WELCHE GOTTESDIENSTE BRAUCHEN WIR HEUTE?
WAS EINEN GOTTESDIENST ZU EINEM BESONDEREN GOTTESDIENST MACHT
Vortrag vor der Bezirkssynode Schopfheim
Am 25. Juni 2005 in Maulburg

24.06.2005
Liebe Schwestern und Brüder der Bezirkssynode!

Endlich wieder ein Thema, das in die Mitte unserer Existenz als Kirche führt! Endlich wieder vom Wesentlichen reden! So ging es mir spontan durch den Kopf, als mich meine Kollegin Gerhild Widdess gefragt hat, ob ich heute bei ihrer Synode in das Thema Gottesdienst einführen kann.

Wir alle sind derzeit ja alle in unterschiedlicher Weise von Reformüberlegungen und von Strukturprozessen in Beschlag genommen. Und so mühsam das oft ist: Natürlich geht es auch da um Zentrales für die Kirche – auch wenn wir das oft übersehen. Strukturen und Satzungen sind Ausdruck der in Paragraphen gegossenen Liebe zur Kirche. Wenn wir dieses Gespräche unter diesem Vorzeichen führen, werden wir auch erhebliche Gewinn davon haben. Dennoch: Wenn wir vom Gottesdienst reden – wenn wir Gottesdienst feiern – sind wir im Zentrum. Aber womöglich müssen wir dieses Zentrum immer wieder an den Rändern der Kirche und der Kirchlichkeit suchen. Aber davon später.

Als Arbeitsthema hat sie mir ihre Dekanin gleich auch noch eine Leitfrage mit auf den Weg gegeben: „Welche Gottesdienste brauchen wir heute?“ Diese Frage schien mir so schlüssig und des Nachdenkens wert, dass ich diese Arbeitsformulierung dann als Themenformulierung einfach beibehalten habe. Ich habe ihr aber dann noch einen Untertitel zur Präzisierung mit auf den Weg gegeben, der aufnimmt, was man hier auch mit den Augen wahrnehmen kann, nämlich die Vielfalt der Gottesdienste in ihrem Bezirk. Darum lautet mein Thema: Welche Gottesdienste brauchen wir heute? Was einen Gottesdienst zu einem besonderen Gottesdienst macht.

Ich will so vorgehen, dass ich vier Vorbemerkungen zur Sache mache. Danach will ich zwei Fragen nachgehen und mit einigen Schlussbemerkung dann zum Ende kommen:

1. Was ist eigentlich ein Gottesdienst?

2. Was macht einen Gottesdienst zu einem besonderen Gottesdienst?

Ich habe zugesagt, dass ich nicht länger als eine halbe Stunde benötigen werde, damit auch noch Raum für eine Aussprache und Gespräche bleibt – und natürlich für das gottesdienstliche Feiern!

A Vorbemerkungen

Zu den Vorbemerkungen: Sie sind mir wichtig, nicht weil Redner das immer gerne tun – nein, weil sie einfach angebracht und nötig sind.

1. – und gleich als wichtigste Vorbemerkung: In der Regel lädt man einen Referenten oder eine Referentin ein, weil man dem Glauben – oder bisweilen dem Irrglauben erlegen ist – dass er oder sie mehr von einem Thema versteht als andere. Dies trifft für diesen Abend nicht zu. Denn wir sind alle Expertinnen und Experten in Sachen Gottesdienst! Als solche, die regelmäßig Gottesdienste gestalten. Und als solche, die regelmäßig Gottesdienst feiern. Dies stellt alles, was ich sage, unter den Vorbehalt, dass jede und jeder von ihnen einen eigenen Vortrag zu diesem Thema im Herzen trägt.

2. Eine aktuelle Untersuchung unter Pfarrerinnen und Pfarrern hatte sich zum Ziel gesetzt, „Lust und Frust“ im Pfarrberuf zu erheben. Gefragt wurde u.a. nach Arbeitsfeldern, die belasten, und nach Arbeitsfeldern, die positiv erlebt werden. Viele Bereiche zwischen Verwaltung und Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen wie mit Ehrenamtlichen tauchten in positiver und in negativer Bewertung auf. Das Feld „Gottesdienst“ wurde von 93,6 Prozent der Pfarrerinnen und Pfarrer als positiv beschrieben. Und nur von 6,4 Prozent als belastend. Ich finde, das ist ein sehr schönes Ergebnis, das uns Mut macht und das zeigt, dass sie mit ihrem Thema ausdrücklich richtig liegen.

3. Alles, was wir suchen, - auch gottesdienstlich suchen – gibt es bereits. Nicht alles auf einmal und nicht alles an einem Ort. Ob das aber überhaupt sein muss, müsste im weiteren Verlauf des Abends erst noch geklärt werden. Insofern möchte ich heute Abend nichts Neues präsentieren, sondern eher ihr auf den Gottesdienst bezogenes Seh- und Entdeckungsvermögen stärken.

4. Die vierte Vorbemerkung ist ein Zitat, das mich, seit ich es zum ersten Mal las (Zeitzeichen 12/2003, S. 42ff), immer wieder beschäftigt. Es ist der Anfang des Aufsatzes eines Theologen, der lange in Südafrika gelebt und gelehrt hat: Klaus Nürnberger. Er beschreibt mit den Augen des von außen Kommenden eine deutsche Erfahrung, die er allerdings nicht in Maulburg, sondern in Berlin gemacht hat. Er schreibt:

Pfingsten 2002. Ich bin zufällig in Berlin. Die Kirchen feiern in ökumenischer Eintracht den Tag der offenen Tür. Drei Bischöfe – katholisch, evangelisch, orthodox – veranstalten eine gemeinsame Feier. Man sagt, sie habe etwa fünfhundert Menschen angezogen. In einer Lokalgemeinde finde ich einige Getreue, die bis Mitternacht einigen anderen Getreuen Getränke, heiße Würste und Orgelmusik bieten. Nicht einmal der Pfarrer ist gekommen!

Am gleichen Tag findet der Karneval der Kulturen statt. Mehrere Kilometer lang zieht der Zug von geschmückten Wagen, Trachtengruppen und Kapellen durch die Innenstadt. Es ist regnerisch und kalt. Dennoch sind rund eine halbe Million Menschen auf den Straßen – nicht zweimal oder zehnmal, sondern tausendmal mehr als bei der kirchlichen Veranstaltung. Weitere Millionen kleben an den Bildschirmen. Wo immer die Fernsehkameras einblenden, sieht man lachende, tanzende, jubelnde Menschen, als seien sie „voll des süßen Weins“. Das Pfingstwunder ... vollzieht sich vor unseren Augen. Aber nicht in der Kirche!


Was macht die mit den Händen zu greifende unterschiedliche Attraktivität aus? Vorschnelle Antworten und Erklärungen helfen hier nicht weiter. Dieser Anfrage müssen wir uns ehrlich und offensiv stellen. Die radikale Frage ist hier weit wichtiger als die beschwichtigende Antwort.

B Was ist eigentlich ein Gottesdienst?

Um einen Weg zur Beantwortung diese Frage zu finden, möchte ich nun nach dem Wesen eines Gottesdienstes fragen. Was ist eigentlich ein Gottesdienst? Was macht denn einen Gottesdienst aus? Diese Frage ist weit weniger eine mit einer selbstverständlichen Antwort als es zunächst den Anschein haben mag.

Vier Zugänge zu einer Antwort möchte ich nachfolgend unterscheiden:

(a) Zunächst die naheliegende Antwort der Theologie im engeren Sinn, die beim Begriff einsetzt: Gottesdienst. Dies bedeutet, ja nachdem wir wie den Genitiv verstehen: Gott dient uns. Oder: Wir dienen Gott. Beides ist sicher richtig. Und beides gehört untrennbar zusammen. Martin Luther beschreibt diesen Zusammenhang etwa in seiner Predigt anlässlich der Einweihung der Einweihung der Schlosskirche zu Torgau am 5. Oktober 1544: In einem Gottesdienst geschieht nichts anderes,

„denn dass unser Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“

Wer von uns möchte hier anstehen und sich dazu verleiten lassen. diese Aussage bestreiten! Und dennoch spüren wir, dass das, was Martin Luther hier richtig formuliert, unsere Suche nach einem angemessenen und zeitgemäßen gottesdienstlichen Feiern nicht befriedigt. Es ist gewissermaßen das Fundament. Aber es ist noch nicht der Bau selber. Machen wir uns also weiter auf die Suche.

(b) Wir könnten versuchen, das Wesen des den Gottesdienstes historisch zu ergründen, indem wir die Geschichte des Gottesdienstes nachzeichnen: angefangen bei den Schilderungen der Gottesdienste der ersten Christinnen und Christen im 1. Korintherbrief, über die Gottesdienstordnungen, die wir bei den Kirchenvätern finden, hin zum ausformulierten liturgischen Verlauf des Messformulars, um dann die Korrekturen und Überarbeitungen der Reformatoren in den Blick zu nehmen.

Am Ende wären wir bei den aktuellen Gottesdienstbüchern, den unterschiedlichen Agenden, würden einen Blick auf die Lima-Liturgie werden, und auf die Stundengebete oder die Ordnungen einer Taizé-Andacht im Evangelischen Gesangbuch. Wir hätten unbestritten viel gelernt. Wir wüssten etwas über die Grundstruktur des Gottesdienstes, über die Zuordnung von Predigt und Glaubensbekenntnis, von Taufe und Eucharistie, von Fürbitte und Segen. Womöglich wüssten wir dann auch, woher die bisweilen so fremd anmutenden liturgischen Formulieren stammen. Aber wüssten wir dann wirklich, was ein Gottesdienst ist?

(c) Ich will noch einen dritten Zugang nennen, den sie hoffentlich mit mir zu gehen wagen, ein Zugang, der bei dem ansetzt, was uns tagtäglich begegnet: in den Medien, im Theater, im alltäglichen Leben. Konkret will ich ganz einfach beschreiben, wie sich ein Gottesdienst zu anderen Angeboten verhält. Dabei gehe ich davon aus, dass jede Vorbereitung eines Gottesdienstes Anteile einer „Inszenierung“ hat – wenn sie mir diesen Begriff als Arbeitsbegriff erst einmal nachsehen. Gottesdienste werden ja nicht einfach von Evangelischen Oberkirchenrat am Samstagvormittag per Fax oder email an alle Pfarrämter versandt. Sie sind vielmehr von den für den Gottesdienst Verantwortlichen unter gewissen Regeln und Vorgaben selbstständig zu gestalten.

Vier Grundformen moderner Veranstaltungstypen ziehe ich heran und versuche, sie mit dem gottesdienstlichen Geschehen in Beziehung zu setzen. Es handelt sich um die Grundform des Rituals – und damit um den Bereich des Alltags unserer Lebensgestaltung, um die Grundform der Show – und damit um den Bereich Fernsehen, um die Grundform des Dramas – und damit um den Bereich des Theaters – und um die Grundform des Happenings - und damit um den Bereich der modernen Großveranstaltung.

In dieses magische Viereck lassen sich - so meine ich – die meisten gegenwärtigen Gottesdienstformen einordnen; nicht in dem Sinn, dass sie sich in lupenreiner Form wiederfinden, sondern so, dass sie ein Feld, ein „magisches Viereck“ beschreiben, in dem sich die Gottesdienste gewissermaßen hin und her schieben lassen und sich in je unterschiedlichen Anteilen bedienen. Wir werden nachher im Gespräch überprüfen können, ob dieses Modell der Gottesdienstbeschreibung hilfreich sein kann.

Handout Materialblatt 1: Das „magische Viereck“ der Gottesdienstformen

(d) Ich will noch einen vierten Zugang einer Antwort wagen, was denn ein Gottesdienst sei, ein Zugang, der zu den drei anderen gar nicht im Widerspruch steht, eine Sichtweise ermöglicht, die die anderen Formen gewissermaßen in sich integrieren kann. Dieses Modell der Deutung dessen, was wir mit Gottesdienst meinen, gründet auf einer Aussage des Apostels Paulus in Römer 12. Gleich im ersten Vers heißt es da:

Ich ermahne euch nun, liebe Brüder – und ich füge die Schwestern gleich mit an – durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.

Sie alle kennen diesen Satz des Paulus, haben ihn aber vielleicht noch nie auf das Thema Gottesdienst angewendet. Die nächstliegende Möglichkeit des Verstehens liegt sicherlich darin, das ganze Leben als Gottesdienst im uneigentlichen Sinn zu verstehen, als Raum, Gott mit seinem Leben, seinem Verhalten und seinem Tun zu dienen. Das ist nicht falsch. Und es stellt unser Leben gewissermaßen unter das Vorzeichen, dass es – wie es in der 2. These der Barmer Theologischer Erklärung aus dem Jahre 1934 heißt - dass es keine Bereiche unseres Lebens gibt, „in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären.“

Man könnte aber die Blickrichtung auch einfach umdrehen. Der liturgisch gefeierte Gottesdienst wäre dann eine Form der Verdichtung unserer Lebensvollzüge, unseres, wie es Paulus sagt, vernünftigen Gottesdienstes. Die gottesdienstliche Feier unterbricht dann gewissermaßen unseren normalen Alltags-Gottesdienst, bringt unser Leben auf den Punkt, lenkt den Blick auf das, was uns und was in unserem Leben heilig ist und stellt es gewissermaßen in absoluter und radikaler Zuspitzung in die Perspektive Gottes. In einem Überschuss gegenüber unserem Lebensalltag müssen wir aber nicht im Unvollkommenen, Fragmenthaften, in der Zerbrechlichkeit verharren. In der Bedürftigkeit nach dem Wort des Zuspruchs und der Zuwendung durch das diakonische Handeln findet der Gottesdienst seinen Höhepunkt darin, dass er uns eine Perspektive bietet – die Perspektive, unser Leben nicht von seiner Ansicht bei uns und unseren Mitmenschen zu bewerten, sondern von seiner Aussicht bei Gott.

Wenn man die Liturgie unseres gewohnten badischen Hauptgottesdienstes betrachten, können wir feststellen, dass hinter jedem liturgischen Stücke eigentlich eine Leitfrage verborgen ist. Hinter dem Eingangs- oder Bußgebet die Frage: Woher komme ich und wie komme ich – da bin ich also eingeladen wahrnehmen, wie es wirklich um mich steht. Hinter dem Bekenntnis des Glaubens verbirgt sich die Frage: Worauf gründe ich mich? Hinter der Predigt genauso wie hinter der Feier des Abendmahls finden wir die Frage: Wovon nähre ich mich? Die Fürbitten antwortet im Grunde auf die Frage: Wen möchte ich ins Gebet nehmen? Der Segen antwortet auf die Frage: Was lässt mich hoffen und leben?

Der vernünftige Gottesdienst des Alltags wird so also für uns zu einer erträglichen Möglichkeit, weil wir in der unvernünftig über die Realität und die Grenzen des Möglichen hinausschauenden gottesdienstlichen Feier der Gemeinde die hilfreiche Wahrheit, die wohltuende Geschwisterlichkeit und die nötige Orientierung finden. Oder um es mit den Worten des Paulus aus Römer 12,2 zu sagen:

Stellt euch nicht dieser Welt geich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

C Was macht einen Gottesdienst zu einem besonderen Gottesdienst?

Die Theorie mag hilfreich und die Theologie gut sein. Dennoch beantwortet sich die Frage, warum wir mit unseren Gottesdiensten anscheinend zunehmend mehr Mühe und mehr Konkurrenz fürchten haben, nicht von selbst. Jetzt geht es gewissermaßen um die praktischen Konsequenzen der gewonnenen Einsichten. Immer wieder höre ich von Kolleginnen und Kollegen, der normale Gottesdienst locke immer weniger Menschen hervor. Man müsse immer etwas Besonderes bieten, um auf Resonanz zu stoßen und die Kirchen zu füllen. Zugleich wird dies als großer Druck erlebt, der zunehmend Mühe macht und Kräfte kostet. Schließlich soll dieses Besondere nicht einmal im Vierteljahr oder einmal im Monat geboten werden, sondern am liebsten jeden Sonntag.

Der besondere Gottesdienst als Schlüssel zu einer neuen Attraktivität des Gottesdienstes? Was macht denn einen Gottesdienst zu einem besonderen Gottesdienst? Ich will bei der Beantwortung dieser Frage einen äußeren und einen inneren Zugang wagen.

(a) Zunächst den äußeren, ihnen allen bestens vertrauten. Der Gottesdienst wird zum besonderen Gottesdienst durch die Abweichung von der Norm. Wir fügen etwas hinzu oder wir lassen etwas weg. Wenn wir etwa den Kyrie-Teil in der Eingangsliturgie besonders entfalten, entsteht eine Art Klagegottesdienst; eventuell auch ein Bußgottesdienst. Wenn wir den Akzent auf das Gotteslob setzen, kann ein Lobreisgottesdienst entstehen. Wir können an Stelle der Predigt Szenen spielen lassen oder eine Kantate zur Aufführung bringen. Wir können die Zahl der Mitwirkenden erhöhen, indem wir Gruppen oder Vereine miteinbeziehen. Oder indem wir den Gottesdienst mit einer Schwestergemeinde aus der bunten Fülle der Ökumene gemeinsam feiern. Wir können den Ort und die Tageszeit wechseln und einen Gottesdienst im Grünen oder einen Werktagsgottesdienst feiern. Wir können uns auf bestimmte Zielgruppen zwischen Jugendlichen und Urlaubern konzentrieren. Ich träume schon lange davon, an einem ungewöhnlichen Ort einen Gottesdienst für Randsiedler und Skeptiker und Atheisten anzubieten und mit gemeinsam mit ihnen zu feiern.

All das gibt es längst schon. Und vielfach, wenn auch längst nicht immer, mit sehr guten Erfahrungen. Längst haben sich neben dem gewohnten Gottesdienst andere Formen etabliert. Die Urmutter des besonderen Gottesdienstes waren über viele Jahre die sogenannten Familiengottesdienste. Aber längste haben sich weitere Formen etabliert und sind aus anderen Kirchen und Kontinenten in unsere Kirche eingewandert. Wir finden diese Formen, teilweise auch In sogenannten zweiten Gottesdienstprogrammen. Oder auch in wechselnden Alternativen. Mitmach-Gottesdienste, Themengottesdienste, Thomas-Messen. Frauen-Liturgien. Lobpreisgottesdienste. Oder einfach Gottesdienste in anderen Sprachen, vor allem in den großen Städten.

Die Vielfalt ist eine Gottesgabe. Sie erfreut diejenigen, die mit den anderen Formen ihre liebe Mühe haben. Nicht nur unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden. Sie fordert uns heraus. Und vielfach überfordert sie uns. Jeden Sonntag ist das nicht zu schaffen. Und schon gar nicht flächendeckend an jedem Ort.

(b) Ich will deshalb eine weitere These aufstellen, die alle, die für Gottesdienste verantwortlich sind, entlasten soll. Und verantwortlich sind ja nicht nur die Pfarrerinnen und Pfarrer. Verantwortlich sind auch die Ältestenkreise. Verantwortlich sind auch Synodale und im Grunde alle Gemeindeglieder.

Meine Entlastungs-These lautet: Jeder Gottesdienst, den wir feiern, ist ein besonderer Gottesdienst. Jeder Gottesdienst hat seinen je ganz besonderen Zeitpunkt und seinen besonderen Ort. Er hat sein besonderes Thema und seinen besonderen biblischen Bezug. Er hat seine besondere Gemeinde und seine je besonderen Erwartungen. Er ist geprägt von den besonderen Ereignissen der zurückliegenden Woche und der seelischen Verfasstheit von Pfarrerin oder Pfarrer und Gemeinde. Er hat seine besondere Musik und seine besonderen Lieder. Und er hat seine besondere Sehnsucht und Verheißung.

Wie gesagt: Jeder Gottesdienst ist ein besonderer Gottesdienst. Man dürfte das nur etwas öfter sagen – auch sich selber sagen - und es die Gemeinde spüren lassen.

Für mich ist die Frage der besonderen Form eine, die wir nur als Ergebnis der Entdeckung des Besonderen im Alltäglichen, im Vernünftigen, angemessen beantworten können. Der Gottesdienst ist ein besonderer Gottesdienst eben nicht in erster Linie durch die Form. Es ist es, indem er das Besondere immer wieder neu entdeckt. Indem er das Besondere zur Sprache bringt. Und indem er das Besondere feiert.

Das Besondere gibt sich dabei in verschiedener Weise zu erkennen: im besonderen Ort – egal ob in einer Kirche oder einem eigens dafür ausgewählten Ort. Dieser Ort wird gewissermaßen für die Dauer des Gottesdienstes aus den anderen Orten ausgegrenzt. Er wird besonders. Und er bedarf darum der besonderen Liebe.

Besonders ist jeweils auch die Gemeinde. Sie ist nie nur ein Querschnitt, sondern es ist die Versammlung derer, die sich zu diesem Gottesdienst haben einladen lassen. Dass sie sich in besonderer Weise eingeladen fühlen und dass sie dann auch besonders angesprochen werden, setzt eine sorgfältige Vorbereitung des Gottesdienstes voraus, die auch ihre ausgegrenzte, besondere Zeit benötigt. Und wie oben auch die besondere Zuwendung und Liebe. Womöglich müssen wir hier lernen, unseren Blick noch mehr an den Rand als in den sogenannten Kern der Gemeinde zu lenken. Im Weg an die Ränder der Gemeinde und der Gesellschaft kommen wir der Mitte womöglich oft sogar noch näher.

Besonders ist – vor allem anderen – das was wir tun und was wir geschehen lassen. Im Gottesdienst sind wir in besonderer Weise der Wirklichkeit Gottes ausgesetzt. Können wir Gott in unserer Mitte erfahren. Uns Gott heilsam aussetzen. In den Gebeten und in den biblischen Lesungen. Im Zuspruch und in der erfahrenen Gemeinschaft. Im Gottesdienst können wir uns stärken und beflügeln lassen, um Gott mit unserem Singen und mit unserem Gotteslob, vor allem aber am Ende auch jenseits dieses besonderen Gottesdienstes im vernünftigen Gottesdienst unseres Lebens zu entsprechen.

D Schlussbemerkung

Klaus Nürnberger schreibt im weiteren Verlauf seines eingangs schon einmal zitierten Aufsatzes:

„Wo immer Menschen bejaht, angenommen, ernstgenommen, in Dienst genommen, mit Aufgaben betreut, versöhnt , geborgen, in die Obhut genommen, getröstet, versorgt, genährt, geheilt werden, erfahren sie die Bestätigung ihres Seinsrechts. ... Verkündigung des Evangeliums und soziale Verantwortung sind nicht zwei verschiedene Aufgaben der Kirche, sondern Ausdruck der einen, heilschaffenden Bewegung Gottes auf eine erneuerte Wirklichkeit hin. ... Der Berliner Karneval der Kulturen bietet nicht nur Entspannung und Vergnügen an, sondern bestätig marginalisierten (= an den Rand abgedrängten) Menschen, dass sie sein dürfen, was sie sind, dass sie angenommen und ernstgenommen werden. Und zwar geschieht das als Fest. ... Die Kirche muss das wieder lernen. Dann wird sie nicht mehr über Relevanzverlust zu klagen haben.“

Der Gottesdienst ist also die Urform des vor Gott gestalteten und gefeierten Lebens. Er lässt und in den vielen Zu-Fällen des Lebens die guten Gaben Gottes entdecken und das Leben als besonderen Glücksfall unseres je eigenen Lebens schätzen. Damit wird er zugleich zu einem seelsorgerlichen und diakonischen Akt Gottes an Leib und Seele. Und das weit über die Grenzen der Kirche hinaus an der Welt selber.

Jeder Gottesdienst ist ein darum besonderer Gottesdienst und ein die Grenzen des Lebens sprengendes Fest der Befreiung. Gerade davon sollen wir auch in der Öffentlichkeit unüberhörbar sprechen. Gerades dieses ausgegrenzte Besondere sollen wir in unseren Gottesdiensten für die Öffentlichkeit – für das, was die Bibel gerne die Welt nennt - unübersehbar und unüberhörbar zur Sprache bringen – und feiern! Und eilen dabei im Glauben den Belastungen der Gegenwart in Vorwegnahme der uns von Gott verheißenen Zukunft schon weit voraus.

Kaum eine andere Liedstrophe bringt diesen Zusammenhang zwischen Gottesdienst und Leben schöner und stimmiger zum Ausdruck als der bekannten Zukunftshymne von Klaus Peter Hertzsch:

Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt!
Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land.
Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit.
Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.


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handout 2 Materialblatt 2: Gottesdienst als Urlaub für die Seele

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.