Predigt im Gottesdienst
anlässlich der Pfarrwahl in der Versöhnungsgemeinde Stegen
am Mittwoch, den 10. September 2003

10.09.2003
„Der protestantische Pfarrer ist eine merkwürdige Zwitterfigur. Der Ausbildung und der Amtstracht nach tritt er auf als Gelehrter. Durch die Art seiner Dienstleistungen gehört er in die Reihe der Priester. In seinem theologischen Selbstverständnis möchte er am liebsten als Prophet agieren. Und die meiste Zeit verbringt er womöglich damit, die Rollen des kirchlichen Verwaltungsbeamten und des gemeindlichen Freizeitanimateurs zu spielen."

Mit diesen Worten beginnt ein Buch zur Rolle des Pfarrers, liebe Gemeinde. Sein Titel lautet: Der Pfarrer ist anders. Es ist schon vor 20 Jahren erschienen. Aber der Pfarrer ist noch immer anders. Er oder längst auch sie ist bestenfalls in noch größerem Maße anders geworden. Auch der Pfarrer, um dessen Wahl es heute geht, ist noch einmal anders als die Pfarrerin, der er nachfolgen soll.

Eine Pfarrwahl ist ganz zentrale Entscheidung im Leben einer Gemeinde. Denn sie entscheiden mit der Wahl eines Pfarrers oder einer Pfarrerin immer über mehr als nur eine Person. Immer ist zugleich auch eine Grundsatzentscheidung über die Zukunft einer Gemeinde im Spiel Was wollen wir beibehalten? In welche Richtung wollen wir uns neu aufmachen? Welche Aufgaben neu übernehmen? Und was stattdessen womöglich künftig sein lassen.

An solchen Punkte gerät man im Leben immer wieder. Wenn es heißt: Bilanz ziehen. Bewerten, was war. Nach vorne schauen! Dann wird man sich auch immer wieder entscheiden müssen. Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Oder ist ein Kurswechsel angesagt? Ökumenische Offenheit, Angebote im Bereich der persönlichen Spiritualität und diakonischer Einsatz waren in der Vergangenheit zentral für die Arbeit dieser Gemeinde. Daran wird sich so vieles womöglich gar nicht ändern. Auch wenn der eine Pfarrer immer anders ist als die andere

Aber nicht nur der Pfarrer oder die Pfarrerin ist anderes. Anders sind wir alle. Sie und ich. Anders aufgrund unserer biologischen Mitgift. Anders aufgrund unserer Lebensgeschichten. Anders auch aufgrund unser tragen Überzeugungen. Anders bezüglich dessen, wo wir den sinnstiftenden Grund unseres Lebens ansiedeln.

Wir sind anders auch im Blick auf die Rolle, die die Religion in unserem Leben spielt. Und doch gibt es hier zwischen Pfarrerin und Pfarrer auf der einen und der bunten Fülle der Gemeindeglieder auf der anderen mehr Gemeinsamkeiten als wir vermuten. Pfarrer sind nicht per se frömmer. Und sie sind Gott auch nicht näher als andere Menschen. Sie unterscheiden sich eher dadurch, dass sie von anderweitiger beruflicher Verantwortung frei gestellt sind. Dass sie ihre ganze Arbeitskraft in die Verantwortung für eine Gemeinde investieren können. Sie unterscheiden sich auch, weil sie die schöne Aufgabe der Theologie zu ihrem Beruf haben machen können.

In aller Unterschiedlichkeit gemeinsam ist aber allen, ob Pfarrer, ob Handwerksmeister, ob Studienrat oder Freiberufler, die Aufgabe, von der Monatsspruch für diesen September 2003 spricht:

Was wir hörten und erfuhren,
was uns die Väter und Mütter erzählen,
das wollen wir unseren Kindern nicht verbergen.
(Psalm 78,3+4)


Um eine deutliche Willensbekundung handelt es sich. Und um eine programmatische dazu. Im Sinne einer Selbstverpflichtung wird ein Zusammenhang in Erinnerung gerufen. Der Zusammenhang zwischen denen, die vor uns waren und denen, die nach uns kommen. Wir selber stehen gewissermaßen auf der Brücke.

Die kleine Selbstverpflichtung tut der Tatsache, dass wir alle anders sind, keinen Abbruch. Aber sie befreit uns davon, mit unserem anders sein immer ganz von vorne beginnen zu müssen. Leben ist immer ein sich Ausstrecken nach dem, was bisher noch keinen Ort hat. Insofern ist Leben immer utopisch.

Zugleich heißt Leben aber immer auch sich nähren von dem, was wir anderen verdanken. Insofern ist Leben immer auch Anteil haben und Anteil geben am tragenden Grund unserer Traditionen.

Auf dem Feld der Religion ist dies geradezu die Grundbedingung. Religion wir nicht einfach nur gelehrt. Sie wird vor allem gelebt. Und dadurch immer auch vorgelebt.

„Ich habe euch weitergegeben, was ich selbst empfangen habe.“ Mit diesen Worten beginnt Paulus in seinem Brief nach Korinth die Überlieferung der Abendmahlstradition. Zu verdanken haben wir diese erzählende, diese narrative Grundstruktur auch des Christentum, unser älteren Schwester, dem Judentum. „Und wenn dich dann dein Sohn fragt: Was sind das alles für Geschichten, dann sollst du sie ihnen erzählen. Dann sollen deine Kinder hören, wie es war beim vom Auszug aus Ägypten. Beim Durchzug durch das Rote Meer und durch die Wüste. Bei der Ankunft im Land, wo wahrhaftig nicht nur Milch und Honig geflossen sind.“ Bei jedem Passahfestbeginn hören alle, die feiern, auf diese Sätze. Und dann auch auf die bewahrte und weitererzählte Erinnerung.“

Religionen – zumal die aus der jüdischen Wurzel – sind zuallererst nicht Glaubensgemeinschaften, sondern Erzählgemeinschaften. Und immer wieder erzählten sich die frommen Juden früher die Geschichte vom alten Großväterchen Elieser, der seit seines Lebens gelähmt war. Er war ein großer Erzähler vor dem Herrn. Und einmal, da kam er so sehr in Bewegung, dass er aufsprang mitten beim Erzählen, weil es ihn nicht mehr auf seiner Matte hielt. Und von dem Augenblick an war er von seiner Krankheit geheilt.

So Gott ins Gespräch bringen. So vom Glauben zu erzählen, dass es uns nicht mehr auf dem Stuhl hält, das ist uns allen aufgetragen. Da ist der Pfarrer nicht anders als du und ich. Und da geht die Brücke auch nicht nur vertikal aus der Vergangenheit in die Zukunft. Da wird sie in vielfacher Weise auch horizontal vom einen zur anderen geschlagen. Mit Gott rechnen, heißt mit Gott Brücken bauen. Heißt ins Erzählen kommen. Wie Jesus ins Erzählen kam mit seinen Gleichnissen und mit seinen Beispielgeschichten. Heißt nicht dem bloß Richtigen, sondern dem Wahren auf die Spur kommen.

Erzähler Gottes oder Erzählerin – das sind die Pfarrer vielleicht bestenfalls in vornehmer Weise. Und der eine anders als die andere. Erzählerin oder Erzähler der großen Taten Gottes – das ist also eine Aufgabe lebendiger Zeitgenossenschaft. Und gelebter Geschwisterlichkeit. Berichtet und gesungen, gespielt und getanzt – der möglichen Vielfalt der Form dieses Erzählens sind dabei kaum Grenzen gesetzt.

Hier sind sie alle nicht nur Hörende, sondern zugleich eben auch Singende und Erzählende. Und der neue Pfarrer ist hier - sofern er denn gewählt wird – nicht nur selber als Erzähler, sondern zugleich als Moderator und Gestalter gefordert.

Was wir hörten und erfuhren,
was uns die Väter und Mütter erzählten,
das wollen wir unseren Kindern nicht verbergen.


Dass wir’s auch unseren Kindern nicht verbergen – das ist dann aber trotzdem die größte Herausforderung vor der wir stehen. Wir bauen auf den Fundamenten – auch auf den religiösen – die uns unser Mütter und Väter, unsere Großmütter und Großväter – überliefert haben. Diese Fundamente müssen wir stärken und sie tragfähig halten. Auf keinen Fall dürfen wir sie aushöhlen. Damit auch die nach uns kommenden ihren Hunger nach dem stillen können, was sie im Leben wirklich satt macht.

Der Pfarrer ist anders, habe ich eingangs aus einem Buch zitiert. Wenn er uns anders als gewohnt und erwartet entgegentritt, weil er vor allem Erzähler sein will, dann sollen wir hören und reden und immer wieder neu das große Fest des Erzählens feiern. Weil es auch Gott nicht ausgehalten hat im großen Schweigen. Und wenn wir schweige – so sagt Jesus einmal- dann werden die Steine reden. Darauf sollten wir’s nun wirklich nicht ankommen lassen. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.