BESINNUNG AM BEGINN DER WEIHNACHTSFEIER
DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE FREIBURG
AM 14. DEZEMBER 2004 IN BUSSES WALDSCHÄNKE

14.12.2004
Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – haupt- oder ehrenamt-lich,

Zugegeben – wir eilen der Zeit wieder voraus heute Abend. Wir feiern Weihnachten eineinhalb Wochen vor Weihnachten. Und das, obwohl die Kirchen überall so sehr darauf drängen, den Ad-vent Advent sein zu lassen, damit Weihnachten wirklich Weih-nachten werden kann.

Ich schlage darum vor, dass wir uns erst einmal vor der weihnachtlichen Tür stehen bleiben und uns mit einem Blick durch das Schlüsselloch begnügen. Auch da werden wir schon genügend zu sehen bekommen. So wie Kinder, die am Heiligabend einen ersten weihnachtlichen Blick ins Wohnzimmer durch’s Schlüsselloch zu erhaschen suchen.

Vielleicht ist dieser Versuch, einen ersten Blick auf die weih-nachtliche Pracht zu erhaschen, die weihnachtlichste Geste über-haupt. Denn das, was wir da zu sehen bekommen, stellt die Erfahrungen des Alltags gehörig auf den Kopf.

· Ein grüner Baum, mitten im Zimmer, wo es draußen nur kahle Äste zu sehen gibt.

· Liebevoller Raumschmuck, wo sonst nur noch nach dem Praktischen und Nützlichen gefragt wird.

· Kerzenlicht, wo wir sonst oft nicht einmal mehr den Silber-streif am Horizont erkennen können.

· Kunstvoll verpackte Geschenke, wo ansonsten jede und jeder darauf schaut, dass er oder sie selber nicht zu kurz kommt.

Der Blick durch das weihnachtliche Schlüsselloch zeigt uns eine Welt, die so ganz anders aussieht als die vertraute. Scheinbar ver-traut ist uns auch die weihnachtliche Welt im Stall von Bethle-hem. Ochs und Esel, Maria mit dem Kind - und in der Ecke, beim Sägen von Holz oder beim Schreinern der Krippe irgendwo versteckt Josef – wenn er überhaupt ins Bild kommt.

Ich habe Ihnen eine kleine Karte ausgeteilt. Es ist eine frühmit-telalterliche Miniatur, die mir einmal ein Freund hat zukommen lassen. Sie ist auch als Blick durch’s Schlüsselloch gestaltet. Dass hier auch die weihnachtliche Welt auf den Kopf gestellt ist, erkennt man erst beim zweiten Blick.

Alle sind da zunächst zu erkennen, die wir brauchen, damit unser Bild von Weihnachten komplett ist. Und doch ist hier alles anders als sonst. Es ist Josef, der hier das Kind in seinen Armen hält. Doch Maria singt keineswegs „Josef, lieber Josef mein, hilf’ mir wiegen mein Kindelein“. Und Josef erscheint keineswegs als der unerfahrene Vater, der sich zur Abwechslung auch einmal fünf Minuten Zeit für sein Kind nimmt.

Nein, dieses Kind ist offensichtlich auf die gute Beziehung zu Josef angewiesen. Denn Maria liegt seelenruhig in ihrem Bett – und liest! Sicherlich kaum einen Ratgeber für stillende Mütter und auch nicht unbedingt einen Psalm.

Sie liest, wonach ihr im Moment gerade zumut ist. In einem Ge-dichtband vielleicht. Oder in einem Frauenbuch. Maria wirkt ganz entspannt. Schließlich kann sie ihr Kind bei Josef in guten Händen wissen. Das ist in Kurzform die vorweihnachtliche Er-fahrung der Maria, hineingedacht und hineingemalt in die konkrete Lebenswelt der heiligen Familie.

„Die Mächtigen stürzt er vom Thron und erhebt die Niedrigen.“ So hat Maria einst nach dem Besuch des Engels im berühmten Magnificat gesungen. Der unbekannte Künstler lässt dies dann auch im Stall zu ihrer Erfahrung werden.

Weihnachten macht den Rollenwechsel möglich. Auch bei Maria und Josef. Männliche Machermentalitäten verwandeln sich in Fürsorglichkeit. Mütterliche Häuslichkeit in Bildungshunger und – damit verbunden – in die Bereitschaft, die eigenen Gaben und Möglichkeiten in die Verantwortung für die Welt einzubringen – und das in einem Bild, das mehr als ein halbes Jahrtausend alt ist.

Wer weiß, ein Künstler oder eine Künstlerin unserer Tage hätte Maria vielleicht am Bildschirm sitzend und im Internet surfend darstellt.

So sehr wir das Vertraute lieben- meist ist es nicht so ideal, als dass es nicht doch einiges vom umstürzlerischen Geist der Maria und vom weihnachtlichen Mut zur Verwandlung gebrauchen könnte.

Ich lade Sie darum ein, an Weihnachten wieder einmal den Blick durch’s Schlüsselloch zu wagen: auf sich selber und auf das, was scheinbar so unverrückt feststeht. Vielleicht kann es dann noch einmal ganz anders - und viel heftiger – Weihnachten werden.

Ich wünsche Ihnen aber auch, dass Ihr Blick auch auf den fällt, dessen Geburt der Anfang einer Geschichte einer großen Geschichte der Neuwerdung war. Der, von dem wir hinter dem Schlüsselloch – wenn sich die Tür geöffnet hat – wie jedes Jahr wieder singen:

Heut schließt er wieder auf die Tür

zum schönen Paradeis.

Der Cherub steht nicht mehr dafür.

Gott sei Lob, Ehr und Preis.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.