„GOTT LÄSST SICH KOMPROMITTIEREN“
PREDIGT ÜBER MATTHÄUS 10,34 – 39
GEHALTEN AM SONNTAG, DEN 16. OKTOBER 2005
(20.S.N.TR.)
IN DER MATTHIAS-CLAUDIUS-GEMEINDE
IN FREIBURG-GÜNTERSTAL

16.10.2005
Von Gott reden – geht das denn überhaupt noch, liebe Gemeinde?! Da entwickeln die Nachrichten apokalyptische Dimensionen. Und wir haben schon als Zuschauerinnen und Zuschauer Mühe, das alles zu verarbeiten. Ein Hurrikan nach dem anderen. Katrina. Rita. Stan – oder wie sie alle mit harmlosen Namen genannt werden. Und zurück bleiben unzählige Opfer und abertausende Menschen ohne ein Dach über dem Kopf. Ein schweres Erdbeben in Kaschmir, das die Mauern über ahnungslosen Menschen zusammenstürzen lässt. Eine Jahrhundertdürre in Brasilien, die wir hier erst gar nicht mehr wahrnehmen. Und die Meldungen von neuen Terroranschlägen im Irak signalisieren fast schon bittere Normalität.

Von Gott reden – geht das denn überhaupt noch?! Natürlich: Wir reden viel davon, was wir Menschen zu diesen Katastrophen womöglich alles beigetragen haben. Aber Gott ins Spiel zu bringen, darauf käme es doch an!

Predigerinnen und Prediger versuchen allsonntaglich, bei diesem Wagnis den Gang übers Wasser. Reden von Gott gerade im Angesicht dessen, was Menschen belastet. Und das ist allemal noch viel mehr als das, was an Naturgewalt und Kriegsgeschrei über uns hereinbricht. Sie reden von Gottes Allmacht und menschlichen Allmachtsphantasien. Sie reden von menschlicher Schuld und manchmal auch von Gottes Abwesenheit.

Wie heilsam sind da Worte, die einfach gut tun. Und wie mühsam lässt uns dann dieser heutige Predigttext hier Gottes Gute Nachricht buchstabieren. Schon der erste Satz reißt uns aus allen Illusionen. Da heißt es also im 10. Kapitel des Matthäus-Evangeliums ab dem 34. Vers:


Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.

„Die größte intellektuelle Leistung, zu der vernunftbegabte Menschen gegenwärtig in der Lage sind, ist der Kompromiss“. So hat einer der großen Denker des vergangenen Jahrhunderts formuliert. In diesen Tagen nach der Bundestagswahl und vor der Aufnahme der Koalitionsverhandlungen ist Zeit und Gelegenheit, diesen Satz öffentlichkeitswirksam auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, liebe Gemeinde. Dann anders als in Gestalt des Kompromisses kann es keine Schritte nach vorne geben, wo man zuvor mit der Unvereinbarkeit von Personen und Positionen auf Stimmenfang gegangen war.

Im Lexikon lesen wir zur Erklärung dieses Begriffes folgendes: Ein Kompromiss ist die Lösung eines Streites durch Verzicht beider Seiten auf einige der gestellten Forderungen. Wir allen kennen Kompromisse aus eigener Erfahrung. Es gibt ein ganzes Spektrum von Varianten. Den mühsam errungenen und ernstgemeinten ebenso wie den faulen, der das Papier nicht wert ist, auf dem er festgehalten wird und der darum schon den nächsten Konflikt nicht übersteht.

Ein wirklich Kompromiss ist etwas anderes als ein resigniertes „Dann macht halt, was ihr wollt!“ Er ist etwas aktiv Erarbeitetes. Eine Lösung, in der beide Seiten Wesentliches der eigenen Position wiederfinden. In der wir auf anderes aber doch auch verzichten. Ein Kompromiss ist eine Lösung in Mischform. Und er ist zugleich die Basis dafür, dass es weitergeht.

Der Predigtext macht dem Kompromiss den Garaus. Keine Grautöne, angesiedelt irgendwo zwischen schwarz und weiß. Mit erbarmungsloser Kälte formuliert er klare Alternativen. Weist mit sezierender Schärfe auf Scheidungen hin. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Und: „Ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien ... und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.“

Auch wenn die erste Aussage nicht das Schwert meint, mit dem die Christenheit die Erde viel zu lange überzogen hat, sondern jenes Schwert, dass es als ein passives zu erleiden gilt; und auch wenn die zweite Aussage, die von der Entzweiung, eigentlich ein Zitat aus dem Buch des Propheten Micha ist: Keine Spur mehr vom sanften und in ganz anderer Weise radikalen Bergprediger, der die doch Friedensstifter seliggepriesen hatte. Keine Nähe mehr zum Prediger der Feindesliebe und zum großen Boten der umfassenden, siebzig mal sieben mal zu vollziehenden Versöhnung. Stattdessen: Klare Trennungslinien. Und klare Zukunftsansagen: Schwert und schmerzliche Trennung. Kein Kompromiss in Sicht. Kein „bisschen Frieden“. Kein „sowohl-als auch“. Keine „win-win“-Lösung.

Jesus legt die Wahrheit über die Konsequenzen seiner Botschaft kompromisslos offen. Und ein Familiemensch war der Jesus, den uns die Evangelien vor Augen stellen, wahrhaftig nicht. Wann immer wir etwas über seine Mutter lesen oder über seine Geschwister bleibt da ein überraschender und nicht wegzudiskutierender, spürbarer Vorbehalt. „Frau, was geht’s dich an, was ich tue!“ Mit diesen Worten geht Jesus seine Mutter an – damals, bei der Hochzeit zu Kana, als der Wein ausgegangen war. „Wer ist meine Mutter? Und wer sind meine Brüder?“ – so fragt er ein anderes Mal, als man ihn über die Ankunft seiner Familie informiert.

Wo es um die Wahrheit geht, scheint für das Modell des Kompromisses wenig Raum. Ich habe dennoch meine liebe Mühe mit Menschen, die so kompromisslos daherkommen. Die ihre eigene Position als unumstößliche Wahrheit unter die Leute zu bringen suchen. Die jeden Gesprächsbeitrag eröffnen mit der Bemerkung, dass sie dieses und jenes doch schon immer gesagt haben.

Merkwürdig, dass ausgerechnet Jesus dieses Spiel mitspielt. Es ist – unübersehbar - der Jesus mit dem Anspruch des „Ich-aber-sage-euch“ aus der Bergpredigt. Es ist der Jesus, dessen Botschaft und dessen Ergehen tatsächlich mit dem Anspruch verbunden sind, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Aber warum so kompromisslos? Warum mit so wenig Raum dafür, auch unsere je eigene Lebensgestaltung darin zu bergen?!

Die Antwort kann nur lauten: Weil dieser Jesus mit dem Christus Gottes als dem Inhalt des Bekenntnisses der ersten Christinnen und Christen in eins zu setzen ist. Der, den sie mit der Wahrheit, die in Gott ist, identifizieren. Und es ist gerade ein Kennzeichen Gottes, dass das, was wir mit Gott in Verbindung bringen, auf Gott bezogen gewissermaßen in Reinkultur vorhanden ist. Unvermischt. Sich uns aber oft nur verhüllt unter der paradoxen Wirklichkeit des Gegenteils zu erkennen gibt.

Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Leidenschaft und Schöpfungszugewandtheit. Unbedingte Lebenslust und unbegrenzte Liebe. All dies sind Annäherungen an die Wirklichkeit Gottes. In der sozial wirksamen Realität unseres je eigenen Lebens bleibt oft aber nur das pure Gegenteil. „Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.“

Verlieren und finden. Frieden und Schwert. Familie und Entzweiung. Weniger lieben und mehr. Das sind die Stichworte, die der Wanderprediger Jesus im Predigttext wählt. Bei Gott sein Leben gewinnen, kann heißen, seine Annehmlichkeiten, ja seine Lebensmöglichkeiten überhaupt zu verlieren. Gottes Schalom, den ganzheitlichen Gottes Frieden zu gewinnen, bringt einem womöglich in die Gefahrenzone der geschärften Schwerter der unterschiedlichster Art.

Jesus selber hat dies so gelebt. Und die, die ihn begleitet haben, mit ihm. „Die Füchse haben Gruben und die Vögel haben Nester“, sagt er selber einmal. „Doch der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“. In der Geschichte der Ausbreitung des Christentums hat der Entschluss, sich taufen zu lassen, oft genug die Abspaltung von der Familie nach sich gezogen. Der Glaube hat eben immer auch eine soziale Dimension. In der Zugehörigkeit zur großen Familie Gottes ebenso wie im möglichen Verlust der Akzeptanz durch die eigenen Familie.

Doch dies ist nur ein Aspekt der Botschaft. Aber nicht der Kern. Der Kern ist die Verhüllung der Botschaft der Menschenfreundlichkeit Gottes unter der Paradoxie des Gegenteils. Auf den Punkt gebracht im Glauben, dass wir in dem, der Mensch blieb durch alle Unmenschlichkeit hindurch, Gottes Gegenwart selber entdecken und eben dies bekennen: Vere Deus. Vere homo. Wahrer Gott und wahrer Mensch. Beides ganz. Doch keines ohne das andere.

Die Menschenfreundlichkeit Gottes – auf den Punkt gebracht im Bekenntnis, dass der, dem seine Art, die Gegenwart Gottes in seinem Leben präsent zu machen, den Tod gebracht hat, für uns der Zugang zu einem Leben wird, das Bestand hat über alle unsere Grenzen hinaus. Hinabgestiegen in das Reich des Todes – am dritten Tage auferstanden von den Toten.

Die Menschenfreundlichkeit Gottes – auf den Punkt gebracht in der Erfahrung, dass wir alles verlieren können – unser Leistungsvermögen und unseren Ehrenplatz an den gesellschaftlichen Wertschätzungsritualen – und doch unseres bleibenden Werts bei Gott sicher sein können: So halten wir dafür, dass der Mensch gerecht werde nicht durch des Gesetzes Werke, sondern allein aus Glauben.

Gottes Wirklichkeit verbirgt sich. Im Extremfall sogar unter der Paradoxie des Gegenteils. Aber nicht nur. Und nicht darauf festgelegt. Gottes Gegenwart drängt kompromisslos ins Leben. Aber sie lässt sich zugleich kompromittieren bis ins Gegenteil. Und uns zugut. Gott bleibt Gott in der Fülle dessen, was Gott Gott sein lässt. Aber er kommt in einem Menschen zur Anschauung. Nicht „ein wenig Gott“. Und „ein wenig Mensch“. Sondern beides zugleich. Und eben beides ganz.

Der Mensch bleibt als Teil der Schöpfung verfangen in deren Bedürftigkeit und Anfälligkeit. Aber er hat zugleich Teil an Gottes neuer Schöpfung, die nicht in unserer Begrenztheit, sondern in Gottes Fülle ihren Quellgrund hat. Simul peccator. Und simul Iustus. Leben in der Gottferne und Leben in der Freude, die aus der Gottesnähe entspringt. So knapp lässt sich die Paradoxie unserer Existenz zusammenfassend beschreiben.

Gott lässt sich kompromittieren. Damit wir nicht auf Dauer kompromittiert zurückbleiben. Damit wir uns unserer Würde besinnen und sie ins Leben ziehen. Und damit wir in Entsprechung und in Unterschiedenheit auch in Zukunft von Gott reden.

Von Gott reden – geht das denn überhaupt noch? So habe ich eingangs gefragt. Wovon wollen wir denn sonst überhaupt noch reden? Vom Menschen, der sich ohne Gott immer nur selber begegnen kann? Von Gott in Reinkultur, der ohne seine Menschwerdung in der Abgeschiedenheit des Himmels verein samt und kommunikationslos fröstelt.

Dann reden wir doch lieber von Gott, der uns die Gefahr des Schwertes nicht erspart. Aber der in sich selber vielfältig und lebendig ist. Und uns in seine Vielfalt und Lebendigkeit mit einbezieht, Der uns die Möglichkeit offen lässt, dass wir zu unserer eigenen wahren Menschwerdung finden können. In der Bezugnahme und der Entsprechung gegenüber seiner so ganz anderen Wirklichkeit.

Die gottmenschliche Paradoxie ist gewissermaßen der nackte Aspekt der Wahrheit. Der Wahrheit in ihrer kompromisslosen Form. Verhüllt – und damit erträglich gemacht - wird diese Wahrheit durch die Liebe. Der Liebe, die so weit geht, dass Gott sich durch sie sogar kompromittieren lässt. Sich schonungslos unserer Wirklichkeit aussetzt, die ihm auch den Tod nicht erspart. Und am Ende nichts anderes zum Aufscheinen bringt, als wahres und grenzenloses Leben in seiner nur in Gott möglichen Fülle.

Dass Gott sich kompromittieren, sich schuldlos der eigenen Begrenzung anheim fallen lässt - durch seine Liebe, die er in Gänze und in Fülle ist – eben dies macht Gottes Gegenwart für uns erträglich. Und unsere eigene Gegenwart auch. Vor allem dann, wenn des Menschen Hausgenossen seine eigenen Feinde sind.

Denn nicht Spaltung und Entzweiung sind die großen Themen Gottes, sondern Einheit und Versöhnung. Wo wir das Geschenk der Einheit finden, mögen wir anderes verlieren. Aber wir haben dann das Leben gefunden. Reden nicht weiter einfach nur von Gott, sondern bekennen und feiern seine Gegenwart.

Und der Friede Gottes, der unsere Vernunft übersteigt und uns mit der Gabe des Kompromisses befähigt, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.