ERSTTESTAMENTLICHE GOTTESREDE AUS ZWEITER HAND?
ÜBER IRRWEGE AUS AUSWEGE CHRISTLICHER PREDIGT
IM LICHT DER NEUEREN HOMILETIK

VORTRAG BEI DER GESELLSCHAFT FÜR JÜDISCH-CHRISTLICHE
ZUSAMMENARBEIT AM 17. SEPTEMBER 2007

17.07.2007
1.1 Hinführung zum Thema
Auf der Kanzel nichts Neues, so scheint es einmal mehr! Anspruchsvolle und theologisch differenzierte Predigten auf der einen Seite. Daneben christliche Predigerinnen und Prediger, die – im günstigeren Fall – unsensibel und unreflektiert, im ungünstigeren fahrlässig oder gar wider besseres Wissen predigen. Solchermaßen charakterisierte Predigt kann es in gleich in mehrfacher Hinsicht geben. Sie kann einfach weltfremd oder theologisch wenig durchdacht sein. Sie kann ethisch indifferent oder – im gegenteiligen Fall – einfach moralinsauer daherkommen. Sie kann am Kern der zu verkündigenden Botschaft vorbeigehen oder ihn überhaupt keine solche enthalten.

Aber nicht allgemein soll’s heute Abend natürlich um die Predigt gehen, sondern vielmehr um diejenigen Aspekte christlicher Predigt, die einen Kommentar, einen Beziehungshinweis oder in ganz direktem Sinn eine Aussage zum jüdischen Glauben oder zum Verhältnis von Christinnen und Christen auf der einen und Menschen jüdischen Glaubens auf der anderen Seite machen. Nein, neu ist diese Thematik nicht. Genauso wenig aber hat sie sich – Gott sei’s geklagt – mittlerweile erledigt.

Was schon vielfach gesagt und nicht selten aus gutem- oder besser aus schlechtem – Grund beklagt wurde, wird nicht besser, wenn wir uns heute Abend einmal mehr in die Reihe der Klagenden einreihen. Sicher, Klagen entlastet. Aber nicht in der Entlastung, sondern in Wegen zu einer Änderung soll die Zielrichtung dieses Vortrages heute Abend liegen. Und er ist darum auch thematisch weitergefasst, als dass es nur einmal mehr um gelinde gesagt unverantwortliches Predigen in den christlichen Kirchen gehen soll.

1.2 Begründung des Themas
Aus gleich drei zwar unterschiedlichen, freilich jedoch zusammenhängenden Gründen möchte ich mich heute dem Thema der christlichen Predigt annähern.

Zunächst werde ich selbstverständlich nicht darum herumkommen, einiges zu der Art und Weise anzumerken, wie sich christliche Theologie immer wieder in gepredigter Form zur Theologie und zur Existenz des Judentums verhält. Damit ist im Grunde das alte Thema des latenten oder offenkundigen Antijudaismus – manchmal auch des Antijudaisierens - in der Predigt angesprochen, ganz gleich ob wir diesen gewissermaßen in einer light-Version oder in deutlich kruderen Formen wahrnehmen können.

Zum zweiten möchte ich auch einiges dazu sagen, inwieweit, mit welchem Recht und mit welchen Konsequenzen wir als Christinnen und Christen – und als solcher spreche ich ja heute Abend – überhaupt über Texte aus dem Ersten Testament, der hebräischen Bibel, predigen können.

Dazu kommt aber – und darauf kommt es mir besonders an – ein drittes. Wir leben gegenwärtig in einer sich ständig und mit immer größerer Dynamik verändernden Welt. Dies trifft für unsere Theologien zu. Genauso und womöglich noch viel mehr für die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge und Systeme, in denen wir unser Leben gestalten. Hierin liegen gewiss unabsehbare Risiken, nicht zuletzt auch Chancen, die auch für unser heutiges Thema beherzt zu nutzen sind. Dies möchte ich insbesondere im Blick auf die Veränderungen in der Homiletik, der Lehre von der Predigtkunst, fruchtbar machen. Daher habe ich den heutigen Abend unter das Thema gestellt: Ersttestamentliche Gottesrede aus zweiter Hand? Über Irrwege aus Auswege christlicher Predigt im Licht der neueren Homiletik.

2.1 Zum Problem des Antijudaismus in der Predigt
Im Folgenden will ich einfach den drei eben genannten Gründen entlanggehen. Dabei werde ich aber darauf verzichten, im einzelnen Predigten zu analysieren und mit Beispielen zu belegen, in welcher Weise christliche Predigerinnen und Prediger sich in der Predigt zum Judentum verhalten, um es einmal in dieser Allgemeinheit zu formulieren. Dies ist in vielfacher Weise geschehen und dokumentiert. Ich will stattdessen einfach nur an einige der diesbezüglich praktizierten Spielarten in Erinnerung rufen, die letztlich alle auf dasselbe Grundmodell zurückgehen.

Da geht es in Predigten dann um antiquiert gegen modern, um Gesetz gegen Freiheit, um Pharisäer gegen Jesus, um Auge um Auge gegen Vergebung, um Richtergott, gegen gnädigen Gott, um Messiaserwartung gegen den längst dagewesenen Messias, um Altes gegen Neues Testament, um alten Bund gegen neuen Bund, um Verwerfung gegen Erwählung, um Judentum gegen Christentum. Letztlich basieren alle diese Gegenüberstellungen – ob bewusst oder unbewusst – auf dem Modell der Ablösung des alten Bundes und dessen Ersetzung durch den neuen.

Man kann dem jüdischen Glauben dann noch eine gewisse beispielhafte und konsequente Ethik zugestehen. Man kann konzedieren, dass Jesus aus dem Judentum hervorgegangen, diesem dann aber selbstverständlich entwachsen sei. Aber dem jüdischen Glauben bleibt bestenfalls die Rolle aks Vorlage für die bessere und zeitgemäßere Religion.

Man könnte einwenden, in dieser Zuspitzung würde dieses Modell der Entgegensetzung doch gar nicht mehr angewendet. Theologinnen und Theologen seien, insbesondere auch was die jüngere Geschichte angeht, sensibilisiert, gründlich ausgebildet und über den Stand der Diskussion im Blick auf das Verhältnis Christentum und Judentum im Bilde. An dieser Meinung mag zutreffend sein, dass die Argumentationsstränge inzwischen nicht selten subtiler sind. Aber unwirksam sind sie darum noch lange nicht.

Und – was noch schwerer wiegt – auch als durchaus für diese Frage sensibilisierter Theologe ist man vor der Bedienung dieser Klischees nicht in jedem Fall gefeit. Daraus folgt: Die antijudaisierenden Elemente mancher Predigten liegen nicht einfach in entsprechenden Einstellungen derer, die sie vertreten begründet. Sie sind viel häufiger noch integraler Bestandteil christlicher Theologie bzw. in den Mustern theologischen Denkens noch tief verankert.

In einem kürzlich erschienen Beitrag zur Frage des christlichen Antijudaismus formulieren Luise Schottroff und Claudia Janssen folgendermaßen: „In der christlichen Auslegungsgeschichte der Bibel haben sich Deutungsmuster durchgesetzt, die die Abgrenzung vom Judentum als essentiell für den christlichen Glauben ansehen: Jesu Gottesverständnis sei anders als das des Judentums, dem jüdischen „Gesetz der Werke“ stünde das christliche „Gesetz des Glaubens“ gegenüber, das heißt, die Tora des Gottes Israels sei abgetan, beendet durch den Glauben an Jesus Christus. Dieser essenzielle Antijudaismus sei Grundlage der Theologie des Paulus und seiner Rechtfertigungslehre, stehe also schon im Neuen Testament und habe nichts mit Antisemitismus zu tun. Häufig wird diese theologische Position von ihren Vertreterinnen und Vertretern nicht einmal als Antijudaismus benannt, wohl aber in der Sache vertreten.“

Gegenwärtig kann man diese Diskussion sehr schön an der Frage der Übersetzung von Römer 3,28 nachvollziehen. In der Übersetzung Martin Luthers lautet dieser Satz: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Luther hat in seiner Übersetzung das Wörtchen „allein“ hinzugefügt. Indem nomos anstatt mit Thora dann auch noch mit Gesetz übersetzt wird, entsteht die Gegenüberstellungen einander ausschließender Positionen: Gerecht werden wir also allein durch unseren Glauben. Damit hat sich das Gesetz, und damit diejenige Gruppe, der das Gesetz gehört, eigentlich von selbst erledigt.

Man kann die paulinische Sicht hier freilich auch ganz anders verstehen. Die Thora ist für ihn keineswegs außer Kraft gesetzt, sondern der Christusglaube eröffnet für ihn geradezu die Möglichkeit, ihr gerecht zu werden. Also für ihn – Paulus! - gerade kein entweder oder sondern ein sowohl als auch. Zwischen vermeintlicher theologischer Arglosigkeit und nachweisbarem Antijudaismus ist der Abstand oft nur minimal. Und oft führt hier schon ein kleiner Schritt den Absturz herbei.

Das eben zum Antijudaismus Ausgeführte sollte in knapper Form die dingliche Notwendigkeit begründen, hier zu grundlegenden Veränderungen des Denkens und Handelns zu kommen. Hierbei sind weitere Überlegungen nötig, die sich mit der grundsätzlichen Berechtigung christlichen Redens und Predigens über Texte der hebräischen Bibel nötig.

2.2 Konsequenzen der Gemeinsamkeit des Heiligen Buches
Ersttestamentliche Gottesrede aus zweiter Hand – so habe ich meinen Beitrag provozierend überschrieben. Theologie hat also die Tatsache zu reflektieren, dass das heilige Buch des Judentums, der Tanach, zugleich auch zum Kanon der heiligen Schriften des Christentums gehört. Dass, genauer gesagt, dem Judentum die Erstnutzungsrechte gehören. Man muss deshalb die Tatsache, dass der sich herausbildenden neue Weg des Christentums sich auf eben dieselbe heilige Schrift bezieht, nicht im Sinne einer illegitimen Aneignung interpretieren. Es ist aber nötig, diese Entwicklung zu deuten, um den Vorwurf der illegitimen Aneignung nicht im Nachhinein zu rechtfertigen.

Solange sich die urchristliche Bewegung ohnedies im Rahmen des Judentums bewegte, war diese Frage im Grunde noch nicht wirklich brisant. Als sich aber im Zuge der Öffnung des neuen Weges für die Völkerwelt ein eigenständiges religiöses System zu etablieren begann, das im Zuge eines autonomen Prozesses der Kanonbildung dem ersten ein zweites, interpretierendes Testament an die Seite stellte, hat sich die Situation dramatisch geändert.

Die gegenseitige unentrinnbare Verwobenheit wird verdrängt. Das jüngere der beiden Systeme versucht über Jahrhunderte, dem älteren den Garaus zu machen: geschichtlich, indem man durch Auflösung der geographisch umschriebenen Raumes der Staatlichkeit die Existenz dem Vergessen anheimzustellen versucht; theologisch durch das Modell der Verwerfung und der Substitution, die das scheinbar entzogene Erbe übernehmen will; physisch, indem man den Menschen, deren Lebensentwurf derart fundiert ist, auf brutalste Weise und über Jahrhunderte das Seinsrecht entzieht.

Die im Grunde nötige Neubestimmung der Beziehung der beiden Wege der Verehrung des einen Gottes wird nur partiell und im Grunde erst nach der Katastrophe der Schoah in Ansätzen geleistet. Die Ausdifferenzierung eines theologischen Modells, um diese Gemeinsamkeiten auch in einem angemessenen und erweiterten Ökumene-Begriff zu denken und zur Sprache zu bringen, wird auch in der nächsten Zukunft die große bleibende Aufgabe des theologischen Gesprächs zwischen Christenheit und Judentum bleiben. Ulrich Körtner, der Wiener christliche Systematiker plädiert dafür, diesen Brückenschlag unter Heranziehung des Modells des Volkes Gottes zu gestalten und so dessen - im Blick auf den Ursprung – „Verfremdung“ in Form einer Engführung im Rahmen des binnenchristlichen Ökumenebegriff zu beenden und die in ihm liegende visionäre Kraft zurückzugewinnen: „Wer sich zur bleibenden Erwählung Israels bekennt, kann das Volk Gottes und seine Einheit nicht mit der Einheit der Kirche gleichsetzen. Das aber ist ein gravierender Mangel bisheriger Einheitsvorstellungen in der ökumenischen Bewegung.“

Insgesamt scheinen mir für die weitere Bewertung und theologische Reflexion des Verhältnisses von Christentum und Judentum drei Punkte dabei von unaufgebbarer Bedeutung:

(1) Durch die Schnittmenge des gemeinsamen heiligen Buches ist die Beziehung zwischen Christentum und Judentum von grundsätzlich anderer Natur als zwischen anderen Religionen; unter dieser Hinsicht auch zu der anderen, späteren großen Religion des Islam. Paulus wählt dafür, wie sie alle wissen, das Bild von den in den Ölbaum aufgepropften Zweigen.

Ähnliches gilt darum auch aufgrund der Gemeinsamkeit in der Wurzeln und den gemeinsamen Grundüberzeugungen, wobei alle auf der scheinbaren Parallelität der beiden Religionen aufbauenden Modelle der Beziehung der Tatsache Rechung zu tragen haben, dass zwischen beiden Gruppierungen formal betrachtet einen Mutter-Tochter-Beziehung besteht – was nicht ausschließt, dass die Tochter längst erwachsen geworden ist und der Mutter gewissermaßen gerade darum das Leben schwer macht.

(2) Beide Religionen weisen in ihrer Verflochtenheit selbstverständlich in vielfacher Hinsicht Parallelitäten und Überschneidungen auf. Dies geht über die Gemeinsamkeit in einem Teil der heiligen Schriften weit hinaus, indem sich die eine Seite inhaltlich und theologisch bei der anderen bedient, ganz zentral etwa im Bereich der auf die Messiasvorstellungen bezogenen Anteile ihrer Theologie. Hier bleibt jeweils neu klärungsbedürftig, ob es nur um eine Übereinstimmung in der Terminologie geht, wobei sich die Konnotationen längst gewandelt haben können oder ob es sich um tatsächliche und bleibende Gemeinsamkeiten handelt.

(3) In ihrer gegenseitigen Unentrinnbarkeit sind beide in vielfacher Hinsicht längst nicht nur verschieden Wege gegangen, sondern auch deutlich verschieden, ja in mancherlei Hinsicht auch fremd geworden. Bisweilen nimmt diese Fremdheit Züge eines grundsätzlichen und unüberwindbaren Nicht-Verstehen-Könnens an. Auf der Seite des Christentums gehört m.E. die Vorstellung der Trinität zu den zentralen, aber im jüdisch-christlichen Dialog kaum mit Gewinn einzubringenden theologischen Vorstellungskomplexen, insbesondere deshalb, weil durch das in Nicaea 325 dogmatisierte „homoousios“ des Sohnes mit dem Vater eine Feststellung getroffen wurde, die für die eine Seite zentral und konstitutiv ist, die aber zugleich für die andere Seite eine theologische und bekenntnismäßige Unerträglichkeit, ja eigentlich Unmöglichkeit darstellt. Dies hebt die Besonderheit der Beziehung keineswegs auf, macht sie aber zugleich auch hochkompliziert und krisenanfällig. Diese bleibende Differenz wird häufig viel zu wenig wahr- und damit auch ernstgenommen und – wie gerade von jüdischer Seite angemerkt wurde – oft vorschnell durch eine jüdisch-christliche Bindestrich-Theologie verdrängt.

Dennoch bleibt im Blick auf eine Neubewertung der Beziehung zwischen Judentum und Christentum festzuhalten, dass – und ich formuliere jetzt bewusst aus der christlichen Position – die bleibende und unkündbare Verbindung ein nur um die Gefährdung bzw. sogar den Verlust der eigenen Identität aufzugebender Bestandteil des Bekenntnisses ist. Nur wenn wir dies anerkennen, kann sich etwa christliche Predigt legitim und durchaus eigenständig aus zweiter Hand auf die Texte des ersten Testamentes beziehen.

2.3 Auswege zum Besseren – wo gegenwärtig doch schon alles im Fluss ist
Von den Irrwegen christlicher Predigt war schon die Rede. Jetzt soll aber auch Ausschau nach möglichen Auswegen gehalten werden. Dabei soll es um die Möglichkeit gehen, Insbesondere Texte aus dem Ersten Testament so zu predigen, dass das eben zur Legitimität dieser Textauswahl Gesagte zum Tragen kommt. Dabei soll zugleich auch der Inhalt des Gesagten der beschrieben hochkomplexen Beziehung gerecht werden.

Dass wir in der Lehre der Kunst christlicher Predigt diesen Weg eingeschlagen haben, ist eine hoffentlich unumkehrbare Entwicklung. Das Konzept einer Predigt, das den eben vorgetragenen Ansprüchen genügt, ist als „Predigt im Angesicht Israels“ charakterisiert und von einer ganzen Reihe von Theologinnen und Theologen aufgegriffen und weiter entwickelt worden.

Mittlerweile hat die Homiletik aber weitere Wege eingeschlagen, die das Wesen und die Methodik der Predigt an sich neu zu beschreiben suchen. Diese Neuorientierung in der Predigtlehre ist mit dem Begriff der Dramaturgischen Homiletik von Martin Nicol, aber auch mit ähnlichen Überlegungen von Albecht Grözinger und Wilfried Engemann verbunden. Die Predigt wird in Aufnahme von Erkenntnissen anderer auf Texte bezogener Wissenschaften - vielfach in Anknüpfung an Umberto Ecco - als Gesamtkunstwerk verstanden. Ihr Inhalt ist dann nicht mehr die Weitergabe zentraler Lehrinhalte, sondern der gemeinsam gestaltete Rezeptionsprozess.

Darin tauchen zum einen wesentliche Anliegen der Reformation wieder auf, die die Predigt ebenfalls als einen Prozess, konkret als ein Zuspruchsgeschehen verstand. Neu ist aber, dass der Prozess nicht nur im Sinne einer Weitergabe vom Prediger an Hörerin oder Hörer verstanden wird, sondern vielmehr als ein durch die Mitwirkung aller bestimmter, ergebnisoffener Prozess. Neben Hörerinnen und Hörer sowie Predigerin und Prediger tritt der Text als eigener Gesprächspartner; dazu kommt, gewissermaßen im Sinne eines situationsbezogenen Ansatzes, als Inhaberin einer eigenständigen Rolle, der konkrete, jeweils neu zu erhebende und zu beleuchtende Kontext. Die Botschaft ist niemals zeitlos, sondern drängt gewissermaßen vom Geist in die Materie und nimmt Fleisch und Blut an und die Situation auf.

Wenn wir das Modell des Textes als eigenständigem Gesprächsteilnehmer ernst nehmen, gehören uns diese Texte niemals allein. Auch nicht mehr denen, denen wir sie zu verdanken haben. In Aufnahme der Terminologie paulinischer Theologie würde man hier beinahe von Entäußerung sprechen können. Für eine verantwortliche christliche Predigt im Angesicht Israels hieße das, dass sich auch biblische Texte im gemeinsamen christlich-jüdischen Rezeptionsprozess deutungsoffener erschließen lassen, wobei damit die Mitwirkung anderer, religiös und weltanschaulich noch einmal ganz anders orientierte weiterer Gesprächspartner keineswegs ausgeschlossen, sondern geradezu erwünscht sein müsste.

Die Umsetzung dieser Einsicht ist bislang aber bestenfalls auf dem Weg, aber keineswegs auch nur annähernd mit den Konsequenzen umgesetzt, die eigentlich gezogen werden könnten. Dabei geht es weniger darum, den Redecharakter der Predigt in Frage zu stellen. Alternativen zur Gattung Predigt werden in der Praxis vielfach erprobt und in der Literatur längst reflektiert. Es geht darum, die Bandbreite möglicher Reflexion im Charakter der Predigt deutlich stärker widerzuspiegeln. Dies kann nur dadurch befördert werden, dass gewissermaßen die Zahl der am Rezeptionsprozess beteiligten Positionen – in den allermeisten Fällen konkretisiert an der Zahl der Personen – erhöht wird. Im Idealfall wird das nicht in Gestalt dialogischer gestalteter Predigten geschehen. Wir müssen den Mut haben, Predigt nicht nur interaktiv, sondern im Einzelfall auch interreligiös zu denken.

Im gottesdienstlichen „Normalfall“ muss die Öffnung des Panoramas der am Rezeptionsprozess Beteiligten durch eine dialogisch gestaltete innere Predigtstruktur realisiert werden. Im Blick auf die Predigt ersttestamentlicher Texte darf sich die Predigt nicht darauf beschränken, gewissermaßen die christliche Antwort vorzutragen. Sie sollte zudem auch den Weg durch die Angebotspalette anderer Antworten darstellen und mutig auch dort Offenheit signalisieren, wo einem die eigenen Antworten fragwürdig bleiben.

Wer also aus einem Predigttext des Ersten Testaments (Beispiel Gottesknechtslieder des Zweiten Jesaja) oder aus einem Predigttext des Zweiten Testaments, der ausdrücklich auf das erste Bezug nimmt (Beispiel matthäische Reflexionszitate) aus der Fülle der Verstehens- und Deuteangebote eines auswählt, dem dezidiert christliche Glaubensvoraussetzungen zugrunde liegen, muss unbedingt darauf verweisen, dass dies nicht die erste und schon gar nicht die einige Verstehensmöglichkeit des Textes darstellt. Wer von der Möglichkeit Gebrauch macht, an zweiter Stelle das Predigtwort zu ergreifen, muss auf das Wort der ersten Predigt verweisen oder zumindest seinen Raum freihalten. Ansonsten gerät er oder sie in Gefahr, womöglich sogar unbeabsichtigt einer Usurpationstheologie, die der jüdischen Tradition ihr Recht nimmt, das Wort zu reden

Was hier im Blick auf das Verhältnis von Christentum und Juden formuliert ist, gilt in gleicher Weise für alle Predigerinnen und Prediger der dritten und vierten Hand, d.h. für diejenigen, die als weitere nachrückende Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in den Prozess des Rezeption der Texte einsteigen. Die Wahrheit eines Textes wird so nicht etwa relativiert, sondern es wird ihre Fülle entsprochen. Das hermeneutische Prinzip, dass ein Text, der in de Raum der Öffentlichkeit gestellt wird, einem nicht mehr gehört, ist das eine. Dass daraus aber keine Besitzansprüche anderer abgeleitet werden können, das andere.

3.1 Hinweise für christliche Predigerinnen und Prediger ersttestamentlicher Texte
Auf die Predigt ersttestamentlicher Texte gewendet, ergeben sich so also zumindest sieben Hilfestellungen für christliche Predigerinnen und Prediger. Sie sollen helfen, Irrwege auszuschließen und Auswege zu eröffnen. Mi diesen Hilfestellungen will ich meine Überlegungen dann auch zum Abschluss bringen:

1 Predige immer so, dass jedem Text sein eigenes Recht bleibt. Versuche nicht gleich, ihn für Fremdinteressen zu vereinnahmen und zu verzwecken. Bewahre den Respekt vor seinem Gepräge, vor seiner Fremdartigkeit und Eigenständigkeit. Bewahre den Respekt vor dem heiligen Buch Israels und Jesu von Nazareth.
2 Predige nicht einfach das, was du über einen Text schon zu wissen glaubst. Gib dem Text das Recht, in seinem So-Sein, in seinem Anders-Sein und in seiner Verstehensbedürftigkeit sprechen zu wollen. Mache dich frei davon, dass dir jeder Text zu jeder Zeit verständlich werden kann. Bringe in deiner Predigt auch andere Sichtweisen zum Sprechen als nur deine eigene.
3 Predige nicht einfach jeden Text nur christologisch. Predige ihn aber im Wissen, dass Leben, Sterben und Auferstehung Jesu ohne den Bezugsrahmen der ersttestamentlichen Texte nicht wirklich zu verstehen sind. Dabei ist zu beachten, dass wir die aufgepropften Zweige sind – nicht umgekehrt!
4 Predige im Wissen, dass dein Verstehens- und Deutungsprozess den Text in einer für uns legitimen, aber keineswegs in der einzig möglichen Weise ins Leben zu ziehen sucht.
5 Predige in diesem Wissen so, dass du dein Verständnis des Textes als ein für Christinnen und Christen mögliches, hilfreiches und nahe liegendes verstehst, aber nicht als einziges und ausschließliches.
6 Predige so, dass ein Mensch jüdischen Glaubens nicht verletzt oder gar verunglimpft wird. Predige im Respekt vor denen, denen diese Texte zuerst gehört haben.
7 Predige immer im Angesicht der Tatsache der bleibenden Erwählung Israels, der Verbundenheit im Glauben an den einen Gott und der Gemeinsamkeit des Ersten Testamentes.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.