Wort in den Tag beim
5. Badischen Ökumenischen Forum der Dekade zur Überwindung von Gewalt am 25. November 2006 EFH Freiburg

25.11.2006
Liebe Freundinnen und Freunde der Gewaltfreiheit!

Auch ich möchte euch und sie an diesem Samstagmorgen hier in Freiburg herzlich begrüßen. begrüßen. Ein Wort in den Tag zu sagen ist mir aufgetragen. Und das, nachdem ein erstes Wort schon vorausging und noch viele folgen werden.

Um den Reiz der Gewaltfreiheit soll es heute gehen. Und das Ziel dieses Wortes in den Tag kann darum kein anderes sein, als sie zu reizen, sich auf diesen Tag einzulassen. Gewissermaßen einen Anreiz zu schaffen für die nachfolgenden beiden Referate von Frau Kirchhoff und Frau Bruckmeir und für die sechs Arbeitsgruppen am Nachmittag, alles sicher Reiz-volle Angebote.

Das Thema der "Reizes“ der Gewaltfreiheit bedient sich einer ungewöhnlichen Formulierung. Der Reiz der Gewaltfreiheit – was für ein Bild, was für ein Thema! Tun wir eigentlich gut daran, uns freiwillig reizen zu lassen? Zur Wut lässt man sich reizen. Zur Gewalt. Aber zur Gewaltlosigkeit? Ich weiß nicht so recht. Mit Menschen, die gereizt sind, ist eher schwierig umzugehen. Ihre Nerven, ihre Reizübertragungssysteme, liegen blank. Und sie sind den Reizen der Umwelt gegenüber wenig oder gar nicht geschützt. Und sie stehen darum in der Gefahr, auf die Überreizung zu reagieren – mit Genervtheit und Überreiztheit, jedoch meist kaum mit Gewaltlosigkeit

Der Reiz der alltäglichen Gewalt ist da schon viel nahe liegender. Zumal das Stichwort des Reizes selber schon auf einen zumindest minimalistischen Gewaltakt verweist. Das Wort Reizen ist verwandt mit den Wörtern Reißen und Ritzen, präzisierender könnte man sagen mit den Akten des Auseinanderreißens und des Einritzens. Beides beschreibt im Grunde ja einen Akt der Zerstörung. Und in unserem Zusammenhang ein Paradox dazu.

Da setzen sie sich heute also der Gewalt aus, um der Gewaltlosigkeit einen Weg zu bereiten. Natürlich wissen wir alle, wie das gemeint ist. Und längst hat sich das Wort Reizen von seinen ursprünglichen Wurzeln emanzipiert und eine Bedeutung angenommen, die eher in Richtung der Ermöglichung von Lust geht. Wobei ja auch Reiz und Lust durchaus immer wieder eine nicht immer leicht auseinander zu haltende Liäson eingehen. Gewalt schließt Lust ja nicht aus, sondern eben genauso ein.

Wie also sollen wir heute zur Gewaltfreiheit gereizt werden? Natürlich durch Reißen und Ritzen. Anstatt dass wir uns zur Gewalt reizen und hinreißen lassen, sollen wir zur Gewaltlosigkeit gereizt werden. Dies geschieht dadurch, dass alte und überkommene Verhaltensmuster auseinander gerissen werden. Und indem andere Wege der Konfliktbewältigung in unsere Seelen eingeritzt, wir könnten auch besser sagen eingraviert werden.

Neue Wege zu suchen und zu gehen – auch neue Wege der Gewaltfreiheit - ist nicht immer ein schmerzfreies Unterfangen. Insofern ist der Reiz der Gewaltfreiheit nicht umsonst zu haben. Er verlangt uns durchaus einiges ab. Sich wund zu ritzen kann bisweilen sogar der schmerzhafte Versuch sein, Gewalt, die eigentlich anderen gilt, an sich selber zu üben. Darum geht es heute nicht. Es geht aber sehr wohl darum, sich den Schmerz eines Perspektivwechsels nicht zu ersparen. Sich die Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktlösungen ins Herz schreiben zu lassen.

In den Büchern der Thora wird – nachdem die großen Befreiungstaten Gottes berichtet und erinnert wurden - gleich mehrfach die Aufforderung wiedergegeben, die Israeliten sollten sich diese Erinnerung wie ein Merkzeichen auf ihre Hand und zwischen ihre Augen schreiben. Ein auch für dritte sichtbarer Reiz zum Glauben an eine gute Zukunft aufgrund guter Erfahrungen in der Vergangenheit.

In seinem Buch „Nachtzug nach Lissabon“ lässt der Autor Pascal Mercier, mit bürgerlichem Namen Peter Bieri und von Beruf Professor der Philosophie in Berlin, seine Hauptfigur, den Sprachlehrer Raimund Gregorius auf dem morgendlichen Weg zur Schule eine ihm bis dahin unbekannte Frau treffen. Unvermittelt schreibt sie eine Telefonnummer auf seine Stirn, die sie nicht vergessen dürfe, weil sie für sie von größter Wichtigkeit sei. In der unverhoffte Begegnung mit dieser Frau derart geritzt und gereizt, kommt Bewegung in das bis dahin ordentliche und geregelte Leben des verknöcherten Lehrers Gregorius. Er steigt aus seinem bisherigen Lebensbezügen spontan und endgültig aus. Stattdessen macht er sich über den Umweg der Suche nach dem Leben eines Dritten auf die Suche nach dem eigenen ich und letztlich auf die Suche nach Sinn und Freiheit. Das ganze Buch ist ein überaus gelungener Anreiz, sich von der tagtäglichen Gewalt seines scheinbar geregelten Lebens zu verabschieden.

Für diesen Tag - dieses fünfte badische ökumenische Forum - wünsche ich uns allen solche Reize und Anreize. Den Schmerz des offenen Wortes und des mutigen Umdenkens sollten wir uns nicht ersparen. Lassen wir uns also reizen. Und wenn es am Ende ein reizender, gar aufreizender Tag war, wird es gewiss kein verlorener Tag gewesen sein.

Gewalt ist alltäglich. Gewaltfreiheit viel zu oft noch ein Reizwort. Gottseidank möchte ich sagen. Damit wir die Chance, dieser Welt ein friedlicheres und gewaltfreieres Gesicht zu geben, nicht verpassen. Lassen wir uns also ein wenig reizen und aus unserer Lethargie reißen. Billiger können wir der Gewalt nicht den Abschied geben.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.