Predigt
im Gottesdienst anlässlich des Neujahrsempfangs
der Diakonischen Werkes Freiburg-Stadt
am 14. Januar 2003 in der Ludwigskirche in Freiburg

14.01.2003
Liebe diakonische Neujahrsgemeinde!

Auch in diesem Jahr will ich mit ihnen in diesem Gottesdienst wieder einen Weg des gemeinsamen Nachdenkens gehen. Im Mittelpunkt soll dabei wieder die Jahreslosung stehen – obwohl ich mit dem Wort Losung immer so etwas meine Mühe habe. Es klingt mir etwas zu militärisch. Aber in diesem Zusammenhang ist durchaus eine positive Absicht damit verbunden. Dennoch will ich lieber von einem biblischen Jahresmotto sprechen. Oder von einem Jahresleit-Thema. Sein Ziel ist es, unseren Blick für ein Jahr auf ein ganz bestimmtes Thema zu lenken. Dieses Thema müssen wir dann aber aus dem Jahresmotto erst herausdestillieren.


Ich will ihnen daher das biblische Jahresmotto für 2003 erst einmal vorstellen. Es lautet:
    „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist.
    Gott aber sieht das Herz an.“
Der Weg, den ich mit ihnen gehen möchte, entspricht nicht ganz dem, wie sie es sonst von einer Predigt gewöhnt sind. Aber am Ende haben sie hoffentlich doch alle etwas davon. In drei Schritten will ich mit diesem Jahresmotto – und darüber hinaus mit ihnen – ins Gespräch kommen. Jeder Teil hat dabei sein eigenes Thema. Das Thema der ersten Teiles lautet:
    Die Story hinter dem Satz -
    oder Spieglein, Spieglein an der Wand,
    wer ist der Beste im ganzen Land.
Kurze Orgel-Improvisation
Charakter/Themen: märchenhaft; Spiegel-Motiv; mit „Helden“-Motiven den neugesalbten König aufleuchten lassen

Zunächst also zunächst zum Zusammenhang, dem das biblische Jahresmotto zu entnehmen ist. Ein Zusammenhang übrigens, den sie im Grunde alle aus eigener Erfahrung kennen. Es geht um eine Auswahlsituation für eine Stellenbesetzung. Konkret geht es um eine Nachfolgeregelung. Zu finden ist der Zusammenhang im ersten der beiden biblischen Samuelbücher.

Neu zu besetzen ist die Stelle des Königs von Israel. Saul, der erste König, verliert sein Königsamt. Für die Regelung der Nachfolge ist Samuel zuständig. Er hatte diese Aufgabe gewissermaßen in göttlichem Auftrag wahrzunehmen. Es gibt auch einen Pool, aus dem der neue König herauszusuchen ist, nämlich die Söhne eines Bauern aus Bethlehem namens Isai. Samuel schaut sich den ältesten Sohn an und ist sehr angetan. Kein Zweifel, das musste der neue König sein. Doch Gott legt sein Veto ein. Nein, den nicht. Und diesem Nein zur Verleihung der Königswürde schließt sich das Jahresmotto an. Gott sagt da nämlich zu Samuel: „Ihr Menschen seht auf das, was vor Augen ist. Ich aber sehe das Herz an.“

Kurz will ich erzählen, wie die Geschichte weitergeht. Gott reagiert auf jeden der sieben prächtigen Söhne des Isai in derselben Weise. „Nein, den nicht. Du siehst nur auf das, was vor Augen ist.“ „Und sonst hast du keine Kinder mehr?“, fragt Samuel, der Königsmacher am Ende. „Doch, noch den Kleinen“, sagt der reichlich irritierte Vater. Er hat keine Ahnung, was dieser merkwürdige Mann eigentlich vorhat. „Der Kleine hütet draußen die Schafe.“ Samuel lässt auch den holen, der viel zu jung und zu unerfahren ist für die großen Aufgaben des Lebens. Und genau der wird von Samuel dann zum König gesalbt. Wie so oft fällt Gottes Blick auf die kleinen Leute. Auf die, die keiner auf der Rechnung hat. Auf die, die den vorgegebenen Kriterien nicht entsprechen. Auf die, die gar nicht dran sind.

Dieser Kleine wird übrigens später ganz groß. Er geht als der große König David in die Geschichte ein. Wird zum Urahm Jesu von Nazareth. Samuel hat mehr in diesem kleinen Hirten entdeckt entdeckt als das, was man ihm ansehen konnte.

Der Mensch sieht eben, was vor Augen ist. Gott hat über die Gegenwart hinaus die Zukunft im Blick. Ins Herz schauen meint hier zu entdecken, was in diesem kleinen Hirtenjungen schon angelegt ist. Was in ihm noch alles wachsen kann.

Kommen wir jetzt aber zum zweiten Teil. Er trägt die Überschrift:
    Der Mensch sieht, was vor Augen ist -
    Doch wenn schon hinsehen,
    dann aber genau und lieber zweimal
Kurze Orgel-Improvisaton
Charakter/Themen: Klänge der Welt; Werbung; Fernseh-Motive; Martinshorn; laut; erst unstrukturiert; dann immer feiner und differenzierter


In keiner Zeit vor uns wurde so viel und so lange hingeschaut. Wir leben in einer Bildergesellschaft. Die wesentlichen Informationen werden über Bilder vermittelt. In den Nachrichten. In Filmen. In Videos. Wir werden geradezu mit Bildern überschüttet. In der Werbung. Auf Plakatwänden. Um Hinsehen kommt heute niemand mehr herum. Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Da ist heute nicht mehr viel mehr als eine Binsenweisheit. Der Mensch sieht nicht nur, was vor Augen ist. Er bekommt viel mehr vor Augen geführt, als er eigentlich sehen will. Mehr auch, als er oder sie verkraften kann.

Die Informationsflut mit der Wucht der Bilder erschlägt uns geradezu. Das Internet ist dafür nur ein Beispiel. Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Drohender Krieg im Irak. Tagtägliche Gewalt in Israel-Palästina. Vor Augen geführt werden uns aber auch Fortschritt und Erfolg. Vermeintlich oder wirklich.

Noch weit mehr zu sehen ist uns möglich: In anderen Ländern können wir uns virtuell umschauen und Erfahrungen sammeln, ohne jemals dort gewesen sein. Die Erde aus dem Weltraum sehen. Auch das ist uns längst vergönnt. Oder selber den Blick ins All wagen. Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Und er nutzt alle Möglichkeiten, sich immer wieder Neues vor Augen zu führen. Grenzen sind noch lange nicht in Sicht. Die Errungenschaften der Wissenschaften erlauben uns Einblicke in die Mikro-Struktur dieser Erde. Auch in die des menschlichen Lebens.

Der schwierigste Blick ist aber nach wie vor der in die Tiefe der menschlichen Seele. Auch hier haben wir uns zwischenzeitlich Möglichkeiten erarbeitet, die für Generationen vor uns undenkbar waren. Wir wissen viel über den Menschen. Sehr viel. Und wir haben viele Wege um herauszufinden, wo unsere Stärken und Kompetenzen liegen. Aber auch unsere Schwächen und unsere blinden Flecke.

Ob wir in unserer Art der Auswahl wirklich erfolgreicher sein würden als Samuel? Ich habe da durchaus meine Zweifel. Wir Menschen sind uns im Grunde selber ein Geheimnis geblieben. Oft verstehen wir nicht einmal selber, warum wir uns so und nicht anders verhalten. Warum die Liebe hierhin fällt und der Hass dahin. Warum wir einen Menschen wissend enttäuschen. Warum wir tun, was wir lieber lassen sollten. Und lassen, was dringend angesagt und notwendig wäre.

Auf der anderen Seite können wir uns selber überraschen. Entdecken Möglichkeiten in uns, die wir nicht einmal geahnt haben. Schaffen am Ende, was wir oder andere uns zutrauen. Vor Augen ist dies oft wahrhaftig nicht gelegen. Aber es lässt sich dann wohl doch immer einiges entdecken, wonach wir gar nicht gesucht haben. Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Es ist viel, was wir sehen können. Auch sehr viel Schönes. Nur nicht wegschauen. Lieben heißt auch: Sehen. Und was wir mit Liebe sehen, ist immer auch liebenswert.

Jetzt fehlt nur noch der dritte Teil. Ich habe ich folgendermaßen unterschrieben:
    Gott aber sieht das Herz an
    Oder warum der Fuchs Recht hat
Kurze Orgel-Improvisation
Charakter/Themen: Herz; Liebe; das Innere musikalisch nach außen kehren


Gott aber sieht das Herz an. Heißt das wirklich? Unser Blick bleibt am Ende doch nur beim Äußeren stehen? Beim Vorläufigen. Dringt doch nie wirklich in die Tiefe. Dieser Blick ins Innere bleibt Gott vorbehalten.

Mir wäre das zu einfach. Dazu sehen wir wirklich viel zu viel. Der Satz aus der Geschichte der Wahl des Königs David ist keiner, der den Menschen madig machen will. Nach dem Motto: Ihr schaut doch nur auf die Äußerlichkeiten. Am dem, was einen Menschen wertvoll macht, habt ihr kein Interesse.

Allerdings sollten wir uns tatsächlich der Mühe unterziehen, die es macht, immer auch das Herz anzuschauen. Uns nicht blenden lassen von der geschönten Fassade. Von Einfluss und Ansehen. Von Vitamin B und alten Seilschaften. Gott sieht das Herz an. Und wir können auch das Herz ansehen. Können auch nach den Beweggründen fragen. Können einen Menschen nach dem beurteilen, was in ihm angelegt ist. Was aus ihm werden könnte.

Es reicht nicht, nur auf die rechten Papiere zu achten. Nur unsere Interessen zu befriedigen. Gott sieht das Herz an. Und wir können das auch.

Das Herz ansehen, das geht allerdings nie nur mit dem Verstand. Wer das Herz ansehen will, muss selber mit dem Herz sehen. Dem kleinen Prinzen in der gleichnamigen Erzählung von Saint-Exupéry gibt der Fuchs zum Abschied ein Geheimnis mit auf den Weg: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, sagt er. „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ Und er hat Recht. Wer mit dem Herzen sieht, kann anderen auch ins Herz sehen. Ohne sie zu denunzieren. Ohne sie bloßzustellen.

Mit dem Herzen sehen heißt sehen, was den Menschen im Menschen ausmacht. Heißt, den anderen ihre Würde zu lassen. Oder sie ihnen zurück zu geben. Genau das tun sie alles im Rahmen der Diakonie. Ehrenamtlich oder hauptamtlich. Sie helfen mit, andere mit dem Herzen zu sehen. Und sehen anderen dabei immer wieder auch selber ins Herz. Sehen ihr Leiden und ihre Verzweiflung. Und sehen ihre Sehnsüchte und ihre Hoffnungen. Und gerade deshalb ist die Diakonie im Herzen der Kirche verankert. Ist Kirche ohne Diakonie gar nicht zu denken.

„Einen Menschen lieben heißt ihn so sehen, wie Gott ihn gemeint hat.“ Dieser Satz stammt von Dostojewski. Darauf also kommt es an. Dieses „mit dem Herzen sehen“ - es ist eine besonders intensive Weise der Nächstenliebe.

Wir stehen immer in der Gefahr, darauf zu verzichten, bei unserem Sehen dem Herzen genügend zuzutrauen. Und verzichten dabei auch darauf, anderen ins Herz schauen zu können. Oft trifft das wirklich zu: Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Da sehen wir nur, was uns gerade in die Augen fällt. Uns blendet. Den Blick auf das Wesentliche verstellt. Nur: Dies muss nicht so bleiben. Weil Gott das Herz ansieht, sind auch uns die Augen geöffnet.

Anderen ins Herz sehen heißt dann, sie mit den Augen Gottes sehen lernen. Heißt entdecken, wo die Wurzeln des Wunders der Veränderung liegen. Auch die Wurzeln des Wunders des bewahrten Friedens, auf das wir zur Zeit so sehr hoffen. Und für das wir uns noch viel mehr einsetzen müssen.

Das könnte das Thema dieses noch jungen Jahres 2003 sein: Im Kleinen die Wurzeln des Großen entdecken. Im noch Unreifen schon die Früchte erahnen. In denen mit geschundenen Antlitz den liebenswerten Menschen entdecken und die großen Lebensmöglichkeiten herausahnen und ins Leben ziehen.

Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Gott aber sieht das Herz an. Zu nichts weniger sind wir berufen als dazu, die Welt mit Gottes Augen sehen zu lernen. Und ihre wahre Schönheit zu entdecken. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.