auch bei uns gibt es VIPs, gibt es Very Important Persons.

Und doch kann ich die möglichen Einwände des Jakobus nicht einfach übergehen. Seine Anfrage nicht einfach als erledigt ansehen. Jakobus schreibt unter den Bedingungen einer Gemeinde in den ersten Jahren des zweiten Jahrhunderts nach Christi Geburt. Aber seiner Abhandlung hat eine Botschaft über den Kreis seiner Zeitgenossen hinaus.

Jakobus spürt, dass es da noch eine Differenz geben muss zwischen den Strukturen der Welt und der Gemeinde. Der Gesellschaft und der Kirche. Der Schichtung nach den Kriterien der Soziologie und der nach den Vorgaben des Reiches Gottes. Er weist ein um das andere Mal darauf hin, dass es mit gesellschaftlicher Korrektheit allein nicht getan ist. Dass Christsein weit hinausgeht, hinausgehen muss über die Einhaltung des Kodex des Normalen.

Jakobus hält daran fest, dass in einer Welt, die gestaltet wird unter den Vorzeichen des Reiches Gottes, letzte zu ersten und erste zu letzten werden können. Ihm ist wichtig, dass Kirche mehr ist als eine Kopie der Vorfindlichkeit.

Für Jakobus reduziert sich diese Differenz aus unserer Sicht vielleicht allzu stark auf die Frage der Kluft zwischen arm und reich. Aber wer weiß - Jesus hätte er womöglich auf seiner Seite. Und manchen der Propheten wie etwa Amos ebenso wie die Armen Afrikas, Asiens und Südamerikas.

Kirche muss etwas Gegenläufiges in ihrer Grundstruktur haben. Kirche muss den Menschen in seiner ihm eigenen Würde in den Blick nehmen, noch ehe sie ihn zweckgebunden wahrnimmt: ob als Person, die die eigene Attraktivität steigert. Ob als Angehöriger einer bestimmten Zielgruppe missionarischen Wirkens. Oder womöglich einfach nur als Kirchensteuerzahler.

Und ich will Paulus dem Jakobus zu Hilfe eilen lassen, der die Alternative arm reich noch um anderes ergänzt, wenn er schreibt: "In Christus ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau." Und ergänzen könnte man: In Christus spielt weder die Hautfarbe eine Rolle noch das Alter. Weder die Summe des Gelingens in der eigenen Lebensgeschichte noch die Meinung der Gazetten.

Und was Paulus mit dichter theologischer Konzentration als Gerechtigkeit aus Glauben beschreibt, heißt bei Jakobus eben einfach: Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht. Nein, ein Sozialreformer ist Jakobus nicht, aber einer der spürt, dass die große Tat nicht abhängig ist von der Einschaltquote, die sie beschert.

Der Blick auf den Tag genau 60 Jahre zurück ist uns heute auferlegt. Der Blick auf den Tag der Deportation der badischen und pfälzischen Juden in das südfranzösische Gurs. Nur wenn wir die Unterscheidung von ersten und letzen ganz aufgeben, sind wir vor ihrer menschenverachtenden Pervertierung - und vor tagen wie dem vor 60 Jahren - wirklich gefeit. Darum heißt Kirchesein zutiefst Entgrenzen. Nach außen und nach innen. Sogar zwischen denen, von denen wir meinen, sie seinen drin. Und andere draußen.

Und hier liegt am Ende auch das tiefste Missverstänndis der Erklärung Dominus Iesus. Diese Erklärung grenzt ab: zuallererst von anderen Religionen. Von anderen Denkmodellen. Von anderen Arten des Kircheseins. Kirche unterliegt in dieser Erklärung Kriterien, die - vereinfacht gesagt - überprüfbar und abhakbar sind. Ob das die Apostolische Sukzession ist und das Geheimnis der Eucharistie wie in Dominus Iesus. Oder wie in anderen Spielarten der Abgrenzung eben auch die scheinbare Wahrheit meiner Position auf der einen und der Irrum der anderen auf der anderen Seite. Am Ende ist die Kluft zwischen protestantischer Überheblichkeit und dem Anspruch vatikanischer Unfehlbarkeit oft gar nicht so breit wie wir vermuten.

Kirche - so wie ich sie verstehe - lebt aus ihrem inneren Gravitationszentrum heraus. Lebt von dem, der sie bewegt. Sie lebt nicht von den Mauern, die sie vor anderen schützen. Ihr zentrales Merkmal ist - theologisch gesprochen - tatsächlich das Bekenntnis "Dominus Iesus". "Kyrios Jesous". "Jesus ist der Herr". Aber dann ohne über dieses Bekenntnis eigenmächtig verfügen zu wollen.

Platzanweisung ist uns nicht aufgetragen. Weder in der Kirche noch sonstwo. Diese Aufgabe können wir getrost Gott überlassen. Kirche ist als geglaubte immer schon, ohne dass wir sie machen oder ängstlich bewahren oder definieren müssten. Sie ist erlebbar und erfahrbar- in der Verbundenheit derer, die verlockt werden, alles noch einmal ganz anders zu sehen. Noch einmal von vorne anzufangen. Die keine Angst haben an den Rändern zu bleiben, weil sie dort dem Zentrum des Lebens oft näher sind.

Wo Gottes gute Lebensworte weitergesagt werden - wo wir G ottes Gegenwart gemeinsam feiern - da ist Kirche. In der ersten Reihe genauso wie in der letzten. Weil am Ende die Barmherzigkeit triumphiert. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.