IEBE MACHT SEHEND
PREDIGT ÜBER JOHANNES 20,11-18
GEHALTEN IM GOTTESDIENST ZUM 30JÄHRIGEN JUBILÄUM
DER TELEFONSSEELSORGE FREIBURG
AM FREITAG, DEN 10. MÄRZ 2006
IN DER MARIA MAGDALENA KIRCHE IN FREIBURG-RIESELFELD

10.03.2006
Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
liebe Freundinnen und Freunde der Telefonseelsorge!

Das Jahr 2006 ist ein Jahr voller Jubiläen. Die Telefonseelsorge Freiburg feiert in diesem Jahr ihren 30. Geburtstag. Ein anderer, einer der freilich nicht mehr so quicklebendig ist wie die Telefonseelsorge, wäre in diesem Jahr sogar 250 Jahre alt geworden. Wolfgang Amadeus Mozart. Einer der ganz großen Theologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – sie dürfen mich nachher gerne fragen, wen ich meine – formulierte im Blick auf Mozart in einem Fernsehinterview: „Mozart ist mir vorbildlich als ein Mensch, der hören konnte – er hat stets etwas gehört, und dann hat er das in Musik umgesetzt. Ich habe im letzten Winter, als ich krank war, Goethe gelesen. Viele, viele Bände Goethe. Und dann habe ich mir den Unterschied klar gemacht zwischen einem Menschen, der hauptsächlich sieht – und das ist der Goethe. Der Mozart war ein Mensch, der gehört hat. Und ich halte es mehr mit solchen, die hören, als mit solchen, die sehen. Und darum war mir der Mozart vorbildlich.“

Auch im Evangelium für diesen Gottesdienst geht es um das Hören und um das Sehen. Wobei die Vorbereitungsgruppe am Ende allem Anschein nach das Sehen noch mehr fasziniert als das Hören. Denn sie hat ihre Gedankensammlung zum Text aus Johannes 20 unter die Überschrift gestellt: Liebe macht sehend! Die Wahl gerade dieses eben gehörten Textes aus dem Johannes-Evangelium als Grundlage der Predigt in diesem Jubiläums-Gottesdienst ist dabei durchaus bemerkenswert. Nicht weil es hier um Maria Magdalena geht. Diese Wahl legt sich schließlich nahe in einer Kirche, die ihren Namen trägt.

Nein, die Text- und Themenwahl ist aus zwei Gründen zunächst durchaus überraschend und sperrig. Zum einen, weil es sich um eine Ostergeschichte handelt – und dies gerade zehn Tage nach Beginn der Passions- und Fastenzeit, wo normalerweise ganz andere biblische Texte im Mittelpunkt unseres Nachdenkens stehen. Der eben gehörte Text aus Johannes 20 greift also dem Kirchenjahr gehörig voraus. Und darin liegt womöglich gerade der Reiz.

Zum anderen ist es noch bemerkenswerter, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Telefonseelsorge über das Sehen Gedanken machen – wo doch das Telefon als ihr ureigenstes und charakteristisches Medium gerade dies nicht ermöglicht. Hören ja! Natürlich! Aber Sehen?! Doch auch diese zweite Beobachtung lässt sich am Ende fruchtbar in unsere Bemühungen um das rechte Verstehen dieser Geschichte mit Maria Magdalena und dem Auferstandenen einbringen.

Liebe macht sehend! Der Volksmund weiß ja zunächst ganz anderes zu berichten. Nämlich: Liebe macht blind! Wer liebt oder besser, wer verliebt ist, verliert – das ist doch die Erfahrung - den Blick für die Realitäten. Schwebt auf Wolken. Sieht durch rosarote Brillen. Und hat Mühe, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Liebe macht blind. Für die anderen ist es bisweilen unerträglich. Für die Verliebten selber aber die schönste aller Erfahrungen. Und hoffentlich eine, die wenig Menschen auf’s Ganze ihres Lebens gesehen, wirklich missen müssen.

Macht Liebe also nun sehend, wie es der Themenvorschlag nahe legt? Oder macht sie blind, wie es die Erfahrung lehrt? Und weiter gefragt: Wie kann man lieben, wen man am Telefon gar nicht sieht? Wie können sie wissen, ob der oder die am anderen Ende einer Telefonverbindung wirklich zum Sehen – oder zumindest zu einer neuen Blickrichtung findet?

Richten wir unsere Fragen also an das Oster-Evangelium, das wir eben gehört haben. Maria Magdalena wird uns hier vorgestellt als eine Lernende. Sie wird beschrieben als eine Frau, die in die große Krise ihres Lebens gerät. Der der tragende Grund unter den Füßen wegbricht. Der, der der Inhalt ihres Lebens war, ist tot. Unwiderruflich. So wie der Tod eben die große nicht wiedergutzumachende Erfahrung. Weil er sich jeder Schattierung entzieht. Ein bisschen tot geht nicht. Tot ist tot.

Maria reagiert, wie Menschen in einer solchen Situation immer wieder reagieren. Sie will es jetzt genau wissen. Sie geht an den Ort, der ihr Gewissheit verschaffen kann, dass alles nicht nur ein böser Traum ist. Sie geht zum Grab. Und sie weint. Draußen vor dem Grab. In der Erstarrung der Trauer und der Verzweiflung.

Gut, dass ihre Kraft ausreicht, einen Blick in das Grab zu werfen. Sich der Unbegreiflichkeit und der Unanschaulichkeit ihrer Situation auszusetzen. Sie wagt den Blick in das Herz des Grauens. Doch im Auge des Orkans ist es ganz ruhig. Dort angekommen, wird sie nicht umhergewirbelt. Vielmehr empfängt sie eine Botschaft. Das Evangelium berichtet von zwei Engeln. Maria wird angesprochen: „Frau, warum weinst du?“

Diese Frage bleibt nicht ohne Wirkung. Wie Fragen, wenn sie gut gestellt sind, selten ohne Wirkung bleiben. Weil sich etwas lösen kann. Weil das eigene Schweigen seinen Schrecken verliert. Und womöglich sogar gebrochen wird. Die schlichte Frage: „Frau, warum weinst du?“ – sie bewirkt das kleine Wunder des Alltäglichen.

Als Angesprochene kann Maria selber wieder sprechen. „Sprechen hilft ... meistens.“ Das steht auf dem Titelblatt des letzten Jahresberichts der Telefonseelsorge. Sprechen hilft. Und Maria spricht. Sie beschreibt, worin die große Krise ihres Lebens ihren Ursprung hat. „Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Man hat mir das Zentrum meines Lebens gestohlen. Mir ist das Ziel meiner Liebe abhanden gekommen. Ich bin jetzt eine Suchende.“ Es ist erstaunlich, wie schnell Maria lernt. Sie lernt, von dem zu sprechen, was ihr eben noch die Sprache verschlagen hat.

Und sie schickt sich an, das Grab zu verlassen. Sie wendet sich wieder dem Leben zu. Sie kann reden. Aber sie kann noch nicht sehen. Ihre Liebe zu dem Verstorbenen macht sie noch blind. Und sie erkennt den nicht, den sie doch eigentlich sucht.

Dass Maria ihn für den Gärtner hält, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Es ist eine der schönsten Belege feiner biblischer Ironie. Dann wiederholt sich die Szene. Wieder die Frage: „Frau, warum weinst du?“ Und wieder das Eingeständnis, jetzt eine Irrende und Suchende zu sein. „Wenn du weißt, wo er liegt, dann lass mich bitte nicht im Unklaren. Wenn du weißt, wo die Lösung meines Problems liegt, dann enthalte sie mir doch bitte nicht vor!“

Die Antwort ist kurz, aber umwerfend anders als von Maria erwartet. Es ist keine Ortsangabe, die folgt. Keine Erläuterung. Kein wie auch immer geartetes Programm. Sondern die Aktualisierung und Vitalisierung einer Beziehung. Ein Wort nur: Maria! Ein Wort nur: Ihr Name! Maria! Bis tief in ihr Innerstes wird sie getroffen. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen!“ Die alte Erfahrung aus dem Buch des Zweiten Jesaja – sie war damals schon ein halbes Jahrtausend alt. Und sie bewirkt Wunder – große Wunder! - bis heute.

Ich werde mit Namen gerufen. Werde auf meine Identität hin angesprochen. Schade, wenn Namen heute viel zu oft nur noch modischer Zierrat sind. Und nicht mehr ein Lebenszuspruch. Ein Lebensprogramm. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe als Jugendlicher recht lange mit meinem Vornamen gehadert. Und am Ende ist er für mich auf Umwegen zum Lebensprogramm geworden.

Im modernen Dienstleistungsgewerbe hat man die Bedeutung des Namens längst erkannt. Kaum hat man irgendwo seinen Namen genannt, wird man schon mit Namen angesprochen. Um eine Kundenbeziehung herzustellen. Um erfolgreich ein Geschäft zu machen. Wer mich mit Namen ruft, hat oft schon halb gewonnen.

Maria – dieses eine Wort genügt, um das große Wunder Wirklichkeit werden zu lassen. Um aus der aus trauernder Liebe Blinden eine aus Liebe Sehende zu machen. Liebe macht also nur am Anfang blind. Am Ende öffnet sie uns die Augen. Und den Mund.

Auch Maria antwortet nur mit einem einzigen Wort. „Mein Meister!“ Alles wird wieder gut. Alles ist wieder so wie früher. Die alte Beziehung scheint auf’s Neue wiederhergestellt. Doch der Wiederentdecke legt Widerspruch ein. Maria kann wieder sehen. Aber der Perspektivenwechsel bleibt ihr nicht erspart. Die Sichtwiese ist eine andere, neue geworden. Auch die Liebe kann das Rad des Lebens nicht zurückdrehen. Marias Liebe nicht. Und auch nicht die Liebe dessen, der mit einem einzigen Wort ihre Augen öffnet.

„Rühr mich nicht an. Denn ich bin noch nicht aufgefahren!“ Im Grunde ein Widerspruch: Nur weil er noch nicht aufgefahren ist, könnte sie ihn doch überhaupt nur berühren. Aber der, der sie anspricht, ist nicht einfach nur mehr der, um den sie getrauert hat. Die erfolgreiche Trauerarbeit hat ihr Leben von Grund auf verändert. Und lässt sie auch auf einen Veränderten stoßen. Das Leben des Auferstandenen ist Leben in einer ganz anderen, ganz neuen Qualität. Leben, in dem die Unverbrüchlichkeit Gottes ans Licht kommt. Leben, dessen wir nicht habhaft werden, aber an dem wir Anteil bekommen können.

Worte können das Schweigen brechen. Und sie können die Augen öffnen. Durch die Blindheit der Liebenden hindurch können sie zu neuem Sehen verhelfen. Worte zugleich, die von außen an unser Ohr dringen. Ja, die von außen kommen müssen. Weil wir sie uns niemals selber sagen können. In der Ostergeschichte sind es die Worte dessen, der seinen Ursprung in der Quelle des Lebens selber hat. Und der der Präzedenzfall dieses so ganz anderen, ganz neuen Lebens ist, das in Gott selber gründet.

Unsere Worte können zum Gleichnis dieser Lebensworte aus Gott selber werden. Und gerade darum eben auch zu Worten, die das Schweigen brechen. Und die Augen öffnen. Auf ihre Arbeit in der Telefonseelsorge gemünzt: Bei dieser wichtigen Arbeit geht es im Grunde um ein zutiefst österliches Geschehen. Weil sie der heilenden Kraft des ansprechenden Wortes vertrauen. Weil sie helfen, den Perspektivenwechsel zu ermöglichen und das neu zu sehen, was das eigene Leben unansehnlich macht. Weil auf diese Weise von Neuem Leben überhaupt erst ermöglicht wird. Zunächst mit den kleinen Wundern des Alltäglichen. Aber noch lange ehe Gott uns bei unserem Namen ruft, können wir uns hier beim Namen rufen lassen. Und derart der Gegenwart Gottes Raum geben.

Maria kehrt darum auch nicht einfach in ihr altes Leben zurück. In ihre alten Lebenszusammenhänge sehr wohl. Aber als eine andere. Eine von Grund aus Veränderte. Als Mensch mit einem neuen Lebensthema. „Geh hin und erzähle es den deinen!“ Als Hörende, die aus Liebe mit ihrem Namen gerufen wurde – und die so zum Sehen kam. Und die als eine, die das Sehen gelernt hat, nun auch wieder selber zum Reden und zum Hören kommt. „Geh hin und erzähle es den deinen!“

Nur wer sehen kann, kann auch recht hören. Damit lässt sich nicht nur der scheinbare Widerspruch zwischen Goethe und Mozart auf seine rechte Dimension zurückführen. Weil’s nämlich immer auf beides ankommt. Auf’s Sehen und auf’s Hören. Und am Ende natürlich auch auf’s Reden. „Ich habe das Leben und den Lebendigen selber gesehen.“ Das lasst uns hören. Davon lasst uns reden. Und uns immer wieder neu die Augen öffnen lassen! Aus Liebe. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.