Quo vadis evangelische Kirche?
- Die Zukunft der evangelischen Kirche - eine Vision? - Vortrag auf Einladung der evangelischen Petrusgemeinde
am Dienstag, den 10. April 2001

10.04.2001

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte mich zunächst dafür bedanken, dass sie mich für heute Abend eingeladen haben. Insbesondere gilt dieser Dank dem Vorsitzenden ihres Fördervereins, Herr Dr. Hein. Mit der ihm eigenen und ihnen bekannten Beharrlichkeit hat er mich dazu verlockt, heute Abend zu ihnen zu sprechen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Wer kann seinem Werben im Ernst widerstehen?!


HINFÜHRUNG ZUM THEMA

Insbesondere das Thema dieses Abends ist Herrn Hein ein Anliegen. Er war es darum auch, der mir das Thema vorgegeben und vorgeschlagen hat. Quo vadis evangelische Kirche? - Die Zukunft der evangelischen Kirche - ein Vision? Ein Thema, dem durchaus Aktualität eignet, zumal in diesen Tagen, in denen bei uns auch evangelischerseits in Freiburg so viel in Bewegung ist. Ein Thema zugleich aber auch, bei dem man auf‚s Glatteis gelockt wird; das durch seine suggestive Formulierung eine Antwort nahelegt, die es so eigentlich gar nicht geben kann.

Quo vadis evangelische Kirche? Wohin gehst du, evangelische Kirche? In diesem Satz schwingt unüberhörbar eine Beunruhigung mit; die Sorge, die evangelische Kirche befände sich nicht nur auf einem schwierigen Weg - was zweifellos zutreffend ist - zugleich höre ich auch die schwerwiegende Besorgnis heraus, die zur Zeit begangenen Wege könnten sich als Weg in die Irre erweisen. Und der Untertitel des Themas weist eben genau in dieselbe Richtung: Die Zukunft der evangelischen Kirche - ein Vision. In der Ankündigung im Gemeindebrief dann sogar noch mit einem Fragezeichen versehen.

Fast klingt der Untertitel so, als müsste man Angst haben um diese evangelische Kirche. So, als wäre eine gelingende, eine vitale Zukunft der Kirche nur noch im Bereich des Vorrates unserer Visionen zu finden.

Hier muss ich gleich Entwarnung signalisieren. Die evanglische Kirche ist sehr wohl zukunftsfähig. Und ihre Möglichkeiten liegen beileibe nicht nur im Raum der Visionen.

Es ist gegenwärtig in Mode, nach den Visionen zu fragen. Und gemeint ist damit, nach Bildern zu suchen, die der tristesse des Alltags und der Realität der Unfertigkeiten unserer Lebenswelten eine heile Gegenwelt entgegensetzen. Vision wird dann verstanden als Traum des noch ganz anderen, des bislang noch Unerschlossenen und Unentdeckten.

Ich will die mir gestellte Frage etwas nüchternen sehen; die Zukunft der evangelische Kirche nicht bis zum Vorabend des Einbruchs des Reiches Gottes extrapolieren und nach vorne denken. Wenn ich nach einer Vision der evangelischen Kirche gefragt werde, will ich mich darauf beschränken, ausgehend vom Ist-Zustand nach der Zukunft zu fragen. Für Visionäres im Sinn des die Vorfindlichkeiten Übersteigenden wird noch genügend Raum übrigbleiben.

Vor noch nicht ganz zwei Jahren habe ich einen Vortrag gehalten mit dem Thema: Was heißt heute evangelisch sein? An das Ende jenes Vortrages hatte ich zehn Thesen zum "Evangelisch sein heute" gestellt. Mit dem Thema des heutigen Abends bekommt jener letzte Vortrag gewissermaßen seine Fortsetzung. Und die Abschluss-Thesen von damals sollen heute am Anfang stehen. Ich lese ihnen diese Thesen jetzt vor (eventuell durch Musik strukturiert):


ZEHN THESEN ZUM EVANGELISCH SEIN

1. Evangelisch sein heißt Theologe oder Theologin sein; die Theologie nicht den Fachleuten überlassen und als sogenannter Laie kritisch beobachten, wie andere Kirche gestalten. Bibelkundig und theologisch fundiert nachdenken und mitwirken am Aufbau und an der Entwicklung kirchlicher Strukturen und gemeindlicher Aktivitäten.

2. Evangelisch sein heißt Christ sein vor Ort, heißt in basisnahen und gemeindeorientierten Strukturen seinen Glauben leben, heißt die Bedeutung hierarchischer Strukturen zurückdrängen.

Daß die evangelische Kirche immer wieder auch mit deutlich erkennbarem Zungenschlag als Pastorenkirche beschrieben wurde, kann nichts an der Tatsache ändern, daß das Priestertum aller Gläubigen neben dem befreienden Insistieren auf die Rechtfertigung allein aus Glauben wohl die wertvollste gemeindlich umsetzbare Mitgift aus reformatorischen Zeiten darstellt. Ja, eigentlich sei, so sagte es der bekannte Theologe Ernst Käsemann einmal, das allgemeinde Priestertum nichts anderes als die Projektion der Lehre von der Rechtfertigung in die Ekklesiologie.

Pfarrerinnen und Pfarrer sind diesbezüglich professionelle Animateure, aber eben keine Priester, die vermittelnd zwischen Gott und den Menschen tätig sind. Christinnen und Christen bedürfen neben Christus in ihrer Gottesbeziehung keiner weiteren Vermittlungsinstanz!

3. Evangelisch sein heißt profiliert sein, mit deutlich erkennbaren Kennzeichen, mit Ecken und Kanten, mit öffentlich formuliertem Gestaltungsanspruch, der sich nicht begnügt mit erfolgreicher Besitzstandswahrung und Machterhaltung. Gerade in einer Minderheitensituation und in einer Außenseiterposition hat der Protestantismus in besonderer Weise immer wieder seine Attraktivität entwickelt.

4. Evangelisch sein heißt darum ganz betont auch parteiisch sein. Hätten es die Reformatoren allen recht machen wollen, wäre ihr Unternehmen bereits im Anfangsstadium gescheitert. Parteiisch war die evangelische Kirche - ungeachtet aller späteren enthüllenden Kritik - beispielsweise in der ehemaligen DDR, parteiisch, wenn auch in einem nicht ausreichenden Maße, in Gestalt der Bekennenden Kirche zur Zeit des Dritten Reiches; parteiisch zugunsten der Armen ist sie in den Basisgemeinden vor allem in Südamerika und Asien; parteiisch in einem auch ökumenisch nicht zu unterschätzenden Maße ist sie zugunsten der Frauen, die in ihr Pfarrerin werden können; parteiisch zugunsten Geschiedener und Wiederverheirateter, denen der Gang zum Altar nicht verwehrt bleibt.

Protestanten haben sich die Evangelischen seit 1529 genannt. Dieser Name kann nicht nur kirchengeschichtliche Zutat sein; er muß sich von jeder Generation neu erarbeitet und verdient werden.

5. Evangelisch sein heißt seit den Anfängen des Protestantismus demnach auch politisch sein, heißt, sich einzulassen auf die konkreten Lebensumstände der Welt um uns herum. Sich einlassen meint hier nicht nur die Einnahme eines Tribünenplatzes, von dem aus wir wie ein Schiedsrichter über das Tun und Lassen der politisch tätigen Menschen wachen. Sich einlassen meint auch sich einmischen: durch Denkschriften und Stellungnahmen ebenso wie etwa durch Kirchentage und polititische Nachtgebete; nicht zuletzt aber auch durch eigene Aktivitäten auf dem Feld der Politik. Bewußt, ja selbstbewußt evangelische Christen haben immer schon auch in der politischen Landschaft Farbe bekannt.

6. Evangelisch sein heißt auch wandlungsfähig sein. Die äußere Gestalt der Kirche, veränderte Wertvorstellungen, neue Einsichten - sie alle verlangen nach veränderten Reaktionsmustern. Unveränderliche Wahrheiten, ex cathedra verkündet, sind evangelische Sache nicht.

Wir müssen Antwort geben auf die Fragen der Menschen von heute. Das heißt: Wir müssen das Anliegen der Reformation auf Dauer stellen. Reformation ist kein historisches Ereignis der Vergangenheit, sondern eine Weise, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Ecclesia semper reformanda heißt das dazugehörige Schlagwort. Die Kirche - und doch nicht nur die evangelische - bedarf immer wieder und immer wieder von neuem - der Reformation.

7. Evangelisch sein heißt fromm sein. Fromm sein meint, seinen Glauben zu leben in einer Vielfalt der Möglichkeiten. Die Herrnhuter Tageslosung kann hier ebenso dazugehören wie Formen der Meditation, Bibelarbeit ebenso wie soziales Engagement.

Aufklärung und Pietismus haben sich in der evangelischen Theologie niedergeschlagen. Gründliche rationale Textauslegung und kleine Zellen engagiert-pietistischer christlicher Existenz haben sich auf‚s Ganze gesehen befruchtet, nicht nur im Wege gestanden: beides als Ausdruck christlicher Frömmigkeit.

8. Evangelisch sein heißt zugleich offen sein - offen für neue Formen kirchlicher und gemeindlicher Existenz, offen für neue Gedanken - nicht nur in der Theologie, offen für Menschen ganz anderer Prägung und Herkunft. Dies schlug sich nicht zuletzt nieder im inzwischen beinahe versandeten Dialog zwischen Christsen und Marxisten wie in den zunehmenden Gesprächen zwischen Christen und Menschen aus anderen Religionen.

Daß angesichts einer derart proklamierten Offenheit gerade die evangelischen Gotteshäuser meist verschlossen sind, ist darum bedauerlich - auch wenn es theologisch schon Sinn macht. Schließlich sind die Kirchen nach evangelischem Verständnis gerade keine ausgesonderten Orte der Gottesbegegnung, die prinzipiell überall möglich ist. Gott ist nicht an Kirchen, nicht einmal an die Kirche gebunden! Ein ausreichender Grund dafür, sie darum unter der Woche einfach abzuschließen, ist das allerdings auch nicht.

9. Evangelisch sein heißt mit der Vielstimmigkeit leben. Die evangelische Kirche hat kein Lehramt; keine für alle verbindliche Instanz, die darüber entscheidet, was gute und was schlechte Lehre ist. Ihr Lehrer ist - der Idee nach - die Heilige Schrift, nach der Theologie der Reformatoren die Gemeinde, in der Wirklichkeit der herrschende theologische Trend, in Ausnahmefällen leider auch immer wieder ein kirchliches Spruchkollegium. Eine Lehrzucht früherer Art gibt es in Baden - gottseidank - nicht mehr.

Was wirklich evangelisch ist, muß sich bewähren auf Synoden und in Gottesdiensten, im Streitgespräch und im Gebet. Mehrstimmig wird die evangelische Stimme in einer pluralen Welt allemal bleiben, ja bleiben müssen.

10. Evangelisch sein heißt nicht zuletzt, sondern zuallererst ökumenisch gesonnen sein. Nicht in Abgrenzung zu den Menschen Christ sein wollen, die einer anderen Kirche angehören - auch nicht zu denen, die keiner Kirche angehören -, sondern gemeinsam mit ihnen das Leben in seiner Vielfalt und in seiner möglichen Fülle fördern.

Evangelische Christen haben Teil an der Wirklichkeit der einen weltweiten Kirche. Christ sein ist das Allgemeine und das Grundlegende, dazu evangelisch sein das Mögliche und Besondere - ohne jeglichen Anspruch, im Besitz allein seligmachender Wahrheiten zu sein, aber mit dem radikalen Anspruch, der Wahrheit immer und überall zum Durchbruch verhelfen zu wollen.

Nachdem sie diese zehn Thesen gehört - und damit gewissermaßen meinen eigenen Standort in der evangelischen Kirche wahrgenommen - haben, möchte ich mich auf eine noch einmal ganz andere Weise an das Thema dieses Abends annähern.


1. WER NACH DER ZUKUNFT FRAGT, MUSS ERST DIE GEGENWART IN AUGENSCHEIN NEHMEN

Warum eigentlich über das Evangelische - konkret die evangelische Kirche nachdenken? Nur weil ihr zur Zeit das Geld knapp wird? Weil sie sich in einem Prozess struktureller Erneuerung und des Umbaus befindet? Das mag im Interesse an diesem Thema sicher entscheidend mitschwingen. Es wäre aber - glaube ich - doch auch viel zu wenig.

Geldmangel kann ja mehrere Ursachen haben. Er könnte eine Folge schlechten Wirtschaftens sein. Und manchmal ist er es auch. Dabei muss nicht einmal die Kirche selber schlecht wirtschaften. Haupteinnahmequelle der Kirche ist bekanntlich die Kirchensteuer. Diese wird in Abhängigkeit von der Lohn- bzw. Einkommenssteuer erhoben. Das bedeutet, dass sich Verlauf der Steuerereinnahmekurve direkt in der Kurve der Kirchensteuereinnahme widerspiegelt. Allerdings sieht diese Kurve zumindest im Moment erste einmal gar nicht mehr so schlecht aus man unlängst noch befürchten musste.

Geldknappheit könnte aber auch eine Folge eines grundsätzlichen Relevanzproblems der Kirche sein. Konkret: Weil die Verbindungsfäden zur Kirche hin dünner und schwächer werden und nicht selten reißen, gehen als Folge davon die Einnahmen zurück. Weit mehr als früher überlegen sich die Menschen heute sehr genau, was mit ihrem Geld passiert. Und es gibt einen kontinuierlichen Aderlass an Mitgliedern, der nur deshalb nicht so dramatische Folgen angenommen hat, weil Menschen, die insbesondere aus dem Gebiet der ehemaligen UdSSR zu uns gekommen sind, diese Lücken zum größeren Teil wieder gefüllt haben.

Ich will mich daher jetzt zunächst grundsätzlich dazu äußern, warum wir erneut darüber nachdenken müssen, was es bedeutet evangelische Kirche zu sein. Drei Gründe will ich dazu nennen:

Wir müssen heute tatsächlich von neuem darüber nachdenken, was es heißt, evangelische Kirche zu sein. Und das gleich aus mehreren Gründen. Drei für mich wesentliche will ich nennen:

1. Wir müssen heute von neuem über die evanglische Kirche nachdenken, weil wir von neuem ganz grundätzlich über die Kirche nachdenken müssen. Die aufgeregten und verletzten evangelischen Reaktionen auf die vatikanische Erklärung "Dominus Iesus" sind ein Indiz für diese Notwendigkeit. Ganz offensichtlich definieren evangelische und katholische Kirche ihr Kirchsein jeweils ganz unterschiedlich und auch von unterschiedlichen Voraussetzungen her.

Insgesamt ist dies gegenwärtige Phase der Kirche gekennzeichnet von einem offenkundigen Bedeutungsverlust der Kirche überhaupt. Die Kirchen - oder müßte ich besser sagen: die beiden großen Volkskirchen - schrumpfen, was ihren Mitgliederstand angeht; sie schrumpfen aber auch, was die Bereitschaft angeht, die Stimme der Kirche zu vernehmen. Dabei gilt dieses Schrumpfen, dieses Verdunsten traditioneller Kirchlichkeit nur für unsere Breiten und unsere sehr rationale Art des Kirchesein.

Weltweit wachsen die Kirchen enorm. Es sind vor allen anderen Strömungen die charismatischen Kirchen, deren Zunahme in einem ungeheuren Tempo erfolgt. Und es gibt ernstzunehmende theologische Experten wie etwa Hollenweger, die davon ausgehen, dass schon in wenigen Jahren zwei Drittel der Christinnen und Christen dieser Erde einer charismatischen Kirche angehören.

Für unsere Situiation - nicht zuletzt auch die in Freiburg gilt: Konkurrenzanbieter etablieren sich erfolgreich auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten. Der Dschungel der religiösen und pseudoreligiösen Angebote ist nur noch von Fachleuten wirklich zu durchschauen. Freie christliche Gemeinden und Gruppierungen auf der einen und eine Vielfalt von sogenannten Sekten, esoterischen Gruppierungen oder Anbietern, die sich östlicher Religiosität bedienen, auf der anderen Seite nehmen die Kirchen gleichsam in die Zange. Es gilt also, den Ort auch der evangelischen Kirche in diesem undurchsichtigen religiösen Dschungel und einer sich in hohem Tempo wandelnden Gesellschaft neu zu bestimmen.

2. Wir müssen darüber nachdenken, was es heißt, evangelische Kirche zu sein, weil nicht nur die Kirchen an sich an Bedeutung abnehmen. Nein, in besonderer Weise schwindet ganz grundsätzlich die Plausibilität für das Vorhandensein verschiedener Konfessionen. In schwieriger werdenden Zeiten können wir uns die Doppelstruktur kirchlicher Arbeit - hie evangelisch und hie katholisch - hie noch ein kirchliche Drittes - doch gar nicht mehr leisten, sagen manche Menschen. Machen wir doch endlich Ernst mit der Ökumene. Wir glauben doch ohnehin alle an denselben Gott. Und auf der anderen Seite treten Menschen aus der evangelischen Kirche aus, weil sie sich über den Papst oder über Kurienkardinal Ratzinger geärgert haben. Kollegen aus dem Bereich des Religionsunterrichts berichten, dass die Schülerinnen und Schüler gar kein Interesse mehr daran haben, sich über die Unterschiedlichkeit von Konfessionen überhaupt noch Gedanken zu machen.

3. Wir müssen darüber nachdenken, was es heißt, evangelische Kirche zu sein, weil wir weltweit in einem immer intensiver werdenden Prozeß der Begegnung der Religionen stehen. Nicht wenige Fachleute rechnen damit, daß dieses noch junge dritte Jahrtausend insbesondere das Jahrtausend des interreligiösen Dialoges der Weltreligionen mit all den daraus resultierenden Konsequenzen sein wird, die offene Grenzen eben mit sich bringen. Es gilt also, die Besonderheit der Evangelischen Kirche auch gegenüber anderen Religionen zu überdenken und zu reflektieren.

Das eigene Kirche-Sein vollzieht sich bekanntlich nie schwebend und abgehoben über der Wirklichkeit, sondern durch Einbindung in eine konkrete Glaubensgemeinschaft. Ich bin also nie nur Christin oder Christ, sondern zugleich immer auch evangelisch bzw. katholisch, orthodox oder noch etwas anderes. Und da wir unser Leben zunehmend unter dem Gesichtspunkt unsere Wahlmöglichkeiten beschreiben, müssen wir uns also auch im Bereich der Religion und der Kirche entscheiden.

Doch auch bei gelingender Neuwerbung oder Stärkung bestehender Anbindung an die evangelische Kirche hat sich folgendes sehr gewandelt: Die "Haltbarkeitsdauer" der einmal eingegangenen Bindung ist eine sehr sensible Variable. Darum ist es - auch mit dem Ziel der Wahrung des personellen Bestandes - heute mehr denn je nötig, diese Bindung an die eigene Kirche immer wieder neu zu bestätigen. Im Blick auf die Außenwirkung der Kirche kann Mtgliederwerbung nur dann erfolgreich betrieben werden, wenn wir glaubwürdig begründen können, daß es attraktiv ist, gerade evangelischer Christ zu sein.

Schon vor 13 Jahren - im November 1988 - hat sich die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland mit der "Doppel-Frage" beschäftigt: Wie wird man Christ? Und wie bleibt man Christ? Und in ihren bisher drei Mitgliedschaftsstudien hat die EKD immer wieder neu das Verhältnis ihrer Mitglieder zur Institution genauer zu bestimmen versucht. Mit unterschiedlicher Terminologie sind verschiedene Zugehörigskeitsidentitäten erhoben worden.

Neben den Anhängern im engeren Sinn, die maximal 10-20 Prozent ausmachen, gibt es noch den Block der eher lose Verbundenen - die sogenannten treuen Kirchenfernen - sowie einen bedeutenden Sockel von Menschen mit latenter Rückzugsmentalität und einer großen Bereitschaft zum Kirchenaustritt. Die Frage nach der Zukunft der evangelischen Kirche ist im Grunde daher auch eine, die gestellt werden muss mit dem Ziel, der evangelischen Kirch gerade durch Wandel und Anpassung an sich verändernde Verhältnisse Stabilität zu verleihen.

Dabei ist nichts von dem, was ich zum Thema des heutigen Abends und zur Bedeutung des Evangelischen überhaupt anti-ökumenisch zu verstehen. Das läge mir - der ich in den vergangenen zwei Jahren ja auch der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der christlichen Kirchen in Freiburg war - wahrhaftig fern.



WOHIN ENTWICKELT SICH DIE EVANGELISCHE KIRCHE?

Es macht also Sinn, nach der Zukunft der evangelischen Kirche zu fragen. Darum will ich nachfolgend jetzt - wenn schon keine Visionen - zumindest aber doch sieben Wünsche an die evangelische Kirche formulieren. Diesen Wünschen angeschlossen werden zehn Trends, die eine teilweise gewünschte, teilweise sicher auch befürchtete Entwicklung der evangelischen Kirche skizzieren sollen.

Wunsch 1
Die evangelische Kirche möge sich zu einer Kirche entwickeln, die nicht ängstlich ihre Defizite beklagt, sondern ihre Stärken öffentlich macht und zugunsten der Menschen einsetzt. Dazu gehören unter anderem: Raum für eine Vielzahl unterschiedlicher Kirchen mit unterschiedlichen Leitungsstrukturen: episkopal die einen, synodal die anderen. Dazu gehören eine hohe sozial-ethische Kompetenz, ein deutlicher Akzent auf dem Sektor der Bildung, eine starke Durchdringung des Bereichs der Kultur, gleiche Möglichkeiten für Frauen und Männer - um nur einiges zu nennen. Diese Liste ließe sich fortsetzen.

Wunsch 2
Die evangelische Kirche möge die Freiheit eines Christenmenschen und die hohe Würdigung der Taufe als Grundlage des Priestertums aller in das ökumenische Gespräch einbringen und sich nichts davon abhandeln lassen. Interkonfessionelle Konsenspapiere dürfen gerade an dieser Stelle nicht das eigene Selbstverständnis auf‚s Spiel setzen.

Wunsch 3
Die evangelische Kirche möge sich weiter insbesondere den Gruppen verpflichtet fühlen, die auf das stellvertretende Handeln anderer angewiesen sind. Menschen unter Bedrohung, Menschen in Ängsten, Menschen in Verhältnissen der Armut und des Hungers, Menschen, die den unterschiedlichsten Formen der Unterdrückung ausgesetzt sind.

Wunsch 4
Die evangelische Kirche möge das Verständnis ihrer Ämter als von hierarchischen Formen frei wahren. Entscheidend ist doch wahrhaftig nicht die Frage nach den Möglichkeiten, den Papst als Sprecher der gesamten Christenheit zu akzeptieren, wie es neuerdings in manchen Kreisen des Lutheraner üblich ist. Entscheidend ist vielmehr, die befreiende Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders möglichst breit und einladend zu kommunizieren.

Wunsch 5
Die evanglische Kirche möge für ihr Ökumene-Verständnis werben, wie es in der Leuenberger Konkordie seinen sichtbaren Ausdruck gefunden hat. In dieser Vereinbarung aus dem Jahr 1973 haben sich die meisten evangelischen Kirchen zu voller Kirchengemeinschaft bekannt, ohne die eigene Identität aufzugeben oder alle Kirchen miteinander auch in organisatorischer Hinsicht zu fusionieren. Dieses Modell möge die evangelische Kirche als Grundlage des Dialogs auch mit der römisch-katholischen Kirche einbringen, weil derart die Möglichkeit der gemeinsamen Feier des Herrenmahls nicht bis zur Durchsetzung der kirchlichen Einheit warten muss.

Wunsch 6
Die evangelische Kirche möge ihren Kirchenbegriff profilieren und in den Dialog der Konfessionen einbringen. Diesem Wunsch liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Reformation nicht der Auszug eines Teils der Kirche aus der größeren Gemeinschaft war, der ihr dementsprechend nur den Status der kirchlichen Gemeinschaft lässt, ein Mangel, der nur durch Rückkehr in die römisch-katholische Mutter-Kirche wieder geheilt werden kann. Vielmehr haben sich infolge der Reformation im Westen zwei größere und viele kleiner Teilkirchen entwickelt, die jeweils in vollem Sinn Kirche sind und die sich ökumenisch partnerschaftlich aufeinander zu bewegen können, ohne die eigene Identität aufzugeben.

Wunsch 7
Die evangelische Kirche möge nicht von ihrem dreifachen Auftrag zur Disposition stellen: dem Auftrag der tröstenden Zuwendung zu den einzelnen, dem Auftrag, sich für gerechtere Strukturen in dieser Welt einzusetzen; dem Auftrag, die Botschaft von der Freiheit auch in Bildungsprogrammen Gestalt annehmen zu lassen.

Wünsche haben es an sich, dass Ihre Realisierung noch aussteht. In der gegenwärtig auch in den Kirchen üblichen Terminologie sind meine Wünsche aber Zielvorstellungen, für deren Realsierung wir uns m.E. einsetzen müssen, wenn wir nicht den Preis der Aufgabe der eigenen Identität bezahlen wollen.

Neben diesen in der Gestalt von Wünschen formulierten Zielen will ich aber auch meine persönlichen Überlegungen, Anmerkungen und Vermutungen darüber in unser Gespräch einbringen, wie sich die evanglische Kirche mittelfristig voraussichtlich entwickeln wird. Ich übernehme hier gleichsam den sicherlich notwendigen Part eines kirchlichen Trendforschers.

Insgesamt stelle ich zehn solcher Vermutungen an bzw. gebe Trends wieder, die sich mittelfristig einstellen werden, unabhängig davon, ob ich sie begrüße und gutheiße oder nicht.


Trend 1
Evangelisch sein wird sich zunehmend stärker als Prinzip denn als Identität einer soziologisch fassbaren kirchlichen Großgruppe realisieren, d.h. die Gruppe derer, die das Anliegen der Reformation und des Protestantismus weitertragen, wird zunehmend weniger identisch sein mit Spielarten der Institution "Evangelische Kirche".
Trend 2
Die große Welteinheitskirche wird nicht kommen. Auch nicht als Folge eines intensivierten ökumenischen Prozesses. Dabei wird die evangelische Tradition stärker durch die kleineren Kirchen protestantischen Ursprungs weitergetragen. Im Verlauf dieser Entwicklung werden die evangelischen Kirchen manches an Ritualen und Bräuchen, die im reformatorischen Disput vorschnell aufgegeben wurden, wieder für sich zurückgewinnen.

Die römisch-katholische Kirche wird auf der anderen Seite zunehmend in den Sog und unter den Druck der Öffnung gelangen und auf diese Weise reformatorisches Gedankengut aufnehmen müssen, wenn sie einen starken Abbruch an beiden Rändern verhindern will.

Trend 3
Die zunehmende gegenseitige ökumenische Durchdringung wird es mittelfristig möglich machen, dass in der evanglischen Kirche Angehörige anderer Konfessionen Verantwortung übernehmen wie etwa jetzt schon im Kirchengemeinderat der Evangelischen Studierendengemeinde oder vielfach im Kindergartenbereich. Es ist dann denkbar, dass eine Gemeinde mit eigenen Mitteln einen Mitarbeiter aus einer anderen Konfession an- oder einstellt. Dies wäre eine erstaunliche und bemerkenswerte ökumenische Errungenschaft.

Trend 4
Innerhalb der evangelischen Kirche wird der Trend zur Differenzierung der Arbeitsformen und Angebote bestehen bleiben, ohne dass deswegen die Gemeinde als Grundform kirchlicher Existenz in Frage gestellt wird. Dies könnte aber bedeuten, dass die Existenz einer Gemeinde nicht mehr gleichbedeutend ist mit der Zur-Verfügungstellung eines landeskirchlich finanzierten Pfarrers bzw. einer Pfarrerin.

Trend 5
Neben den an einer Hochschule mittels eines entsprechenden Studiums ausgebildeten Pfarrers werden Menschen pastorale Aufgaben übernehmen, die dazu in anderer Weise aus- und fortgebildet werden. Es wird zunehmend Gemeinden ohne Pfarrerin oder Pfarrer geben, in denen Ehrenamtliche wesentliche Aufgaben selbständig wahrnehmen.

Trend 6
Die Gemeinden werden in zunehmenden Maße Mitverantwortung im Bereich der Beschaffung finanzieller Mittel übernehmen und derart weniger abhängig von landeskirchlichen Strukturen sein. Hier sind allerdings Konflikte vorprogrammiert. Nicht auszuschließen ist, dass es verschiedene Abstufungen der Zugehörigkeit zur Landeskirche gibt. Dies deutet sich schon heute im Bereich des Trends der Gemeinschaften hin zu freikirchlichen Strukturen an.

Trend 7
Die Einheit der liturgischen Ordnungen - etwa des Hauptgottesdienstes - der Strukturen, der Theologien wird zusehends aufgefächert. Die Einheit muss dann verstärkt inhaltlich und nicht mehr formal definiert werden. Dieser Trend hat sich in einigen Gemeinden bereits angedeutet, die mit unterschiedlichen gottesdienstlichen Programmen arbeiten. Denkbar ist auch, dass regelmäßig Gesprächsgottesdienste, Theatergottesdienste, Videogottesdienste u.ä. angeboten werden. Womöglich bildet sich auch ein e Internet-Gemeinde.

Trend 8
Verschiedene Institutionen und Arbeitsformen übernehmen die Verantwortung auch für Gottesdiensträume. Die Erwachsenenbildung hat eine eigene Kirche, die Diakonie, die Jugend und die Senioren. Der Trend zur Wahl setzt sich auch bei den Gottesdiensten fort.

Trend 9
Die Kirche wird vielfältiger in ihren Angeboten. Es gibt verstärkt evangelische Schulen; Läden in kirchlicher Verantwortung und ökumenischer Trägerschaft. Teilweise werden Räume zu bestimmten Zeiten einfach angemietet und sonst anderweitig genutzt.

Trend 10
Der Bedarf an Spiritualität und an Orientierung in einer nüchternen und von materialistischen Werten bestimmten Welt wird nicht abnehmen. Zu welchem Anteil dabei die Kirche, auch die evangelische in Anspruch genommen und nachgefragt wird, hängt auch davon ab, wie glaubwürdig der Spagat zwischen Zeitgenossenschaft auf der einen Seite und kritischer Reflexion des Zeitgeistes gelingt.



Wohin geht die evangelische Kirche? Wie wir alle in eine uneinheitlicher werdende Welt. In vielfältigere Formen. In unterschiedliche Verbindungen und Handlungspartnerschaften. Auf einen Markt voll von Anbietern von Wegen der Sinnstiftung und der gelingenden Lebensgestaltung unterschiedlichster Couleur zwischen Scharlatanerie und Lebenshilfe. Allemal aber an der Seite der Menschen unter der Obhut Gottes.

Angst brauchen wir um die evangelische Kirche und um die Kirche überhaupt darum nicht zu haben. Es ist ein anderer ist, der sie hält. Im Blick auf den Weg der Kirche in die Zukunft gilt dabei, was ich vor kurzem gehört habe: Wer das Risiko scheut, geht womöglich das größere Risiko ein. In diesem Sinne bleibt es auch in Zukunft lohnend evangelisch zu sein.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.