Ansprache
in der Andacht zum Neujahrsempfang der Diakonie Freiburg
am 11. Januar 2000 in der Lutherkirche

11.01.2000


Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Diakonie!

Um das neue Jahr soll es eigentlich schon gehen in einem kleinen besinnlichen Innehaltenvor dem Neujahrsempfang. Nicht um die Bedeutung des neuen Jahrtausends. Davon war zuvieldie Rede in den letzten Monaten. Auch nicht um die Diakonie 2000+. An diesem Thema habeich mich ja schon im vergangenen Jahr versucht. Auch nicht einfach um konkrete Zahlenund um Entwicklungen aus den verschiedenen Geschäftsbereichen. Dazu wird Herr Arnoldnachher sicherlich etwas sagen.

Wie aber kann ich etwas sagen zum neuen Jahr, wenn alles scheinbar schon gesagt ist?Wenn man allzu leicht Gefahr läuft, den unablässig über uns herniedergehenden Wortschwallnoch zu verstärken.

Ich will mich einfach an die Jahreslosung für 2000 halten. Nicht deshalb, weil in einerKirche anderes nicht zulässig wäre. In Kirchen ist vieles möglich. Ich habe mich für dieJahreslosung entschieden, weil andere sich dafür entschieden haben. Schon bei der Auswahl der Jahreslosungen überhaupt. Und dann auch bei der Weihnachts- und Neujahrskarte der Diakonie Freiburg. Da stand sie nämlich auch zu lesen. Und irgend eine Erwartung muss schließlich auch damit verbunden gewesen sein.

Die Jahreslosung für 2000 entstammt einem Brief. Einem Brief - geschrieben in den 90erJahren des sechsten Jahrhunderts vor Christus. Die Oberschicht von Rest-Israel, demsogenannten Südreich, ist längst nach Babylon verschleppt. Jeremia - einer der von derersten Verschleppung noch verschont worden war - schreibt einen Brief an seine Landsleutein der Fremde. Wenige Jahres später wird dieses fremde Babylon auch für ihn zurZwangsheimat werden.

Die Jahreslosung ist nicht der bekannteste Satz dieses Briefes. Der lautet anders,nämlich: "Suchet der Stadt Bestes!" Dieser Satz ist unerhört. Keine Aufforderungzur Abgrenzung und zur Wahrung der eigenen Identität. Schon gar keine Aufforderung zumWiderstand. "Suchet der Stadt Bestes!" Das bedeutet: Lebt positiv unter den realexistierenden Bedingungen. Bringt euch ein. Schlagt Wurzeln, da wo ich seid. Wenn esder Stadt gut geht - und immerhin ist damit die Hauptstadt der siegreichen feindlichenMacht gemeint - wenn es der Stadt gut geht, dann geht es auch euch gut." IntelligenteFeindesliebe hat man das einmal genannt in den friedensbewegten siebziger und achtzigerJahren. Und - etwas politischer: Sicherheitspartnerschaft.

Aber das Konzept an sich ist viel älter. Wird hier schon propagiert gegen die Widerständederer, die in den Babyloniern nur Heiden sehen wollten. "Suchet der Stadt Bestes!" Alleinschon dieser Satz ergäbe ein sinnvolles Programm für das neue Jahr - und mit mehrpolitischem Sprengstoff als wir vielleicht vermuten.

Aber das Thema "Suchen" spielt im Brief des Jeremia noch ein zweites Mal eine Rolle.Und dieser zweite Weise, das Such-Thema zum Klingen zu bringen, das ist dann tatsächlichdie Jahreslosung:

"Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, will ich mich von euch finden lassen."

So findet sich dieser Satz auf der Karte der Diakonie. Auf vielen Postern. Und auch sonstvielfach unter kirchlichen Dächern. Wenn - dann! Dieses Schema kennen wir. Nur: dem Zitataus dem Brief des Jeremia tun wird damit Unrecht. Wahr wird es nur im Zusammenhang.Unmittelbar voraus geht die tatsächliche Botschaft. Die lautet: "Ihr werdet mich anrufen.Und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden." Ohne wenn und aber.Als Feststellung steht das da. Einfach so.

Und guten Gewissens darf ich darum die Jahreslosung an einem entscheidenden Wortverändern. Um sie so verständlich zu machen wie sie gemeint ist: "Weil ihr michvon ganzem Herzen suchen werden, will ich mich von euch finden lassen." Oder: "Ihr habtmich finden müssen, weil ihr mich sucht."

Der Wirklichkeit um einiges enteilt, könnte man durchaus einwenden. Die Gottesfrage istdoch wahrhaftig nicht das zentrale Thema unserer Tage. Das ist richtig. Und um derFreiheit des Respektes vor den Entscheidungen anderer willen, will ich auch gar nichtden Versuch machen, Menschen mit anderen Lebensentwürfen einfach zu vereinnahmen.

Mag die Gottesfrage also tatsächlich nicht das zentrale Thema unserer Tage sein - dasThema "Suchen" ist es allemal. Wir sind eine Welt voll von Suchenden. Man muss es garnicht so pessimistisch-poetisch ausdrücken wie das Lied "The Seeker" - der Sucher ausden 70er Jahren. Ich weiß nicht mehr ganz genau, wer es gesungen hat. Aber die deutscheÜbersetzung kenne ich noch:

"Ich schaute unter Stühle und Tische. Ich versuchte, den Schlüssel zu finden. Sienannten mich den Sucher. Ich habe unten und oben gesucht. Ich werde keinen Meisterfinden, bis zum Tag, an dem ich sterbe. Ich fragte Bob Dylan, ich fragte die Beatles,ich fragte Timothy Leary. Aber keiner konnte mir helfen. Sie nannten mich den Sucher.Leute begannen mich zu verachten, weil ich niemals lachte. Ich bin ein ganz verzweifelterMann."

Suchende sind wir allemal, wir Menschen der sogenannten Postmoderne. Ein Volk von Zappern,allabendlich vor dem Bildschirm. Im Briefkasten an der Haustür. In der mailbox. Auf demStellenmarkt von Anzeige zu Anzeige. In den Meldungen der Zeitungen und Magazine.Zwischen Kino und Konzertsaal. Von Angebot zu Angebot in den Hochglanzprospektender Reiseveranstalter. Ja selbst kirchlich sind wir am Zappen und Suchen. Die eigeneGemeinde ist fast nie gut genug.

Ein Volk von Suchenden, die nur schwer fündig werden. Ans Ziel kommen. Unruhig hangelnwir uns von der einen Hoffnung zu nächsten. Vom einen Kick zum anderen. Vom einen eventzum nächsten. Von hale bopp zur totalen Sonnenfinsternis und dann gleich weiter zumMilleniusmspektakel.

Egal welchen Anteil Massenmedien und Geschäftemacher daran haben. Ich will diesesSuchen nicht schlechtmachen. Und nicht kleinreden. Wer sucht, weiß, dass ihm undihr etwas fehlt. Wer sucht, empfindet die eigene Begrenztheit und die Größe derSehnsucht. Gar die nach dem Menschen, der mir hilft Mensch zu sein allein schondadurch, dass er da ist. Die Sehnsucht nach Liebe gleich welcher Spielart ist dabeiallemal die stärkste. Arm, wer hier nicht auf der Suche ist.

Es ist gut, dass wir Suchende sind. Und es hoffentlich noch lange bleiben. JedeSuche, wie vordergründig sie sich auch gebärden mag, ist eine Weise der Gottessuche.Gewagt mag der eine oder die andere das nennen. Aber richtig, meine ich! Nicht einmaldie reine Geldgier dient am Ende etwas anderem als dem Versuch, dem eigenen Mangelabzuhelfen. Dass wir suchen, ist überlebensnotwendig. Auch wenn wir nicht seltenauf der falschen Fährte sind.

Wer aber mag mit Sicherheit von sich behaupten, den rechten Weg gefunden zu haben.Es gibt ein scheinbar rein weltliches Suchen, das in seinem Kern von unglaublicherreligiöser Tiefe ist. Und es gibt vorgegaukelte fromme Antworten, die einem Gott wahrhaftig nicht näherbringen.

"Weil ihr mich von ganzem herzen sucht, lasse ich mich von euch finden." Vonganzem Herzen suchen ist noch einmal etwas anderes als unruhiges Hin- und Her-Zappen.Von ganzem Herzen suchen heißt, in der Wahlfreiheit das Gespür für das Wesentlichenicht verlieren.

Wesentlich ist das, was uns hilft, Mensch zu sein - oder Mensch zu werden. Wesentlichist, was uns und anderen unsere Würde zu wahren hilft. Wesentlich ist das, woran wirbeim Lebenszappen hängen bleiben, weil uns plötzlich eine Ahnung überfällt, dass auchwir noch einmal ganz anders leben könnten.

Wer in seiner Suche beim Menschen landet, hat Gott gefunden. So einfach ist das imGrunde. In der Schilderung der Weihnachtsereignisse ist das so. Aber nicht nur dort.Es reicht schon der Weg zu dem Menschen, der meine Lebensbahn kreuzt. Abseits vomMenschen ist Gott gar nicht zu finden. Will Gott auch nicht gefunden werden. Weilihr von ganzem Herzen auf der Suche seid nach denen, die mit euch Mensch sind undMensch sein wollen, sei ihr ganz nah bei mir - das ist die göttliche Botschaft derJahreslosung. Übrigens auch schon die des ersten Such-Befehls im Brief des Jeremia.Wer der Stadt Bestes sucht, tut auch nichts anderes. Wer der Stadt Bestes sucht, bautmit an Gottes neuer Welt mitten in unserer alten. Auch wer der Stadt Bestes sucht,unterscheidet das Wesentliche vom Unwesentlichen.

Der bunte Strauß des weitgefächerten Einsatzes der Diakonie lässt sich im übrigenspannungsfrei einbinden in das Suchprogramm des Jeremia. Diakonie ist allemal aufder Suche nach Möglichkeiten des Menschseins. Bei denen, die im Sinne der Diakoniehandeln, ebenso wie bei diejenigen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Und nichtselten gehören wir der einen wie der anderen Seite an.

Diakonischer Einsatz - ob im Pflegedienst, in der Beratung, in Hilfe bei der Erziehung,dem betreuten Wohnen oder bei der Suche nach Arbeit - ja selbst in den Verwaltungsaufgaben -solcher Einsatz will Menschsein ermöglichen und das Wesentliche in den Blick rücken.Keine Statistik vermag wirklich festzuhalten, wie befreiend die Erfahrung sein kann,wenn man beim suchenden Zappen mitten im Leben auf die Diakonie gestoßen ist. Sprechensie sich selber zu - oder lassen sie sich‚s immer wieder sagen - ,dass sie Wesentlichestun. Denekn sie daran, wenn sie das nächste Mal die Lust an der Arbeit verlässt - oderwenn sie auch ihnen einfach mal wieder über den Kopf wächst.

Denken sie auch daran, dass es allemal besser ist, zeitlebens von Herzen auf der Suchezu bleiben, als falschen Antworten zu erliegen und auf den Leim zu gehen. Weil wir vonganzem Herzen suchen, haben wir gefunden. Lässt auch Gott sich finden. Das Paradies istnicht nur der Traum vom heilen Anfang, sondern zugleich auch die beglückende Botschaftvom guten Ende.

Und manchmal liegt das Paradies noch viel näher als wir glauben. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.