Reihe VI - Heiligabend - 1. Timotheus 3,16

24.12.2001

Diese Predig wurde vor etwa einem Jahr für einen Verlag im Rahmen einer Predigthilfe erarbeitet. Sie kann verwendet und gegebenenfalls entsprechend bearbeitet werden. (T.S.)

Endlich Heiligabend, liebe Gemeinde! Endlich ein klein wenig Frieden auf Erden. Da versuchen die weihnachtlich geschmückten Geschäftsstraßen uns schon seit Wochen einzustimmen auf diesen Tag. Da sind die Wochen vor diesem Tag hektisch und anstrengend, manchmal auch voller Gereiztheit, so dass wir Weihnachten bisweilen satt haben, noch ehe der Tag des Festes der Geburt Christi wirklich da ist. Doch wieder einmal haben wir uns der Macht und der Schönheit dieses Tages nicht entziehen können. Auch an Heiligabend 2001 feiern wir, dass Gott Mensch wurde. Feiern wir, dass Gott sich nicht zu schade war, sich einzumischen in die Gewohnheiten und in das Gerangel, die Unfertigkeiten und die Unzufriedenheiten dieser Welt.

Kein Zweifel, über diesem Abend liegt ein Geheimnis. Nicht die erlahmende Kraft des unzählig Wiederholten; nicht die Scharfsinnigkeit unseres aufgeklärten Denkvermögens; nicht einmal die Durchsetzungskraft dessen, was sonst Priorität hat in unserem Leben kann es dem Heiligabend wirklich schwer machen. Doch wie kann ich einfach reden vom Wunder der Weihnacht, ohne dieses Wunder kleinzumachen und einzuordnen in die Abfolge der unendlichen Kette von Geburt und Tod, vom Aufleuchten und Verglühen großer Menschen und ihrer Ideen? Wie können wir tatsächlich die schlichten und vertrauten Lieder wieder singen, wo die Macht des Bösen und die tagtäglich verlängerte Merkliste des Unrechts nicht einmal mehr vor dem Fest der Weihnacht Halt macht. Wo die großen Entscheidungen in den Metropolen dieser Welt gefällt werden und gewiss nicht in einem Hinterhof wie in Bethlehem. Vor unser aller Augen gestellt durch die Möglichkeiten der Medien.

Heiligabend erklären - das geht nicht. Offenlegen, wie das Geheimnis der Weihnacht funktioniert - da sträubt sich alles in uns. Das Geheimnis dieses Abend entzieht sich unserer Machbarkeit. Und lässt sich nicht in Beziehung setzen zum Erlös unserer verkaufsoffenen Advents-Samstage. Gottseidank ist das so.

Das Buch der Weihnacht - das ist die Bibel. Und an kaum einem anderen Tag steht weltweit dieselbe Geschichte im Blickpunkt des Interesses. Und im Mittelpunkt unserer Gottesdienste. Auch heute sind uns diese Worte aus dem Lukas-Evangelium wieder zu Herzen gegangen. Jene Geschichte, deren Kulisse uns eigentlich frösteln und frieren lassen müsste. Wenn Hirten in tiefer Nacht auf freiem Feld bei ihren Schafen wachen. Wenn ein Mann mit seiner hochschwangeren Frau nicht in der warmen Stube landet, sondern in einem zugigen Stall. Und doch macht diese Geschichte uns warm. Geht von ihr etwas aus, worin wir uns bergen und schützen können. Lassen wir uns blenden vom Licht der Engel. Darum ist dieser Abend ein heiliger Abend und diese Nacht eine heilige Nacht. Was heilig ist, ist mehr als nur der Augenschein. Ws heilig ist, erscheint in einem anderen Licht. Ist ausgegrenzt aus der Masse des Alltäglichen, von dem es ohne die Augen für das Heilige nicht zu unterscheiden ist.

Da lassen Hirten sein, was eigentlich ihres Amtes ist, und vertrauen die Schafe der Obhut Gottes an. Wie oft sind gerade die Hirten auf dem Weg zum Stall im Mittelpunkt unserer Krippen- und Weihnachtsspiele gestanden! Da wird ein Stall zum Mittelpunkt der Welt, wo die Mächtigen doch auch damals schon in Palästen residierten. Da werden mit den Schafen Ochs und Esel in den Mittelpunkt gerückt, obwohl die biblischen Weihnachtserzähler sie mit keinem Wort erwähnen. So etwas geht eben nur in einer ganz besonderen Nacht.

An das Geheimnis der Weihnacht rühren Menschen nicht erst seit heute. Auch der Schreiber des Briefes an Timotheus, der sich versteht als einer, dem viel daran gelegen ist, das Werk des Paulus fortzusetzen, will sich mit Worten dem Geheimnis der Christnacht annähern. Und auch er macht es nicht anders als wir heute. Mitten im Schreiben kommt er ins Singen. Es muss ein weihnachtliches Lied seiner Zeit gewesen sein - etwa drei oder vier Generationen nach jenen Ereignissen, um die es geht an diesem Heiligabend. Nicht im Erzählen, sondern im Singen wird es da Weihnachten. Sechs kleine Strophen, die auf immer andere Weise vom ewig gleichen Geheimnis der Weihnacht singen:
    Predigttext
Ein richtiges kleines Weihnachtsbekenntnis ist dies. Gerafft und auf das Wesentliche reduziert. So einfach, dass man es sich auch leicht merken kann. So in Verse gefasst, dass der Weg vom Text zur Melodie nicht mehr weit ist. Und doch so, dass der Respekt vor dem Geheimnis der Weihnacht gewahrt bleibt. Vom Kind der Weihnacht handelt dieses Lied, mit dessen Hilfe es auch für uns jetzt Weihnachten werden kann. Vom Geheimnis des Glaubens handelt schon die Überschrift und von nichts anderem seine Strophen. Singen wir in Gedanken die erste Strophe miteinander:
    Er ist offenbart im Fleisch
    und gerechtfertigt im Geist.
Ein geheimnisvoll Doppeltes hat es auf sich mit diesem Kind. Geboren nicht anders als alle anderen Kinder, die geboren werden - auch wieder in dieser Nacht. Und wahrhaftig nicht immer unter optimaler medizinischer Betreuung. Und dennoch mit Freuden erwartet. Geoffenbart im Fleisch - das meint, Mensch geworden und menschlich-verletzlich geblieben wie wir. Aber zugleich gewürdigt und der Alltäglichkeit entzogen, so dass uns dieses Kind bis heute nicht wirklich in Ruhe lässt. In diesem Kind leuchtet die so ganz andere Welt Gottes in unsere Welt hinein wie in keinem anderen Menschen - und ist damit zugleich unser Platzhalter bei Gott. Schafft uns Raum. Schenkt uns Lebensmöglichkeiten. Lässt Himmel und Erde sich genau da berühren, wo wir das am wenigsten vermuten.
Genau davon sprechen auch die beiden nächsten Strophen:
    Er ist erschienen den Engelnund gepredigt den Heiden.
Stärker kann man sich den Gegensatz gar nicht vorstellen. Neben den Hirten bilden die Engel die zweite Gruppe, die nicht wegzudenken ist aus dem weihnachtlichen Geschehen. Es ist ein Engel, der Maria die Geburt eines Kindes ankündigt. Und es ist ebenso ein Engel, der den Josef daran hindert, zu fliehen und seine schwangere Marie zu verlassen. Es sind Engel, die den Hirten jene Gute Nachricht kundtun, in der sich wie in einem Brennglas die weihnachtliche Botschaft zusammenfassen lässt. „Euch ist heute der Retter geboren!“ Und die uns zugleich dazu ermuntern, einzustimmen in den großen Chor derer, die das „Ehre sei Gott in der Höhe“ singen.

Den Engeln gegenüber: die Heiden. Diejenigen, die Gott in den Kategorien unseres Denkens ferner sind als alle anderen. Diejenigen, denen wir womöglich am nächsten sind. Weil wir wissen, dass Gott es selber ist, der uns Gottes-Nähe ermöglicht. Der uns wissen lässt, was sonst kein anderer uns sagt: „Du bist mir recht!“ Hier; an diesem Ort, in der weiten Spanne zwischen Gottnähe und Gottferne - hier spielen die Ereignisse der heiligen Nacht. Der Gesang der Engel ist ebenso weihnachtliche Realität wie die Einsamkeit der eigenen vier Wände, der verlorene Arbeitsplatz, die gescheiterte Beziehung. Aber die Perspektive ist jeweils eine andere.

Die unseren Blickwinkel verändernde Botschaft der Christnacht, die Zusage, dass Gott sich nicht herausziehen will aus dieser Welt - sie ist uns zuallererst als Sehnsucht ins Herz gegeben. Nirgends mehr als in der Christnacht sehen wir, was wahr ist und was dennoch nicht wahrgenommen wird, was wirklich ist, aber trotzdem keinen Ort hat. Den weihnachtlichen Blick gewinnen und sich zu öffnen für dieses Fest, das heißt Glauben. Und nicht ohne Grund heißt es in unserem biblischen Weihnachtslied:
    Er ist geglaubt in der Welt
    und aufgenommen in die Herrlichkeit.
„Christ der Retter ist da!“ - das werden wir nachher / werden heute wieder unzählige Menschen miteinander singen. Aber dass dies so ist, das muss proklamiert, muss als Zeitansage weitergegeben werden. Das wächst wie eine zarte Pflanze in Köpfen und Herzen. Es erhellt unsere Gegenwart wie der Schein der Kerzen nachher unsere Häuser. Es muss herbei gesehnt und -gesungen, herbei gefestet und -gefeiert werden. So können wir aufatmen. So wird es Heiligabend. So wird es Weihnachten. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.