PREDIGT ÜBER JOHANNES 7,37-39
GEHALTEN AM SONNTAG, DEN 8. MAI 2005 (EXAUDI)
IN DER LUDWIGSKIRCHE IN FREIBURG
„STUNDE NULL"

07.05.2005
Wir können heute nicht Gottesdienst feiern, liebe Gemeinde, ohne auf das Datum dieses Tages Bezug zu nehmen. Heute ist der 8. Mai. Am 8. Mai 1945, also vor genau 60 Jahren, unterzeichnete die Führung der deutschen Wehrmacht um 23.15 Uhr westeuropäischer Zeit im Speisesaal des Offizierscasinos in Berlin-Karlshorst die Kapitulationsurkunde.

Eine Stunde Null, wie man es so oft hören kann, war dieser 8. Mai 1945 aber gewiss nicht. Niemand konnte damals wirklich bei Null anfangen. Alles hatte Grund und Ursache. Und bei der Aufgabe, die Zukunft zu gestalten, verzichtete man viel zu selten darauf, sich immer wieder neu der Kräfte der Vergangenheit zu bedienen. Viel zu viel Altes wurde hinübergerettet. Über Vieles wurde viel zu lange geschwiegen. Opfer wurden oft viel zu lang nicht Opfer genannt. Und Täter verschont.

Eine Stunde Null ist eine Möglichkeit nur für Gott. Uns Menschen steht sie darum bestenfalls auch nur als Gottesgabe zur Verfügung. Nicht als Folge unserer Schuld und unseres Versagens. Auch nicht als Ergebnis unseres Wirkens nach noch so klugen Strategien.

Der Predigttext dieses Sonntags Exaudi 2005 könnte hier hilfreich klärend und dadurch Orientierung gebend wirken. Im siebten Kapitel des Johannesevangeliums wird von einem Besuch Jesu auf dem Laubhüttenfest in Jerusalem berichtet. Über das Ende dieses Festes heißt es da:

Aber am letzten Tag des Festes, der der höchste war, trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir. Und es trinke, wer an mich glaubt - wie die Schrift sagt: Von seinem (Jesu) Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht.

Durst und Hunger gehörten gewiss auch zu den Begleiterscheinungen dieser letzten Kriegstage – Hunger und Durst im ursprünglichen Sinne der beiden Worte. Aber auch der Durst nach etwas noch ganz anderem. Durst nach Klarheit über das Schicksal vermisster Angehöriger. Durst nach dem Wiedersehen mit nahen Angehörigen und vielen lieben Menschen, die man aus den Augen verloren hatte. Durst nach einem neuen Anfang nach unendlich vielem Leid. Durst nach einer neuen Lebensperspektive. Durst danach, diese Stadt Freiburg nach ihrer Zerstörung wieder zu einem lebenswerten Ort zu machen.

In Freiburg war der Zweite Weltkrieg bereits 17 Tage vor dem 8. Mai zu Ende gegangen: am 21. April, dem Tag, an dem Französische Truppen in die Stadt einrückten. Dass dies ohne größere Feuergefechte vor sich ging, war nicht zuletzt dem mutigen Eingreifen einer katholischen Herdermer Bürgerin zu verdanken. zu verdanken. Philomene Steiger, die Inhaberin eines kleinen Textilgeschäftes, hatte General Bader zum Abzug der verbliebenen Truppen überredet. Die letzten Schusswechsel hatten am Morgen des 21. April ebenfalls in Herdern stattgefunden.

Welche Wörter beschreiben angemessen und zutreffend, was heute vor 60 Jahren vor sich ging? Die Reden an den Jahrestagen und die Titel einschlägiger Bücher geben beredt Zeugnis. Sie kennen die Namen dieses Tages alle: Kapitulation. Niederlage. Untergang. Eben auch Stunde Null. Und immer häufiger dann auch: Befreiung. Dies ist nicht nur eine Frage der Perspektive. Oder der historischen Bewertung aus der Distanz. Es ist für viele, auch für viele unter ihnen, genauso – oder noch mehr - eine Frage des persönlichen Erlebens gewesen.

Der Krieg war eben zunächst einfach nur verloren. Und diejenigen, für die er in besonderer Weise Befreiung war, insbesondere die Menschen in den Lagern – die hatten gar keine Kraft mehr, hier wirklich die Befreiung wahrzunehmen. Wo sie nicht einmal mehr genügend Kraft für das Überlegen hatten. Befreiung ist in vielen Fällen eine Bewertung aus späterer, reflektierender Sicht. Oder sogar erst eine sich erst viel später, jahrzehnte später, einstellende Erfahrung, in der dann immer auch noch ganz unterschiedliche Facetten anklingen.

Es ist sehr schwer, ja fast unmöglich, hier die zutreffende Beschreibung de Erfahrung des 8. Mai 1945 zu finden. Es gibt sie meist auch gar nicht in Reinkultur. Sondern immer nur in der Annäherung an die Wahrheit in der Breite der zur Verfügung stehenden Deutungsmuster und der je eigenen Bewertungsvoraussetzungen. Die fortschreitende zeitliche Distanz tut dabei ein Übriges, die Sichtweisen zu verändern. Bei den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Aber auch bei denen, die wie ich, nur zwar historischen Rückblick, aber kaum die persönliche Betroffenheit kennen.

In diese Gemengelage der Bewertung zwischen scherzhafter Erinnerung, Dankbarkeit und Hoffnung auf eine Zukunft, der Derartiges erspart bleibt, haben wir eben den Aufruf Jesu gehört: „Wer da dürstet, der komme zu mir. Und es trinke, wer an mich glaubt.“ Und erläuternd wird hinzugefügt: „Von seinem Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen“.

Lebendiges Wasser. Wasser des Lebens. Heilwasser im Sinne des Wortes werden hier angeboten. Und sie werden untrennbar verknüpft mit dem, der sich selber als Quelle solch heilender Ströme definiert.

Heil – freilich ganz anderer Art – versprachen auch die geistigen Wegbereiter jener zwölf Jahre so gänzlich unheilvollen Jahre, die am 8. Mai 1945 einen vorläufigen Schlusspunkt fanden. Und vor ihnen allen jener eine, dessen Name damals mit dem Wort Heil immer im Zusammenhang genannt wurde. Heilszusage gegen Heilszusage! Erbärmliches gegen grenzenlos Leben Eröffnendes. Vermischt. Verdunkelt. Verächtlich gemacht. Verraten.

Und tödlich für Millionen Menschen aus jenem Volk, dem der eine entstammt, von dessen lebendigem Heilwasser der Predigttext spricht.

Der „letzte Tag des Laubhüttenfestes, der der höchste war“ – er gehört eigentlich schon nicht mehr zum Laubhüttenfest, das sieben Tage lang andauert. Er gehört zum sogenannten „Fest des achten Tages“. An diesem Tag endet der Jahreszyklus der Lesungen aus den fünf Büchern der Thora. Also der alljährlichen Stunde Null im Festzyklus. Dem gefeierten Neubeginn beim Hören auf die Worte der Weisung Gottes.

Dieser Festtag hatte aber auch eine ganz lebenspraktische Dimension. Er war in einer von den Früchten des Landes abhängigen Region – zunächst - vor allem ein Tag der Bitte um Regen. Kein Wunder, dass in seiner Festtags-Liturgie von den „Quellen des Heils des Schöpfers“ gesprochen wird. Und von den „Brunnen des lebendigen Wassers.“

Jesus knüpft an diese Worte an. Schließlich sind sie denen, an die er sich wendet, sehr wohl vertraut. Ströme des lebendigen Wassers. Nicht nur zu Nutzen der Natur. Sondern zum Heil der Menschen. Leben jenseits dessen, was uns jeden Tag auf’s neue in Beschlag nimmt. Und immer wieder neu unseren ganzen Einsatz verlangt.

Genau dies ist die eigentliche, die tiefere Botschaft dieses Festes des achten Tages – so habe ich es bei einem Rabbiner erklärt gefunden. An sechs Tagen hat Gott die Welt geschaffen. Am siebten ruhte er von seinen Werken. Der achte Tag verweist darum über die Schöpfung hinaus auf die erneuerte Welt Gottes, auf den gänzlich anderen Neubeginn. Auf jene Welt, in der der Segen Gottes nicht nur in Gestalt des Regens über die Natur kommt, sondern in Gestalt des lebendigmachendes Wassers, das aus Gott herausfließt. Über alle und alles kommt und die Welt erneuert.

Jesus knüpft an diese Tradition an. Nicht indem er sich abgrenzt vom Glauben der Menschen um ihn herum. Sondern indem er ihn zuspitzt. Die Wegbereiter der Katastrophe, deren Ende der 8. Mai 1945 markiert, haben die Quellen, aus denen Jesus hier selber schöpft, zum Verdunsten bringen wollen und ihnen auf entsetzliche Weise den Garaus zu machen versucht.

Im Lichte des heutigen Predigttextes wird das Infame und Absurde dieses Irrweges offenbar. Wer die Ströme des lebendigen und heilmachenden Wassers da sucht, wo Gott nicht selber die Quelle ist, wird nur auf Bitterwasser stoßen. Und die, die man davon zu trinken verlockt, vergiften.

So markiert dieses Fest des achten Tages wirklich so etwas wie eine Stunde Null. Einen Neuanfang nicht aus uns selbst heraus. Sondern aus der Quelle des Lebendigen selber. Der Jesus, so wie ihn uns das Johannes-Evangelium vor Augen stellt, bringt diese Quelle in einem ungeheurem Anspruch mit seiner eigenen Person in Verbindung. Markiert sich selber als der Ort, an dem die Menschen unmittelbar und unüberbietbar mit dieser Quelle in Verbindung kommen können.

Und der Predigttext fügt hinzu: Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glauben.

Der Geist wird so zum Platzhalter der Gegenwart Gottes unter uns. Und zum Garanten dafür, dass die lebendigen Wasser aus Gott uns bleibend zur Verfügung stehen. Unser Glaube gründet im Anspruch dieses Jesus, selber Quelle dieses Wassers zu sein. Aber er bietet uns im Geist der bleibenden Gegenwart Gottes die Gewähr, dass dieses Quelle nicht versiegt. Und die Stunde Null als gelebte Offenheit für diesen Geist und als befreiendes Ergriffensein von diesem Geist für uns eine Lebensmöglichkeit bleibt.

Nach den Unsäglichkeiten jener zwölf Jahre, an deren Ende wir heute denken, haben wir lernen müssen, Gott ganz neu zu denken und ganz neu von Gott zu reden. Nicht ohne Grund gab es die Rede von der Theologie nach dem Tode Gottes. Und die Notwendigkeit, von einer Theologie nach Auschwitz zu sprechen. Wo wir Menschen dem Geist Gottes kein Raum mehr gewährt haben, da muss der Gottesglaube verdorren. Da verliert die Rede von Gottes Gegenwart ihr Recht. Da wird die Anrede Gottes ihres Sinnes entleert. Da wird der Gott, der Mensch wurde wie wir, selber zum Opfer. Da verliert der Mensch sein Maß und seine Menschlichkeit. Da wird ihm die Würde der Gottesebenbildlichkeit entzogen.

Am nächsten Sonntag feiern wir das Pfingstfest. Das Fest der Geistgabe Gottes und darum das Fest seiner bleibenden Gegenwart. Das Fest, das den bleibend ins Recht setzt, der uns diesen Geist der Lebendigkeit, der aus Gott kommt, zugesagt hat. Pfingsten ist darum im eigentlichen Sinn das Fest der Stunde Null. Das Fest eines wirklichen Neuanfangs. Das Fest, das Feindschaft in bleibende Freundschaft verwandelt.

In dem Pfingstlied, das wir jetzt gleich singen werden, heißt es:

Damit aus Fremden Freunde werden,

gibst du uns deinen Heilgen Geist,

der, trotz der vielen Völker Grenzen,

den Weg zur Einigkeit uns weist


Wahrhaft Neues aus der Kraft des Geistes Gottes. Und nicht der Fortsetzung des ewig Alten im neuen Gewand. Eine Stunde Null, die den Weg in die Zukunft weist. Das lasst uns feiern. Schon heute. Und überall, wo Gottes Geist zum Ziel kommt. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.