Predigt über Jesaja 55,6-11
Gehalten am 18. Februar 2001 (Sexagesimae)
in der Ludwigskirche in Freiburg

18.02.2001

Wir leben gut vor den Toren des Paradieses, liebe Gemeinde. Die unwirtliche Ort jenseits des Gartens Eden ist uns wahrhaftig nicht schlecht bekommen. Wir haben uns eingerichtet. Unsere Mühe und Arbeit im Schweiße unseres Angesichtes hat vielfältig Frucht getragen.

Das was wir mit dem Begriff Kultur zu beschreiben suchen, ist eine dieser Früchte. Sprache und Musik, Architektur und Bildende Kunst, Literatur und Religion, Feier und Spiel - damit sind die Felder angedeutet, auf denen es eine beachtliche, ja unglaubliche Geschichte erfolgreicher Weltgestaltung wahrzunehmen gibt.

Die andere, womöglich viel gefährlichere Frucht, ist die der Wissenschaft in all ihren Schattierungen. Der Drang, zu erkennen, "was die Welt im Innersten zusammenhält". Hier sind wir noch lange nicht am Ende unserer Möglichkeiten angelangt. Ja, manchmal habe ich den Eindruck, wir fangen gerade erst an zu verstehen, wie unglaublich schön und zugleich komplex dieses wunderbare System Leben ist, dem wir alle angehören.

Gerade die zurückliegende Woche hat im Bereich der Naturwissenschaft einen neuen Höhepunkt dieser Entwicklung öffentlich gemacht. Zeitgleich haben zwei Institutionen aus dem Bereich der Gen-Forschung die Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes in wesentlichen Teilen bekanntgegeben. Ein Erfolg menschlichen Strebens nach Erkenntnisgewinn - zweifellos. Doch nirgendwo könnte man besser die Ambivalenz derartigen Fortschritts erkennen als gerade hier.

Was wissen wir über den Menschen, wenn wir die ungefähre Zahl seiner Gene kennen? Welche Konsequenzen zieht es nach sich, wenn wir anfällige von weniger anfälligen Chromosomensätzen zu unterscheiden beginnen? Feiert am Ende womöglich nur der Darwinismus in neuer Form fröhliche Urständ?

Wieviel Sinn-Zuwachs ziehen wir aus der Entschlüsselung unseres Erbgutes? Können wir glücklicher Leben, wenn wir wissen, wie groß auf den jeweiligen Lebensabschnitt bezogen die Wahrscheinlichkeit, an der Folge eines Gen-Defektes zu erkranken?. Noch schärfer gefragt: Wieviel Bescheidenheit bleibt übrig, wenn wir den Versuch wagen, die Schöpfung aus der Perspektive des lieben Gottes zu sehen? Die Perspektive der Heilung von Krankheiten und die Sehnsucht nach Heil, nach dem, was in der Sprache der hebräischen Bibel Schalom heißt, sie müssen in eine plausible Beziehung miteinander gesetzt werden. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen.

Dennoch: In vielerlei Hinsicht haben wir die Folgen der Vertreibung aus dem Paradies kompensiert und aufgehoben. Das verlorene Paradies durch ein - ob virtuell und real geschaffenes - ersetzt. Nicht nur unser Erbgut, sondern auch das Paradies geklont. Nicht mehr allein die Arbeit, auch die Freizeit entscheidet darüber, welche Qualität unserem Leben zukommt. Es sind nicht mehr die Grenzen, die unser Leben bestimmen, sondern die Lust an deren erfolgreicher Überschreitung. Die Schlüsselbegriffe unserer neuen Sehnsüchte heißen Wohlbefinden und Erlebnis; besser noch wellness und event.

Neue Technologien ermöglichen Formen von Gleichzeitigkeit und Allgegenwart. Die Lebenserwartung hat sich gegenüber früheren Jahrhunderten teilweise mehr als verdoppelt. Vieles, was für immer der Welt Gottes zugehörig schien, ist menschenmöglich gewordenDie Botschaft der Schlange: "Ihr werdet sein wie Gott!" - das wird immer weniger die Ansage einer fernen Zukunft. Nein, es beschreibt zunehmend auch den Anspruch, den Fortschritt der Welt längst selber in die Hand genommen zu haben. Die Anerkenntnis der eigenen Geschöpflichkeit und das Selbstbewusstsein des Menschen, der tiefer in seine Ursprünge und Abgründe blicken kann als je zuvor - sie sind nicht einfach nur konkurrierde Erklärungsmodelle im Streit um Sympathisanten dea je eigenen Weges der Sinnfindung. Sie beschreiben zunächst einmal unterschiedliche Blickwinkel auf dieselben Lebenszusammenhänge. Und es lebt sich vor den Pforten des Paradieses nicht von vornherein schlechter.

Was können wir dann einem Text abgewinnen, in dessen Mittelpunkt die bleibende Unterscheidung göttlicher und menschlicher Möglichkeiten steht? Einem Text zugleich, der im letzten auf nichts anderes abzielt als darauf, uns die Quellen in der Tiefe unseres Lebens offenzulegen. Hört aus Jesaja 55 die Verse 6 bis 11:

Suchet den HERRN, solange er zu finden ist; rufet ihn an, solange er nahe ist. 7 Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum HERRN, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung. 8 Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, 9 sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. 10 Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und läßt wachsen, daß sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen, 11 so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.

Niedergeschrieben wurden jene Verse an einem Wendepunkt der Geschichte Israels. Mit dem 55. Kapitel erhebt ein neuer Prophet seine Stimme. Die Deportation der judäischen Oberschicht im sechsten Jahrhundert vor Christus liegt schon ein Menschenleben zurück. Man hat sich eingerichtet in der neuen fremden Heimat. Die Katastrophe der Zwangsumsiedlung ist reflektierter Teil der persönlichen und der gemeinschaftlichen Biographien geworden. An den Flüssen Babylons pflegt und zelebriert man die Erinnerung. Aber die Menschen beweinen die Heimat nicht mehr. Die Sehnsucht ist zum idenditätsstiftenden Ritual geronnen.

Und wie bei uns vor zwölf Jahren - als wir mitten in den ritualisierten Bekenntnissen zur Einheit Deutschlands überrascht und überrollt wurden von der Dynamik der politischen Realitäten durch unverhofft fallende Mauern- so werden die Exilanten Judas und Jerusalems mit einem Mal herausgerissen aus der neuen Behaglichkeit. Aus dem Mythos der Rückkehr wird die politische Option. Die Betäubung des Lebens irgendwo zwischen den Zeiten kommt an ihr Ende.

Wie ein Marktschreier reißt der Prophet die Menschen aus ihrer Lethargie. Wie ein Lebensmittelhändler, der frische Waren anbietet, wo man sich längst an synthetische Kost gewöhnt hat. Eine kleine Kostprobe aus dem Anfang von Jesaja 55:

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und eßt! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! 2 Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. 3 Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben!

Mit derselben aufreizenden und herausreißenden Ungestümheit sind die Verse des Predigttextes zu lesen. "Sucht das Leben. Aber nicht nur in der Zufriedenheit über das selbst Erreichte. Kostet die Fülle. Aber nicht nur in der Beschränkung auf die Früchte des eigenen Tuns. Stillt euren Lebenshunger. Aber gebt euch nicht mit Abgestandenem zufrieden."

All unsere Versuche, das Paradies vor seinen Toren auf‚s neue selber zu errichten - jenseits ihrer glänzenden Schauseite bleibt ein Rest unerfüllter Sehnsucht. Das Überangebot an Lebensmöglichkeiten macht die Auswahl unerträglich. Leben in selbst erzeugter Überfülle - es wird zur tagtäglichen Überforderung. Die Gleichzeitigkeit der Möglichkeiten - sie hat bereits eine Gesellschaft der Patchwork-Identitäten hervorgebracht. Und sie ist auf dem besten Weg, unsere Zapper-Mentalitäten weiter bestens zu bedienen.

Nein - einem Kulturpessismus will ich nicht das Wort reden. Sondern einen Ausweg aus der Spirale der Einebnung des Himmels zu weisen versuchen. "Soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken höher als eure Gedanken." In der Wiedergabe durch den unbekannten dritten Propheten des Jesjabuches wird dies nicht als leerer, unbegründeter Anspruch formuliert. Das Beispiel des Regens und des Schnees - das Beispiel des Wassers, das die Erde tränkt und ihr die Möglichkeit gibt, Frucht zu bringen, soll die produktive, lebenschaffende Wirkungsweise Gottes - soll das Gottesprogramm - veranschaulichen.

Das Medium, dessen Gott sich bedient, um schöpferisch tätig zu sein, ist jedoch nicht die Natur. Sie ist nur Bild der ganz anderen Weise Gottes, Leben zu ermöglichen. Gott wirkt durch das Wort, das aus seinem Munde geht. Es gab Zeiten, da war die Rede vom Wort Gottes fast inflationär.

Doch auch in dieser Formulierung sind wir nicht wirklich frei von bildhafter Rede. Dass Gott wirkt durch sein Wort ist der Versuch, die Unbegrenztheit Gottes unter den Bedingungen der Begrenztheit menschlicher Rede zum Ausdruck zu bringen. Das, was angedeutet wird mit der Rede vom Wort aus Gottes Mund ist nicht identisch mit der Wirkkraft unserer Worte. Aber es gibt kein anderes Medium, um Gottes Wort in der Welt mit unseren Mitteln zur Sprache zu bringen als das gesprochene, das zugesprochene und das ermahnende und erinnernde Wort.

Keine andere Tätigkeit eignet sich besser, um Gottes Wirken ins Bild zu setzen als eben die des im Sprechakt selber schöpferisch wirkenden Wortes. "Und Gott sprach.." - so beginnt die hebräische Bibel die Werke der einzelnen Schöpfungstage. Und es wird jeweils ins Werk gesetzt, was Gott den Tagen der Schöpfung als ihre je eigene Aufgabe zuweist. Keine Theologie der Wort-Magie wird hier inszeniert. Vielmehr eine Theologie der Reduktion auf das Elementare. Auf das Wort Gottes als eigentliches Lebensmittel.

Und plötzlich sind wir mitten drin im ureigensten Thema des Protestantismus. Gerechtigkeit, die nicht verdient, sondern zugesprochen wird. Leben - nicht der Natur und dunklen Mächten abgerungen. Sondern Leben als Frucht der Wortes, das in Gott seinen Ursprung nimmt. Es ist gut, an diese Möglichkeit zu erinnern. An Lebensprogrammen haben wir weniger Mangel als je in der Geschichte der Menschheit. Sie sind in ihrer Fülle zugleich Beleg der großen Sehnsucht nach dem lösenden, nach dem alles verwandelnden Wort.

Als Kirche stehen wir in der Tradition derer, die in Jesus von Nazareth das Modell gelingenden Lebens sehen. Er ist - so haben unsere Mütter und Väter im Glauben 1934 in der Barmer Theologischen Erklärung bekannt - "das eine Wort Gottes, das wir zu hören und dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen haben". Die Wort-Gottes-Theologie hat im Protestantismus das 20 Jahrhundert weitgehend dominiert. Auf‚s ganze gesehen war dies eine fruchtbare Konzentration auf den, der gelingendes Leben ermöglicht hat jenseits der Kategorien der Macht und ihres Erhaltes.

Doch diese Konzentration, diese Zuspitzung des Wortes Gottes auf den, in dem wir dieses Wort Fleisch und Blut annehmen sehen, ist unsere christliche Option. Unser Versuch, diesem Wort aus Gottes Mund einen Namen zu geben. Wir können für diese Option werben, weil sie für uns und aus unserer Perspektive Sinn macht. Aus der Sicht des Dritten Jesaja muss dieser Weg ein offener bleiben. Die Verdichtung der Wirkweise Gottes auf den schöpferischen Sprechakt in der Tradition seines Glaubens hat uns aber den Weg gebahnt. Dafür sind wir ihm unseren Dank schuldig.

Es könnte ein Zeichen dieses Dankes sein, den Autor des Predigttextes und die Tradition der hebräischen Bibel in der Konzentration auf das Wort Gottes ernst zu nehmen. Nicht der rechte Kult macht uns vor Gott recht. Nicht die korrekte Formulierung. Und auch nicht unsere religiöse Ästhetik.

Nicht wir machen Gottes Wort schön. Es gewinnt seine Schönheit in dem, was es bewirkt. In der Gerechtigkeit von Gott und der Gerechtigkeit miteinander. Im Frieden, den wir für uns finden und in dem wir einander als Mitmenschen und als Angehöriger unterschiedlicher Völker und Lebenszusammenhänge leben lassen. Und im sorgsamen Umgang mit unserer Lebenswelt. Zur Ehre dessen, der ihr durch sein Wort Raum und Gestalt gab. Und als Voraussetzung dafür, dass auch denen, die nach uns sind, der Boden noch Ertrag und Lebensmöglichkeiten gibt.

Es ist die Zusage, dass Gottes Wort nicht leer zurückkommt - dass ihm gelingt, wozu es gesprochen wird - es ist diese Zusage, die uns leben lässt. Und hoffen. Und lieben.

Und der Friede Gottes, dessen Worte und Gedanken unsere Möglichkeiten übersteigen - und uns gerade darin leben lassen, sei mit uns allen. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.