ERINNERUNGSARBEIT TUT NOT
PREDIGT ÜBER JESAJA 5,1-7
GEHALTEN AM SONNTAG, DEN 12. MÄRZ 2006 (REMINISCERE)
IN DER LUDWIGSKIRCHE IN FREIBURG

12.03.2006
Vergebliche Liebesmüh! Alles umsonst! Alles Vertrauen in den Sand gesetzt! Für alle Zeiten aus und vorbei!

Alles Leben – sofern es den Namen Leben zu Recht verdient – alles Leben ist Liebesmüh. Leben heißt, sich in Liebe zuwenden – den Menschen, mit denen man lebt. In der kleinen Welt, in der wir uns eingerichtet haben. Und in der großen, als deren Teil wir uns begreifen. Leben heißt nicht selten, sich in Liebe verzehren. Heißt zugleich aber auch, sich von den Früchten der Liebe nähren.

Doch wenn die Liebe keine Früchte trägt. Wenn sie nicht fruchtet. Furchtbar kann sein, was dann geschieht. Vergebliche Liebe lässt erkalten. Oder schlägt um in Gleichgültigkeit. Nicht selten sogar in Hass. Vergebliche Liebesmüh – sie kann furchtbar enden.

So furchtbar, wie in dem alten Lied aus dem achten Jahrhundert vor Christus. Jenem Lied, über das am heutigen Sonntag Reminiscere gepredigt werden soll. Es ist Jesaja, der große Prophet, der seinen Freudinnen und Freunden dieses Lied zu Gehör bringt: das Lied von der nichts fruchtenden Liebe:

Auf fruchtbarem Hügel da liegt mein Stück Land,
dort hackt ich den Boden mit eigener Hand,
ich mühte mich ab und las Felsbrocken auf,
baute Mauern um den Weinberg, setzte Reben darauf.
Und süße Trauben erhofft ich zu Recht,
doch was dann im Herbst wuchs war sauer und schlecht.

Jerusalems Bürger, ihr Leute von Juda,
was sagt ihr zum Weinberg, was tätet denn ihr da?
Die Trauben sind sauer – entscheidet doch ihr:
War die Pflege zu schlecht? Liegt die Schuld denn bei mir?

Ich sage euch, Leute, das tue ich jetzt:
Weg reiß ich die Mauer, als Schutz einst gesetzt;
zum Weiden soll’n Schafe und Rinder hinein,
ich sag euch, die Mauer, die reiße ich ein!
Schlecht lohnte mein Weinberg mir Arbeit und Schweiß,
den Menschen am Weg geb’ ich ihn preis.
Ich will nicht mehr hacken, das Unkraut soll sprießen!
Der Himmel soll ihm den Regen verschließen!


Die Erfahrung, dass eine Anpflanzung nicht den Ertrag bringt, den sich der Eigentümer erwünscht hat – sie war alltäglich in der bäuerlichen Welt des Vorderen Orient. Blieb der Erfolg aus, versuchte man es von Neuem. Aber an einer anderen Stelle. Schließlich wird man aus Schaden klug. Und will die Erfahrung der vergeblichen Liebesmüh’ kein zweites Mal machen. Das war eine Binsenweisheit. Und nicht der Rede wert.

Auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer, denen Jesaja sein Lied vorsingt, war das nichts Neues. Zu alltäglich war die Erfahrung, die da besungen wurde. Eigentlich gar kein Grund, darüber überhaupt zum Singen zu kommen. Vergebliche Liebesmüh. Und die Notwendigkeit, von Neuem anzufangen. Nicht der Rede oder gar des Singens wert.

Jesaja wird geahnt haben, was da in den Köpfen der Menschen um ihn herum vorgeht. Darum hängt er dem Lied noch eine weitere Strophe an:

Der Weinberg des HERRN seid ihr Israeliten!
Sein Lieblingsgarten ist Jerusalem!
Statt Liebe und Treue täglich Unrecht aufs neue!


Mit einem Mal ist alles anders. Und die Zuhörerinnen und Zuhörer müssen sich überführt vorkommen. Jetzt wird die Lage plötzlich ernst. Das seichte Lied von der nichts fruchtenden Liebe – es wandelt sich zum Urteil. Zum vernichtenden Urteil. Der Weinberg Gottes – das seid ihr! Ihr seid diejenigen, die keine Früchte bringen! Eure Mauern sind es, die ich einzureißen gedenke. Ihr werdet zum Land, das andere abweiden und niedertreten.

Auch in der deutschen Übersetzung klingt noch das Wortspiel durch, mit dem die hebräische Vorlage ihr Urteil spricht:

Gott hoffte auf Rechtsspruch und erntete Rechtsbruch,
statt Gerechtigkeit nichts als Schlechtigkeit.


Vergebliche Liebesmüh! Jetzt ist es für einen Neuanfang zu spät! Unerträglich, was Jesaja seinen Zuhörerinnen und Zuhörern vorzuwerfen hat. Wir müssen den Predigttext nur weiterlesen:

„Weh denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken, bis kein Raum mehr da ist und sie allein das Land besitzen!

Weh denen, die sich vor den Karren des Unrechts spannen lassen.

Weh denen, die Böses gut und Gutes Böse nennen, die sich als Richter bestechen lassen; die die Kleinen hängen und die Großen laufen lassen.“


Vertraute Zustandsbeschreibungen aus einer längst vergangenen Welt. Uns gar nicht so fremde Einsichten in Zustände des 8. Jahrhundert vor Christus. Die Wirtschaft floriert. Der Aufschwung bringt Hoffnungen zum Blühen. Und fördert zugleich eine Entwicklung, die die Schere zwischen arm und reich, zwischen Recht und Unrecht immer weiter auseinanderdriften lässt. Doch wir lassen Wesentliches ungesagt, wenn wir uns mit vorschnellen Gleichsetzungen zufrieden geben.

Vergebliche Liebesmüh! Damals. Als für Israel und Juda der Untergang und die Vertreibung folgten. Und die Vermutung liegt nahe, Jesaja sei gar nicht der Autor dieses Lieds. Sondern Menschen, die zwei oder gar drei Jahrhunderte nach den großen Katastrophen des Untergangs und der Vertreibung - also im Nachhinein, an der Wende vom sechsten zum fünften Jahrhundert vor Christus! - immer noch um eine Erklärung ringen. Und die Jesaja dann diese Unterhangspoesie in den Mund legen. Weil sie sich sonst keinen anderen Reim auf den schrecklichen Gang der Geschichte machen können.

Und mit einem Male wird Gott zum Urheber böser Entwicklungen. Und diejenigen, die in seinem Namen reden sollen, zu Prophetinnen und Propheten des Untergangs. Vergebliche Liebesmüh. Im Blick auf Israel und Juda steht uns diese Feststellung ohnedies nicht zu. Und wir tun gut daran, verspätet nicht doch noch in die mögliche antijudaistische Falle dieses Liebesliedes zu tappen.

Wir haben genug eigene Erfahrungen mit der vergeblichen Liebesmüh. Im wahrsten Sinne des Wortes, wenn alle Liebe nicht fruchtet. In den Unterschiedlichsten Möglichkeiten von Beziehung, innerhalb derer wir unser Leben gestalten. In einer zerbrochenen Partnerschaft. In nicht überwindbarer Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kindern. In enttäuschter Freundschaft. In zerstobenen Hoffnungen auf die Überwindung schwerer Krankheit. Im vorenthaltenen beruflichen Erfolg.

Vergebliche Liebesmüh hoffentlich nicht in der großen Politik. Im Atomstreit mit dem Iran. Im Bemühen, Israelis und Palästinensern zu einer aussichtsreichen politischen Koexistenz zu verhelfen. Vergebliche Liebesmüh bei den Bemühungen, der langfristigen Gefährdung unseres Klima wirksam und mit Einsicht entgegenzutreten.

Vergebliche Liebesmüh oft auch als Kirche. Wenn wir uns - wie etwa durch die neueste Mitgliedschaftsstudie der EKD - sagen lassen müssen, dass komplette gesellschaftliche Milieus gar nicht mehr wahrnehmen, was wir als Kirche sagen. Für die die Kirche nur noch Produktionsstätte ewig gleicher Worthülsen ist, in denen es immer nur um die Nöte, das Scheitern und um die Kleinheit des Menschen gehe. Und die dagegen auf Leistung, Dynamik, Karriere und Markt setzen. Aller Einsatz der Kirche bleibt hier längst vergebliche Liebesmüh.

Werden schon bald auch uns im Nachhinein die Lieder gesungen, die mit der ernüchternden Schlussfolgerung enden: Der zertretene Weinberg Gottes, das seid ihr! Ist das dann das Ende vom Lied?

Wir hätten das Lied vom Weinberg gehörig missverstanden, wenn wir es nur als Ouvertüre zur Symphonie des großen Untergangs zu hören verständen. Ja, wir hätten Gott selber in seiner Vielstimmigkeit zum Verstummen gebracht, wenn wir nur noch das Thema von der Überführung der Täter und dem daraus zurecht folgenden Vernichtungsurteil aus seinen Liedern herauszuhören verständen.

Das Lied vom Weinberg ist ein Liebeslied. Und es setzt ein mit der großen Erinnerung an die Schönheit der ersten Liebe, die Gott seiner Schöpfung uns Menschen von allem Anfang an zuwendet. Was uns heute leben lässt, ist vor allem die Erinnerung daran, was Gott uns schon gestern - und vor all unserem Gelingen und Scheitern – an Zuwendung hat angedeihen lassen. Die Erinnerung an Gottes liebendes Werben geht allen denkbaren Varianten möglicher Untergangsszenarien voraus.

Die Erinnerung an dieses Werben Gottes soll uns darum auch nicht einfach nur unserer Nichtentsprechung überführen. Sie soll uns vielmehr zu einem Verhalten verlocken, dass diesem Werben erliegt: „Das tut zu meinem Gedächtnis!“ Davon lebt nicht nur das Abendmahl. Diese Aufforderung könnte unsere ganze Existenz als Christinnen und Christen in das Licht neuer Lebensmöglichkeiten rücken.

Sie kann uns aber auch helfen, mit den Erfahrungen der vergeblichen Liebesmüh fertig zu werden. Denn nicht dass sie vergeblich war, ist ihr besonderes Kennzeichen. Vielmehr gründet ihr besonderer Wert darin, dass es eben Liebesmüh war und bleibt. Weil schön wird, was wir lieben. Und weil durch Liebe ansehnlich bleibt, was ansonsten längst der Unansehnlichkeit anheim gefallen wäre. Selbst der ausbleibende Erfolg macht die eingebrachte Liebe nicht wertlos. Und die Erfahrung des Zornes Gottes ist ein Zeichen der Unverbrüchlichkeit seines bleibenden Interesses an uns Menschen. Und seiner nicht aus den Angeln zu hebenden Liebe.

Ein Freibrief ist das nicht. Und es wäre ein Armutszeugnis, wenn wir der Welt das aufdeckende und zugleich mahnende Wort schuldig blieben. Das Wort, das beim Namen nennt, was Menschen einander antun – und dabei nicht einmal davon absehen, göttliche Autorität in Anspruch zu nehmen.

Mehr noch als Worte kann heute eine beispielhafte Existenz zum prophetischen Zeichen werden. Zum Rechtsspruch im Angesicht von Rechtsbruch. Zum Zeichen für Gerechtigkeit im Angesicht aufflammender Schlechtigkeit. „Das tut zu meinem Gedächtnis!“ Erinnerungsarbeit tut not. Die Kraft der Erinnerung daran, dass Gott Rechtsbruch und Schlechtigkeit nicht will – diese Kraft kann auch vergebliche Liebe ins Recht setzen. Und sei’s sogar erst im Nachhinein.

Der Sonntag Reminiscere will uns zu einer derartigen Erinnerungsarbeit Mut machen. Mit seinem Namen, der an die Barmherzigkeit Gottes seit allem Anfang erinnert. Und mit dem Hinweis auf die Kirchenjahreszeit selber. Die Passionszeit ist die Zeit der Erinnerung an eine zunächst allem Anschein nach nichts fruchtenden Liebe. An eine Liebe, deren Folge ein schrecklicher Tod war. Und der dann am Ende dennoch das große fest des Protestes gegen alle totbringenden Mächte am Ostermorgen gefolgt ist.

Die vielen Weinberge Gottes bleiben nicht auf Dauer öd und brach. Nicht die Früchte des Zorns, sondern die der erfolgreichen Umkehr lässt Gott uns am Ende schmecken. Nur wenige Kapitel nach dem des heutigen Predigtextes finden wir schon bei Jesaja selber das neue Lied vom Weinberg, indem Gott selber zum Singen kommt:

Ich habe einen wundervollen Weinberg.

Singt alle, singt ein Lied zu seinem Ruhm.

Ich selber bin sein Wächter, ich der Herr.

Und alle Augenblicke tränke ich ihn.

Bei Tag und Nacht bewache ich ihn,

damit ihm nichts und niemand schaden kann.

Mein heißer Zorn auf ihn ist abgekühlt.

Und alle Feinde sollen mit mir Frieden schließen.


Gottes Zorn auf uns ist abgekühlt. Und seinen Weinberg gibt Gott nicht als Wüste frei. Davon sollen wir reden. Und davon sollen wir singen. Weil wir wissen, dass Gottes Weinberg Bestand hat, können wir Früchte bringen. „Das tut zu meinem Gedächtnis!“ Gottes Liebesmüh kann nicht vergeblich sein! Welche Hoffnung, wenn nicht diese, kann uns leben lassen? Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.