PREDIGT ÜBER JOHANNES 16,4B-15
GEHALTEN AM SONNTAG, DEN 15. MAI 2005 (PFINGSTEN)
IN DER AUFERSTEHUNGSGEMEINDE FREIBURG
„PFINGSTEN – DAS LERNFEST DES BEFREITEN GLAUBENS"

15.05.2005
Berlin. 15. Mail 1945. An diesem Tag vermerkt die 1911 geborene Marta Mierendorff, die spätere Kunstsoziologin, in ihrem Tagebuch:

Nach sechs Jahren ist heute die Verdunklung aufgehoben worden. Es wird endlich Licht. Welche Freude, wenn es noch Schaufenster zu erleuchten gäbe. Aber es gibt nur noch Trümmerhaufen zu beleuchten. Doch man muss dankbar sein, dass die Wohnungen zum Teil wieder Elektrizität haben und aus den Fenstern abends Licht scheint. Es gibt bereits Kino.
Ich arbeite jetzt direkt im Krankenhaus. Ein Betrieb, der alle Kräfte erfordert. Wassermangel, Medikamentenmangel, überbelegte Räume, vor allem keine Antibiotika. Nicht genügend Ärzte. Seuchengefahr.
Ich habe ein kleines Radio. Jemand berichtete über Theresienstadt. Das Lager soll in gutem Zustand übernommen worden sein, nun aber sind Ruhr und Fleckfieber ausgebrochen. Vor Erregung streikt mein Magen. Die Menschen können noch nicht zurückkehren.-


15. Mai 1945. Eine Woche nach dem offiziellen Ende des Krieges. Damals ein Dienstag. Fünf Tage vor dem Pfingstfest. Auch an diesem Tag, der noch sehr gezeichnet ist von sechs vorausgegangenen Jahren Krieg, werden Kinder geboren. Unter nicht selten sehr schwierigen, ja abenteuerlichen, oft auch armseligen Bedingungen. In der Großstadt noch mehr als auf dem flachen Land. Kinder, die geboren werden - sie sind auch damals unübersehbar Boten der Hoffnung für eine bessere Zukunft. Boten dafür, dass es überhaupt wieder eine Zukunft gibt.

Menschen sind das – so alt wie das damals beginnende neue Zeitalter, das doch die Spuren seiner Herkunft nicht verleugnen konnte. Ein Zeitalter, dem man den Namen Nachkriegszeit beilegte, und das doch niemals ohne Kriege war. Nachkriegskinder. Aufgewachsen wie auch immer. Hoffnungsboten waren sie dennoch.

15. Mai 1945. Nicht in Berlin, sondern fernab in der norddeutschen Provinz – im südoldenburgischen Höltinghausen bei Cloppenburg - wird einer dieser Hoffnungsboten geboren. An jenem Dienstag eine Woche nach Kriegsende. Ihm gilt nicht nur mein Glückwunsch an diesem Pfingstsonntag. Und der Dank, der von Herzen kommt. Weil er die Aufgabe des Hoffnungsboten zu seiner Lebensaufgabe hat werden lassen. Mit unübersehbaren Lebens-Spuren auf seinem Weg, der ihn am Ende dann hierher nach Freiburg geführt hat. In diese Kirche. Geburtstag zu feiern am Geburtstag der Kirche. Was für ein Privileg! Herzlichen Glückwunsch und Gottes Segen auch von mir, lieber Rudolf Atsma.
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Pfingsten - 60 Jahre danach. Erinnerungen, die mit einem Mal wieder wach werden. Bilder, die plötzlich wieder lebendig sind. Die so deutlich vor Augen stehen, dass die Zeit dazwischen fast nicht mehr zu existieren scheint. Vergangenes wird wieder gegenwärtig. Präsent. Aber so, dass Belastendes in der zeitlichen Distanz erträglich wird. Und Schönes so lebendig, dass es gar zu beflügeln scheint.

Erinnerung, die viel mehr ist als abgespeicherte Information. Und aktivierendes Gedächtnis. Erinnerung, die lebt von der Kraft der Geistesgegenwart. Eben dies ist auch das Thema von Pfingsten.

Gut, dass wir heute dieses Fest feiern. Immer noch. Und immer wieder neu. Pfingsten – das Fest der Geistesgegenwart. Das Fest, bei dem wir immer wieder neu Lernbedarf haben, um Zugang zum Kern seiner Botschaft zu finden. Dabei war Pfingsten nie etwas anderes als ein Fest der ermöglichten Horizonterweiterung. Und der Grenzüberschreitung. Ein Fest also, das unseren Lernbedarf in den Kalender unserer Liturgien einträgt. Nicht nur in die der Kirche. Auch in die Liturgien des Lebens. Pfingsten - das Fest also des gefeierten Lernbedarfs. Das Fest, das unseren Geist öffnet, um dem Geist Gottes Raum zu geben.

Unser heutiger Zugang zu diesem Fest – und zu neuen Lernerfahrungen - sind Worte aus dem Johannesevangelium. Dort werden nach dem letzten gemeinsamen Zusammensein Jesu mit seinen Jüngeren sogenannte Abschiedsreden überliefert. Aus der dritten dieser Abschiedsreden stammt der heutige Predigttext. Wir hören aus Johannes 16 die Verse 4b bis 15:

Zu Anfang aber habe ich euch (erg.: von all dem) nichts gesagt, denn ich war bei euch. Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin?
Doch weil ich das zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht.
· Über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben.
· Über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht.
· Über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.
Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er wird's von dem Meinen nehmen und euch verkündigen.


Eine Abschied mit Perspektive, liebe Gemeinde. Mit pfingstlicher Perspektive. Und eine Rede, die mitten ins Zentrum zielt. An Pfingsten geht es nicht nur irgendwie um den Heiligen Geist. An Pfingsten geht es – natürlich! – um das Gottesthema. Und unter dieser Perspektive um den Heiligen Geist. Und um die Wahrheit.

Genauer gesagt, um zwei Seiten der einen Wahrheit. Einmal ins Negative, einmal ins Positive gewendet. Um Abschied geht es. Und um einen Neuanfang. Ums Loslassen und ums Wiederfinden. Um Trauer und um Freude. Und um eben diesen Geist der Gegenwart Gottes. Voller Namen. Namen, die ihm nur in diesen Abschiedsreden des johanneischen Christus zugeeignet werden. Tröster. Beistand. Anwalt. Und: Geist der Wahrheit.

Ausgangspunkt ist die Erfahrung der Trauer: Und die des Abschieds. Da haben die Freundinnen und Freude dieses Jesus aus Nazareth auf’s Ganze gesetzt. Und – wie es ihnen scheint – am Ende doch verloren. Trotz der umwerfenden Erfahrung des Ostermorgens. Aber Ostern war einmalig. Auf diesen einen bezogen. Und gerade darin eben singulär. Nicht eine Erfahrung auf Dauer. Und nicht für alle.

Himmelfahrt, das Fest, das wir vor zehn Tagen gefeiert haben – ist kein Fest eines mirakulösen Aufstiegs. Und der Aufnahme des einen in das himmlische Pantheon. Himmelfahrt markiert das Ende der Erscheinungen des Auferstandenen. Das Fest der Einsicht, dass auch diese Erfahrung nicht auf Dauer zu haben und auf Dauer zu stellen ist. In dieser Hinsicht ist auch Himmelfahrt ein Lernfest. Und schon ganz auf Pfingsten hin ausgerichtet.

Ostern bleibt singulär, wenn nicht Entscheidendes dazukommt. Wenn sich nicht jener Geist einstellt, von dem der Christus des Predigttextes sagt: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.

Um diesen Tröstergeist geht es an Pfingsten. Wobei ich allerdings sicher bin, dass der Predigttext den Gang der Ereignisse einfach umkehrt. Und geschrieben wurde in der ermutigenden Erfahrung, die der Christus des Predigttextes zu einer erst noch zukünftigen macht. In Gestalt der Zusage, dass seine Sache eben nicht am Ende ist. Und dass die Tränen des Karfreitags nicht das Ende der mit ihm in Gang gekommenen Hoffnungsgeschichte markieren. Weil sich jener Geist des Trostes und der Wahrheit eingestellt hat. Und den schmerzlichen Abschied, den entscheidenden Bruch, den alles entscheidenden qualitativ neuen Anfang in einem gänzlich neuen Licht erstahlen ließ.

Es ist gut, dass es diesen Abschied gab. Weil nur er den Neuanfang ermöglicht hat. Durch die Gegenwart dieses Geistes, der aus Gott kommt und in dem Gott selber präsent ist. Gerade deshalb ist dieser tröstliche Geist mehr als alles andere ein Geist der Wahrheit. Ein aufdeckender und offenlegender Geist. Doch nicht schonungslos offen, sondern einer, der die Wahrheit, auch die schmerzliche, bergend und behutsam, Orientierung gebend und zurechtbringend eröffnet. Der Wahrheit über die Sünde. Über die Gerechtigkeit. Und über das Gericht.

Diese drei Felder der Wahrheitssehnsucht, die der Predigttext nennt, finden ihren Widerhall in der Enttarnung dreier großer Legenden oder Mythen, die in unserer Gesellschaft gegenwärtig vor unser aller Augen am Zusammenbrechen sind. Und sie entsprechen drei großen Sehnsüchten nach der aufdeckenden Wahrheit, die wir den Menschen gegenwärtig abspüren können. Nach der Wahrheit über unsere Geschichte. Über unser Wirtschaftssystem. Und über unsere Zukunft. Nur wenige, exemplarische Beispiele:

Der Wahrheit über unsere Geschichte dienten drei Fernsehabende in der vergangenen Woche, jener Woche, die mit dem 60. Jahrestag des Kriegsende Am Beispiel der Aufarbeitung der Rolle Alberts Speers wurde an den Fernsehabenden Grundsätzliches enthüllt: wie nämlich aus der gelingenden Komplizenschaft von Tätern und Geschichtsschreibern die Wahrheit über ein verbrecherisches System und seine Protagonisten noch auf Jahrzehnte verdeckt und geschönt werden konnte.

Der Geist der Wahrheit macht uns Mut, die Wahrheit beim Namen zu nennen – ohne die eigene Verstrickung und die eigene Anfälligkeit für die Sünde zu bestreiten und zu leugnen.

Das Dickicht der Wahrheit über unser Wirtschaftssystem scheint schwieriger zu durchdringen: Und kein pfingstliches Thema, sondern eher eines für Experten. Doch gerade hier ist der Geist der Wahrheit besonders vonnöten. Zumal dann, wenn man mit belasteten und beliebten Reizworten operiert. Und sich an den Zahlen des Wachstums und nicht an denen der Gerechtigkeit orientiert. Und wir so geübt darin sind, zu verdrängen, dass nicht der Kurs des DAX den Gradmesser der Wahrheit abgibt, sondern der Konsens darüber, dass niemand höher im Kurs zu stehen hat als der Mensch, aus dessen Gesicht uns die Züge seiner Gottesebenbildlichkeit entgegenleuchten.

Der Geist der Wahrheit macht uns Mut, die Wahrheit beim Namen zu nennen – ohne die eigene Verstrickung und die eigene Anfälligkeit für die Sünde zu bestreiten und zu leugnen.

Bleibt die Wahrheit über die Zukunft. Jene Wahrheit, die hin- und her schwingt zwischen dem grenzenlosen Optimismus des Immer-weiter-so und dem resignierenden „Es hat alles ja doch keinen Sinn“. Zwischen Berlin und Cannes, zwischen der die Vergangenheit in Erinnerung haltenden Holocaustgedenkstätte und dem Glimmer der Filmsterne und - sternchen. Zwischen Brüssel und Rom, zwischen den politischen Wirren um die neue europäische Verfassung und der medial ermöglichten weltweiten Konzelebration auf dem von festlichen Zeichen und aussagekräftigen Ritualen reichen Weg vom alten zum neuen Pontifikat; Zwischen irdischem Erleben und in den Himmel geworfenen Sehnsüchten – zwischen diesen Polen hin und her gerissen finden wir Menschen uns wieder.

Der Geist der Wahrheit macht uns Mut, auch hier die Wahrheit beim Namen zu nennen – ohne die eigene Verstrickung und die eigene Anfälligkeit für die Sünde zu bestreiten und zu leugnen. Ohne gleich besserwisserisch an dem herumzumäkeln, was Menschen mit den Gaben ihres Verstandes und der Lust zur Unterhaltung ersinnen und wodurch sie von den großen Lasten und Belastungen ihres Lebens wohltuenden Abstand gewinnen. Aber ohne darauf zu verzichten, die Zukunftsfrage mit der Gottesfrage zu verbinden.

Es lohnt sich, noch einmal auf die Worte des Predigttextes zu hören: Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden.

Solche Wahrheit ist unverzichtbar. Und viel mehr noch: Diese Wahrheit lässt uns leben. Denn der Geist dieser Wahrheit ist einer, der in Gott selber seinen Ausgang nimmt. Ein Geist, der nicht eigene Interessen verfolgt. Es ist der Geist der unaufhörlichen und zugleich unerhörten Präsenz Gottes. Der Geist, der das Singuläre von Ostern für uns alle Wirklichkeit werden lässt. Es ist der Geist dessen, der will „dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ (1Tim 2,4) Ein Geist, auf dessen Wirken zu verzichten wir uns nun wirklich nicht leisten können.

Daran will uns Pfingsten erinnern. Es macht keinen Sinn, wenn wir uns vor diesem Geist in Sicherheit bringen wollten. Oder wenn wir unseren Gottesglauben zu leben versuchten, ohne daran festzuhalten, dass es die Wirklichkeit Gottes selber ist, die sich einmischt in die todbringenden Spiele und Ränke dieser Welt.

Viel mitreißender und hinreißender noch müssten wir Pfingsten feiern. Das Fest des Weges nicht der rechten Lehre, sondern des rechten Lebens. Das Fest, in dem Gott selber uns herausreißt aus den vertrauten Gleisen und uns von unseren Grenzen befreit. Pfingsten - das Lernfest des befreiten Glaubens. Höchste Zeit für Pfingsten. Höchste Zeit für den Geist, der aus Gott kommt. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.