Predigt über Johannes 9,1-9
gehalten am Sonntag, den 5. August 2001 (8.S.n.Tr.)
in Wolfenweiler

05.08.2001
Liebe Gemeinde!

In keiner Nachrichtensendung fehlt mehr der Blick auf die Aktienkurse. Man hört vom Auf und Ab der Bewertungen, von den Gewinnern und Verlierern des Tages. Vom alten und vom neuen Markt. Und was immer dazugehört, das ist die Ursachenforschung für die oft überraschenden Kurschwankungen.

Analysten nennt man diese besondere Gruppen von Experten, die für alles immer eine Erklärung parat haben. Die alle Einflüsse auf die Kurse analysieren. Sie hören die Flöhe husten, lesen im Kaffeesatz der Anleger und geben vor, heute schon zu wissen, wie weit sich morgen alles noch weiter in die Höhe schraubt. Dies geht so lange gut, bis sich wie ein Unwetter irgendwo in Asien ein Börsenkrach ereignet. Und mit ihm fallen alle günstigen Prognosen und Gewinnhoffnungen in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Im Predigttext für diesen heutigen 8. Sonntag nach dem Trinitatisfest erleben wir die Jünger Jesu als Analysten. Hören wir zunächst den ersten Teil des heutigen Predigttextes. Aus Johannes 9 die Verse 1-3:

Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.

Für die Jünger ist das Ergebnis ihrer Analyse eindeutig. Wenn einer blind ist seit Geburt, dann ist das kein Zufall. Der tiefe Sturz seiner Seh-Aktien kann nur eine Ursache haben. Der betroffene selber oder seine Eltern haben sich etwas zuschulden kommen lassen. Wobei die erste Möglichkeit gleich wieder ausscheidet. Wer blind ist seit Geburt, kann selber kaum die Ursache seiner Blindheit sein. Dann also die Eltern oder die Großeltern oder wer auch immer. Wer ist schuld? Wen können wir haftbar machen? Wo sitzt der Sündenbock? Das sind die ewig gleichen Fragen der Menschen damals und heute, wenn alles ganz anders kommt als wir es uns vorgestellt haben.

Schnell, allzu schnell legen die Menschen die Ergebnisse ihrer Überlegungen vor. Und es sind fast immer die anderen, die wir haftbar machen: die Wirtschaftsbosse, die Unternehmer, die Konjunktur, die Konsumenten, die Regierung. Die Nachbarn, die Eltern oder wer auch immer.

Das gleiche Spiel funktioniert aber auch im ganz persönlichen: Selber schuld, heißt es dann gern. "Hätte er doch" oder "hätte er nur nicht" oder "das geschieht ihm recht". "Wie kann man nur" usw. usw.

Allzu einfach sind diese Antworten oft. Kein Mensch weiß, warum es dem einen gut geht und dem anderen schlecht. Warum die einen von einem Unglück ins Nächste taumeln und die anderen scheinbar ungeschoren durchs Leben kommen. Warum den einen die schwere Krankheit trifft und der andere sich seines Lebens unbeschwert freuen kann. Und es hilft selten weiter, jemandem die Botschaft "selber schuld" um die Ohren zu schlagen. Vieles bleibt rätselhaft im Leben. Und gerade diese bleibende Rätselhaftigkeit des Lebens. Die Fülle des nicht Erklärbaren, des nicht Entschlüsselbaren, des nicht wirklich Machbaren und Steuerbaren ist die Geburtsstunde der Religion. Der Frage nach der Existenz Gottes.

Die Frage danach, ob unser Schicksal gerecht ist. Die Frage nach einer letzten Gerechtigkeit - diese Frage ist in ihrer Tiefe immer auch die Frage nach Gott Es ist Gott, den wir zuletzt haftbar machen, wenn es nicht so läuft, wie wir es unserer Meinung nach laufen soll. "Meister, wer hat gesündigt, dass Gott ihn mit Blindheit geschlagen hat? Oder mit Krankheit? Oder mit dem Verlust des Arbeitsplatzes? Oder ganz allgemein eben mit dem Einbruch der persönlichen Lebensaktien?"

Die Antwort, die Jesus seinen Jüngern, seinen Meisteranalysten, gibt, ist ebenso einfach wie entlastend: "Keiner ist schuld. Der Blinde nicht. Und andere sicher auch nicht. Vielmehr sollen die Werke Gottes an ihm offenbar werden." Was heißt nun das schon wieder? Unser Versagen und unser Missgeschick sind Werke Gottes? Nein! - So ist das nicht gemeint. Die Werke Gottes bestehen in etwas ganz anderem. Sie bestehen darin, dass wir das, was uns zeichnet und hindert, das was und einengt und ängstet, dass wir dies alles zuallererst als das erkennen, was es nicht ist. Nämlich ein Urteil Gottes über unser Leben. Nicht an unserem Misslingen, sondern an unserem Gelingen ist Gott gelegen. Daran, unserem Leben Zukunft und eine Perspektive zu geben - und sei‚s mitten in der Aussichtslosigkeit.

Und als wäre er sicher, dass seine Jünger ihn nicht verstanden haben, fügt er seiner Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes eine Beispielhandlung hinzu. Davon hören wir in den Versen 6 bis 9 unseres Predigttextes:

Und Jesus spuckte auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah - das heißt übersetzt: gesandt - und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder. Die Nachbarn nun und die, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sprachen: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte? Einige sprachen: Er ist‚s; andere: Nein, aber er ist ihm ähnlich. Er selbst aber sprach: Ich bin‚s.

Am Ende also kann er wieder sehen, dieser Mensch, der ein Leben lang blind war. Mit dem Wasser der Teiches Siloah wäscht er sich seine Augen und zum ersten Mal in seinem Leben gibt es für ihn einen wirklichen Lichtblick. "Wäre dieser Jesus nicht von Gott, er hätte dieses Wunder nicht vollbringen können!" Es ist der ehemals Blinde selber, dem diese Erkenntnis gedämmert ist. Im weiteren verlauf des Kapitels 9 des Johannes-Evangeliums können wir dies nachlesen. Er muss gespürt haben: Nicht dass ich wieder sehen kann, ist das Wunder. Das eigentliche Wunder liegt tiefer. Das Wunder nämlich, im Handeln dieses Jesus Gott selber am Werk zu sehen.

Nicht nur zwei, sondern gleich drei Augen hat dieser Mensch gewonnen. Und das dritte Auge ist das wichtigste. Es ist das Auge, mit dem man hinter die Dinge sehen kann. Oder eine Ebene tiefer. Oder über den Horiziont hinaus. Auf dieses dritte Auge kommt es letztlich an. Jenes Auge, mit dem der Geheilte dem Sinn seines eigenen Wunders auf die Spur kommt.

Jetzt wird der dritte Teil des Predigttextes wichtig. Nämlich die Verse 4 und 5. Und ich will noch den 39. Vers dazufügen. Jetzt ist es Jesus selber, der das Rätsel seiner eigenen Person und seines eigenen Handelns aufdeckt, indem er offen legt, worauf es ihm ankommt. Jesus sagt:

Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden.

Jesus - das Licht der Welt. Wir kennen diesen Satz aus dem Johannesevangelium. Und wir kennen auch die anderen Worte, die diesem Licht-Wort wie Geschwister verbunden sind: das lebendige Wasser, der gute Hirte, der Weinstock, die Tür, die Auferstehung, das Leben selber. Allesamt Bilder, die man nur mit dem dritten Auge sehen und mit dem dritten Ohr hören und mit dem zweiten Herzen verstehen kann.

Jesus bindet diese neue Möglichkeit des Sehens an seine Person. "Die Möglichkeit des neuen Sehens, des neuen Lebens - das bin ich. Und ihr könnt von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, wenn ihr euch tragen lasst von demselben Gottvertrauen, das auch mich trägt." Das ist Jesu Botschaft an die Menschen, denen er begegnet. Und Jesus macht die überraschende Erfahrung. Manche, die glauben, den großen Überblick und die nötige Weitsicht zu haben, denen bleibt die Sicht mit dem dritten Auge, die Sicht des Glaubens einfach verschlossen. Gerade die scheinbar Allwissenden sind nicht selten auf dem dritten Auge unheilbar blind. Und diese Blindheit ist manchmal hartnäckiger als eine körperliche Krankheit.

Nicht die Analysten haben das entscheidende Wort über unser Leben. Zumindest nicht die Analysten an den Aktienmärkten. Was wir vielmehr bräuchten, das sind Analysten des Lebendigen. Mahner, die Einhalt gebieten, wenn der Karren in die falsche Richtung läuft. Wenn der Mensch anfängt, der Quälgeist oder gar der Richter seiner Mitmenschen zu werden. Wenn sich alles nur rechnen und rentieren soll. Wenn wir die Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes anbieten wie irgend eine Ware. Der Jesus des heutigen Predigttextes stellt stattdessen ein anderes Programm vor: "Wir müssen die Werke Gottes wirken, solange es Tag ist. Es kommt die nacht, da niemand mehr wirken kann."

Gottes Werke wirken - das macht sehend. Sehend auch dafür, dass es Zusammenhänge des Bösen gibt, an denen wir tatsächlich nicht unbeteiligt oder gar unschuldig sind. Es gibt böse Worte, die sind - erst einmal ausgesprochen - in der Welt. Es gibt ein vergiftetes Denken, das alles nur noch durch die Brille des Argwohns und der Unterstellung zu sehen vermag. Es gibt einen Umgang mit der Natur, dessen Folgen nicht wir selber auszubaden haben, aber irgendwann unsere Nachkommen.

Es gibt eine Verachtung des Lebens in der Verantwortung für andere - als Eltern, als Kinder, als Vorgesetzte, als Arbeitskollegin oder -kollege, eine Verachtung im großen wie im kleinen, die scheinbar große Erfolge und persönlichen Gewinn hervorzubringen vermag und doch bestenfalls dem eigenen Ehrgeiz dient und Beziehungen zerbrechen lässt. Ja es gibt ein sich gottgleich Gebärden, neuerdings gerade auch wieder in der Wissenschaft - das am Ende die Schöpfung eher gefährdet als dass es nützt.

Genau dies meint der Evangelist Johannes, wenn er von der Blindheit derer spricht, die eigentlich zu den Sehenden gehören. Und es sind die Folgen dieser Blindheit, die jene Nacht heraufbeschwören, in der uns dann die Hände gebunden sind, weil wir das Rad nicht mehr zurückdrehen können.

"Schluss mit blind" sagt der Jesus des heutigen Predigttextes. "Denkt an euer drittes Auge und werdet endlich sehend. Traut euch selbst etwas zu. Und vertraut dem, der mich zu euch gesandt hat. Dem, dem ihr euch verdankt mit Haut und Haaren. Mit Mund und Augen. Mit Herz und Sinnen."

So sehend zu werden, macht das Leben nicht unbedingt leichter. Weil man auf Widerstand stößt. Weil die anderen verunsichert werden, wenn man das alte Spiel des Gewinns auf Kosten anderer nicht mehr mitspielt. Wenn nicht mehr Wertpapiere, sondern die Entdeckung des Lebenswerten unser Denken und Handeln bestimmen.

So sehend zu werden, macht aber zugleich auch frei. Lässt uns die Schönheit des Lebens entdecken. Lässt uns zu uns selber finden. Und gerade darin Gott nahe kommen.

Und der Friede Gottes, der all unsere Denkmöglichkeiten übersteigt, öffne euch die Augen und bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.