Predigt über Matthäus 27,1-30
Gehalten in der Friedenskirche in Freiburg
am Sonntag, den 15. April 2000 (Palmsonntag)

16.04.2000
EG 13,2 Hosianna, Davids Sohn

Ein Lied aus einer fernen adventlichen Tagen - mitten in der Passionszeit. Vier Monate, seit wir es zum letzten Mal gesungen haben. Doch welche Welten liegen zwischen Advent und der beginnenden Karwoche. Zwischen damals und heute.

Kein Tag vergeht ohne neue Schlagzeilen. Meldungen über Hochwasser im südlichen Afrika haben uns in Atem gehalten. Nachrichten über Hunger im nördlichen Afrika haben die ersten Schreckensnachrichten inzwischen abgelöst. Das menschliche Erbgut ist entschlüsselt, lesen wir in der Zeitung. Zumindest die Verlängerung des Lebens liege bald in unserer Hand. Erneut halten sich Menschen in der Raumstation Mir auf. Mir heißt Frieden. Und dafür, der Krieg in ihrem Land- oder in ihrer Familie - endlich aufhört, dass es wirklich Frieden wird auf dieser Erde, dafür kämpfen andere jeden Tag auf‚s neue.

Noch können wir nicht wissen, in welche Richtung sich die Dinge weiter entwickeln, die hinter uns uns liegen. Zu welchem Ende die angefangenen Entwicklungen führen werden. Und ob es überhaupt ein gutes Ende sein wird.

Ereignisreiche Tage mit offenem Ausgang liegen auch vor den Menschen in Jerusalem, damals, kurz vor Beginn des Passahfestes. Hören wir, wie der Evangelist Matthäus von diesen dramatischen Entwicklungen damals in Jerusalem berichtet:

Predigttext
EG 98,1 Korn, das in die Erde

Seit Stunden sitzen die Machthaber zur Beratung zusammen. Hohepriester und Älteste. Pilatus und die entscheidenden Verantwortlichen der römischen Besatzungsmacht. Eine Sitzung folgt der anderen. Keiner, den nicht eine große Unruhe ergriffen hätte. Der gespürt hätte, das liegt etwas in der Luft. Jerusalem ist überfüllt mit Pilgern. Schließlich ist Passah ein Höhepunkt in den religiösen Feierlichkeiten eines Jahres. Die Erinnerung an die Befreiung aus der Sklaverei setzt in jedem Jahr auf‚s neue Hoffnungen und Kräfte frei, die das Leben in einem besetzten Land wieder etwas erträglicher machen und die einen Silberstreif der Hoffnung auf Freiheit am Horizont aufleuchten lassen.

Eine mit Menschen bis an den Rand ihres Fassungsvermögens gefüllte Stadt. Da ist auch bei den Römern höchste Alarmbereitschaft geboten. Ein Funke kann diese hochaufgeladene Menschenmischung zur Explosion bringen. Nicht ohne Grund gibt man jedes Jahr einen prominenten Gefangenen frei. Das wirkt wie ein Ventil. Der Druck läßt nach. Pilatus hat auch schon einen im Blick:

Pilatus
Jesus Barabbas. Ein hoher Einsatz wäre das, aber ein Aufstand der Massen würde uns Römer am Ende womöglich noch teurer zu stehen kommen.

Wenn da nicht nur noch der andere wäre:

Pilatus
Jesus, der Christus! Glühende Anhänger hat er im Volk. Und erbitterte Gegner im jüdischen Hohen Rat. Politisch wird er mir kaum gefährlich werden, da kann ich mir sicher sein. Dass er zur Steuerverweigerung aufgerufen habe, ist dich nur ein Vorwand. Natürlich ist der Streit um diesen Jesus viel eher religiöser Natur. Er respektiere den Tempel nicht, heißt es. Und: Er habe göttliche Autorität für sich in Anspruch genommen. Er kommt mir jetzt eigentlich nur in die Quere kommen. Mehr Unruhe kann ich jetzt nicht verkraften.

Doch da überstürzen sich die Ereignisse. Boten bringen Neuigkeiten in die Büros der Besatzungsmacht. Der Hohe Rat hat tatsächlich ein Todesurteil ausgesprochen.

Pilatus
Und ich, der Statthalter der Römer, soll es nun wieder einmal bestätigen. Sicherlich wird man wird schon bald mit dem Verurteilten bei mir eintreffen und meinen Terminplan wieder ordentlich durcheinanderbringen.

Und zur einen Nachricht kommt dann schon gleich die andere. Judas, der Informant - der, dem die Hohenpriester die Festnahme zu verdanken haben - soll sich erhängt haben.

Pilatus
Nein, ich bin nicht bereit, auch das noch zu meinem Problem zu machen. Rückgängig zu machen ist da ohnedies nichts mehr. Das mit dem Judas ist eine innerjüdische Angelegenheit. Da will ich mich heraushalten.

Aber dieser andere Jesus - Jesus, der Messias - der stellt schon vor ein weitaus größeres Problem dar. Das Todesurteil über ihn wird unabsehbare Folgen haben. Doch warum soll ich mir für andere die Finger schmutzig machen? Warum soll ich - der römische Statthalter - mir noch mehr Probleme auf den Hals laden. Alles werde ich daran setzen, ihn freizubekommen. Ja, ich könnte dem Volk statt des einen Jesus den anderen, statt des Barrabas den Christus anbieten.


Zu spät, um weiter darüber nachzudenken.

Pilatus (mit gedämpftem Ton mit sich selber sprechend; nachdenklich)
Sie sind schon da. Irgendwie zieht er mich in seinen Bann, dieser Jesus. Äußerlich gezeichnet von den Folgen seiner Verhaftung. Doch dieser offene Blick. Diese Ausstrahlung. Ja, diese Macht, die von ihm ausgeht. Wirklich, wie ein König.


Pilatus (wieder laut)
Bist du denn ein König?


Wie von selbst kommt Pilatus diese Frage über die Lippen. Und wie selbstverständlich die Antwort von Jesus: "Du sagst es!" Beinahe gebietend, wie er antwortet. Fast flehentlich spricht Pilatus weiter:

Pilatus
Hörst du denn nicht, was sie alle gegen dich vorbringen? Nutze doch deine Chance! Arbeite mit mir zusammen und du wirst frei sein.

Jetzt aber nur noch: Schweigen. Das Volk wartet gespannt.

Pilatus
Einen gebe ich euch doch immer frei. Dieses Mal gebe ich euch Jesus. Ihr müßt euch nur entscheiden, welchen ihr wollt. Jesus, den Barabas - den, den ihr alle kennt, den Unruhestifter. Oder doch lieber Jesus, den Christus? Der, der doch einer von euch ist.

Die Antwort des Volkes aus Bachs Matthäus-Passion müßte ihm in seinen Ohren klingen: - eventuell eingespielen - "Barrabam! Barrabam!" Ja, gib uns lieber den Barrabas. Nicht den anderen. Den laß kreuzigen!"

Die Macht des Pilatus versagt.

Pilatus
Den, der von Bosheit nichts weiß, den wollt ihr nicht haben?!

"Nein", lassen die Mächtigen die Menge toben. "Den laß kreuzigen!"

- Event. einspielen. "Lass ihn kreuzigen!" -
Damit will Pilatus nichts zu tun haben. Und er wagt eine Geste die Bestand hat bis heute. Öffentlich wäscht er sich seine Hände.

Pilatus (sich in einer Schüssel die Hände waschend)
Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen! Ich wasche meine Hände in Unschuld!


Das sagt der, von dem wir wissen, dass er das eine um das andere Mal nicht davor zurückgeschreckt ist, unschuldiges Blut zu vergießen.

Seine Hände in Unschuld zu waschen, das haben wir von Pilatus gelernt. Kein Mut ist da, zu dem zu stehen, was recht ist. Kein Mut, dem Rad in die Speichen zu greifen. Kein Mut, der Menge gegenüber nicht einfach willfährig zu sein. Kein Mut, auf die zu hören, die Gott schickt, um der Wahrheit trotzdem noch zum Durchbruch zu verhelfen. "Ich wasche meine Hände in Unschuld." - Das scheint der einfachere Weg zu sein.
EG 98,2 Über Gottes Liebe

In einem Roman wird erzählt, was die Frau des Pilatus geträumt hat. In aller Unbarmherzigkeit hat sie gehört, was Menschen durch die Geschichte der Kirche hindurch abermillionenfach bekannt haben: "...gelitten unter Pontius Pilatus..."

Das ist es, was von ihm geblieben ist. Keine Wohltaten. Keine alljährlichen Gnaden-Erweise gegen das Volk, indem er prominente Gefangene freigibt. "Gelitten unter Pontius Pilatus." Kein Verständnis für den taktierenden Römer, der sich schließlich auch durchlavieren mußte zwischen den Pflichten seines Amtes und den Erwartungen des Hohen Rates. Und an Ruhe mußte ihm, dem römischen Statthalter von Kaisers Gnaden doh vor allem gelegen sein. Kein Lob seiner Einsicht in die Unschuld von Jesus; keine Anerkennung seiner politischen Klugkeit. Stattdessen: "Gelitten unter Pontius Pilatus".

Im Glaubensbekenntnis dann fortgesetzt mit der lapidaren Schilderung, wie es weiterging: "Gekreuzigt, gestorben und begraben." Hier werden die Wurzeln gelegt. Der, von dem wir glauben und bekennen, er sei der König der Welt - er wird zum Gespött: ein Rohr in der Hand. Ein purpurner Umhang. Eine Krone aus Dornen.

Der - so scheint es - ist ans Ende gekommen, dem die Massen doch kurz zuvor noch zugejubelt haben. So kurz kann er sein, der Weg vom "Hosianna" zum "Kreuziget ihn". Nur wenige Tage sind es doch, die zwischen dem Palmsonntag und dem Karfreitag liegen.

Pilatus - er hätte es in der Hand gehabt! Wie hätte sich alles anders entwickeln können, wenn Pilatus auf den Menschen gehört hätte, der ihm doch wohl am nächsten stand! Welchen Verlauf hätten die Tage darauf dann genommen? Ständen wir heute am Anfang der Karwoche, wenn Pilatus auf seine Frau gehört hätte? Ihr Traum hätte doch die Wende bedeutet!

Unnötig, liebe Gemeinde, sich diese Gedanken zu machen. Wie immer Pilatus sich entschieden hätte - Gottes Einsatz zu unseren Gunsten wäre nicht auf dem Spiel gestanden. Gott hätte seine Geschichte mit Jesus auch noch auf ganz anderen Linien weiterschreiben können. Und es wären eben andere gewesen, die ein Beispiel schuldhafter Verstrickung gegeben - die ihre Hände in Unschuld gewaschen hätten.

Pilatus - so wie wir ihn den Passionsgeschichten der Evangelien beschrieben finden - darf in der Passionsgeschichte nicht fehlen. Er ist der Vertreter der weltlichen Macht. Er ist der, der sich der Wahrheit bewusst ist - und der ihr dennoch aus dem Weg geht. Er ist der, der sich nicht scheut vor öffentlichen Zeichen - und dabei doch nur sein Unvermögen, ja seine Schuld zelebriert.

Er ist der, der es in der Hand hat. Und der nicht daran denkt, seine Möglichkeiten für eine bessere, eine gerechtere Welt, in die Waagschale des Lebens zu werfen. Pilatus: Viel zu oft ist er auch unserer Platzhalter in den Berichten von Jesu Weg in den Tod. "Gelitten unter Pontius Pilatus" - das ist noch lange kein Grund, auf ihn zu zeigen, um uns selber zu entlasten.

Hätten wir uns auf Pilatus verlassen müssen, wären wir verraten und verkauft. Sein Reich und unsere Reiche - sie sind nicht die Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. "Mein Reich ist nicht von dieser Welt!" - das hat Jesus nach dem Bericht des Johannes-Evangeliums dem Pilatus darum auch geantwortet. Und die, die ihm Purpurmantel, Stab und Dornenkrone angezogen haben, werden es womöglich gespürt haben.

Der Weg Jesu war nicht der Weg der Macht. Aber er lehrte die Mächtigen das Fürchten. Am Ende des Weges Jesu durch die Karwoche hindurch stand sein Tod. Und er war zugleich der Anfang eines nicht mehr aufzuhaltenden Siegeszuges des Lebens - mitten durch alle Zeichen des Todes in dieser Welt hindurch. Die Mächte der vergehenden Welt sind noch lange nicht außer Kraft. Aber sie sind nicht mehr das letzte.

Pilatus hat viele Nachfolger gefunden bis in unsere Tage. Aber ihre Macht ist nicht mehr von Dauer. Im Angesicht dessen was kommt, ist das, was ist, in ein anderes Licht getaucht. Im Angesicht des kommenden Ostersonntages ist können wir getröstet durch die kommenden Karwoche gehen.

Schon längst hat Gott seine Hütten bei uns Menschen errichtet. Und er wird abwischen alle Tränen von unseren Augen. Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Denn das erste ist vergangen.

Darum laßt uns schon heute feiern, was uns durchträgt durch diese Woche und alle Tage, die uns noch geschenkt sind. Die Uhr des Pilatus und seiner Helfershelfer ist abgelaufen. Auch Barrabas hat keine Zukunft mehr. Und von Judas bleibt nur ein Acker.

Der, der dem Alten im Weg war, hat unsere Zukunft gesichert. Weit über alle unserer Tage hinaus. Seine Worte lassen uns leben, denn er lässt uns wissen: "Siehe, ich mache alles neu!" Amen.EG 98,3 Im Gestein verloren
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.