PREDIGT ÜBER HEBRÄER 13,12-14
9. MÄRZ 2008 (JUDIKA )

09.03.2008
Liebe Gemeinde!

1. Die Mehrzahl der Menschen auf diesem Planeten Erde wohnt längst in einer Stadt. Mag in unseren Breiten noch die Sehnsucht vorherrschen, aus den unwirtlichen Städten heraus zu ziehen und sich einen wohnlichen Platz im Grünen zu suchen – weltweit betrachtet läuft der Trend in umgekehrter Richtung. Das Leben auf unserem Planeten konzentriert sich in den großen Metropolen. Und im Vergleich mit den großen Städten Asiens und Lateinamerikas nehmen sich unsere deutschen Städte aus wie große Dörfer. In der Region in und um Tokio leben 35 Millionen Menschen. In Mexiko Stadt 22 Millionen. Genauso viele leben in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul.

Die großen Städte sind Orte ununterbrochener Aktivität. Flanierende Passanten zu jeder Tages- und Nachtzeit. Lichtreklamen und Lichtermeere, die in den Stunden der Nacht das Tageslicht ersetzen. Geschäfte, die bis in die Nacht offen haben, so als habe man Angst, mit dem Ladenschluss kämen auch die eigenen Lebensmöglichkeiten ans Ende. Städtereisen gehören zu den am meisten nachgefragten Unternehmungen des modernen Menschen. Wer die Städte kennt, so glaubt man, kennt gewissermaßen die Welt.

2. Das Leben in einer Stadt ist keineswegs die Wohn- und Lebensform der Moderne. Die Stadt ist im Grunde so alt wie die Menschheit selber. Schon auf einer der ersten Seiten der Bibel lesen wir: „Kains Frau gebar den Henoch. Und er baute eine Stadt, die nannte er nach seines Sohnes Namen Henoch.“ (Gen 4,17 ) Zum Urbild der bösen Stadt in der Tradition Kains wird dann vor allem Babylon. Nicht nur die Verwirrung der Sprache nimmt dort ihren Ausgang. Vielmehr tritt am Beispiel der Zerstörung der Einheitlichkeit der Sprache die Zerstörung der Gemeinschaft ans Tageslicht.

Babylon, der Ort, an dem die isrealitische Oberschicht in der Verbannung lebt, wird zum Sinnbild des Fremden und des Exils. Kein Wunder, wenn die Johannes-Apokalypse am Ende der Bibel dann von der Hure Babylon (Offenbarung 17) spricht.

Aber dies ist allemal nur die halbe Wahrheit. Denn Babylon, die gefallene Stadt hat ein kraftvolles, positive Gegenüber; jenen Ort, dem Gott selber Gefallen gefunden und dort Wohnung genommen hat: Jerusalem - irdisch Sitz des Tempels als der Wohnstadt Gottes; im Blick auf das Ende der Zeit das Sinnbild der erneuerten Welt Gottes, wenn diese Stadt als himmlische Jerusalem aus dem Himmel herab fährt wie eine geschmückte Braut.

Der anscheinend nicht zu behebende Hang zum Abgleiten ins Weltliche und damit zugleich ins Böse hat die Städte darum auch zum bevorzugten Ort missionarischer Bemühungen werden lassen. Paulus setzte mit seinen Missionsbestrebungen nicht ohne Grund in den bedeutenden Städten seiner Zeit ein. Genauso übrigens wie die Reformation, die ebenfalls in den Städten ihren Ausgang nahm. Reformatorisches Handeln und reformatorische Theologie sind in ganz besonderer Weise mit den Städten verbunden.

Der Basler Theologe Albrecht Grötzinger schreibt darum der Kirche nicht ohne Grund ihren besonderen Auftrag gegenüber den Städten ins Stammbuch: „Christinnen und Christen, die Kirchen und die Theologie bekommen die Aufgabe beizutragen, dass unsere Städte wohnliche Orte werden. Die Bilder von der Stadt Gottes zeigen uns eine sehr wohnliche Stadt. Wir müssen nicht die Stadt Gottes auf der Erde errichten. Das wäre eine menschliche Selbstüberschätzung. Aber wir können den Hoffnungsbildern, die die Bibel uns vor Augen stellt, einen Platz in unserer Herzen einräumen“ .

3. Der Predigttext für diesen Sonntag Judika setzt ebenfalls in der Stadt ein. Und erneut in der Stadt, in der sich wie in einem Brennglas Höhen und Tiefen, aber Chancen und Risiken der Menschheit überhaupt spiegeln: in Jerusalem. Er tut dies in zweifacher Weise. Ganz konkret, in dem er sich mit dem Ort des Todes Jesu beschäftigt und diesem seine besondere Bedeutung abgewinnt. Und ein zweites Mal im Sinne einer theologischen Deutung unserer Existenz an sich.

Bleiben wir zunächst bei der ersten, ganz konkreten Verhältnisbestimmung des Ortes des Jesu. Die Passionszeit neigt sich den entscheidenden Ereignissen und damit ihrem Höhepunkt zu. Heute in einer Woche beginnt mit dem Palmsonntag die Karwoche. Und erneut wird dann jene Stadt in den Mittelpunkt gerückt, von der ich eben schon gesprochen habe: Jerusalem. Treffpunkt all jener, die sich zum Passahfest, zum Fest der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, auf den Weg in die Stadt des Heiligtums gemacht haben. Jerusalem: Sitz der religiösen und weltlichen Autoritäten. Ort der Verhandlungen und Verhöre, die Jesus am Ende den Tod bringen.

Aber am Ende eben nicht der Ort, an dem Jesus dann auch seinen Tod findet. Die Stadt mischt mit bis zuletzt. Aber als ihre todbringenden Aktivitäten ans Ziel kommen, bleibt sie fein außen vor. Die Hinrichtungsstätte will man nicht in den eigenen Grenzen haben. Der Tod wird an die Ränder verbannt. So wie auch früher in vielen Gemeinden die Friedhöfe nicht mehr bei der Kirche verblieben, sondern in die Außenbezirke verlagert wurden. Nein, die Stadt soll der Ort blühenden Lebens bleiben. Der Tod hat darin nichts zu suchen.

4. Der Schreiber des Hebräerbriefs entdeckt in dieser Tatsache noch eine tiefere Wahrheit. Der, der seinen Tod findet draußen vor den Toren der Stadt, der findet ihn da, wo er auch sein Leben gelebt hat. Da, wo er anderen zum Leben verholfen hat. Sein Leben galt denen, die sich – wie er - immer wieder „draußen“ vorfanden. Sein Leben war immer ein Leben an den Rändern. Und nicht ohne Grund nimmt er die an den „Hecken und Zäunen“ in den Blick, als die Gutsituierten der Einladung zum großen Festmahl nicht folgen wollen.

Der Hebräerbrief ist das Dokument einer großen Grenzüberschreitung. Jesus, der große Hohepriester, macht die großen Grenzen des Lebens durchlässig. Die Grenze zwischen dem Priestertum der vielen und dem Priestertum des einen. Die Grenze zwischen Gott und Mensch. Die Grenze auch zwischen draußen und drinnen. Indem dieser Jesus nach draußen geht, macht er den Menschen den Weg nach innen frei.

Es muss für uns heute durchaus ein Stück weit befremdlich bleiben, die Bedeutung Jesu in die Sprache des priesterlichen Dienstes übersetzt zu sehen. Und manchmal bleibt uns der Hebräerbrief genau deswegen auch merkwürdig fern. Hier wechselt er aber das Modell der Übersetzung. Die Das Gegeneinander und das Miteinander von draußen und drinnen erfährt eine neue Verhältnisbestimmung. Der Weg Jesus nach draußen wird zum Spiegelbild des Weges mitten ins Zentrum. Der Weg in den Tod zum Weg in ewiges, unverbrüchliches Leben.

5. Dieselbe grenzüberschreitende Bewegung nimmt der Schreiber des Hebräerbriefs dann in einem zweiten, geweiteten Deutungsbogen vor. Dieses Mal nimmt die diejenigen in den Blick, die ihr Leben am Leben dessen ausrichten, der draußen vor den Toren gelebt und dann dort auch seinen Tod gefunden hat. Auch ihnen mutet er die Aufgabe der großen Grenzüberschreitung zu. Jetzt wird die Stadt zum Sinnbild des irdischen Lebens überhaupt. Sie wird zu einem Ort, der den Ausgangspunkt, nicht aber den Zielpunkt des Lebens beschreibt: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

Völlig zu Recht hören wir diesen Satz am häufigsten bei Beerdigungen. An jenem Ort, wo wir die größte Grenzüberschreitung unseres Lebens vor Gott bedenken. Wir haben hier keine bleibende Stadt. Unser Leben - zwischen Glück und Unglück, zwischen Gelingen und Misslingen, zwischen Schuld und Vergebung – aus dem Blickwinkel Gottes heraus ist es allenfalls eine Zwischenstation. Spielt sich im Vorletzten ab, um es mit Worten Dietrich Bonhoeffers zu sagen. Wir sind auf dem Weg in die Stadt der Zukunft. Auf dem Weg in die Stadt der Gegenwart Gottes. Auf dem Weg ins Zentrum, indem auch wir den Weg nach draußen nicht scheuen.

Einige Kapitel zuvor werden im Hebräerbrief die Christinnen und Christen, die diesen Weg der Nachfolge „nach draußen“ gehen wollen, als wanderndes Gottesvolk bezeichnet. Als Menschen, die wissen, dass sie zeitlebens unterwegs bleiben. Als Menschen unterwegs zu dem Ort, an dem weder Leid noch Geschrei sein werden und an dem der Tod ausgespielt hat (Offenbarung 21,4f). Die Behausung der Stadt der Zukunft ist weder die Villa des reichen Städters noch die beengte Verhältnisse einer Siedlung oder eines Wohnheims. Dort ist uns eine Wohnstatt zugesagt, wo wir zur Erkenntnis kommen: „Sie da, die Hütte Gottes bei den Menschen.“

6. Eine kleine Geschichte kann diese Einsicht erläutern. Bei Einbruch der Nacht findet ein Wanderer Unterschlupf in einem Kloster. Die Zelle ist karg eingerichtet: eine einfache Pritsche zum Schlafen; davor ein Stuhl. Mehr nicht. Er fragt die Mönche, warum sie ihre Zellen so spärlich ausstatten. „Du hast doch auch nicht mehr dabei als das Allernötigste“, antwortet der Wanderer. „Ich bin ja auch auf der Durchreise“, gibt der zur Antwort. „Wir auch!“ entgegnen die Mönche.

7. Leben ist immer Leben auf der Durchreise. Leben in Erwartung der Grenzüberschreitung. Der vielen kleinen und tagtäglichen. Und der großen, um die wir alle nicht herumkommen. Leben ist immer Leben auf dem Weg nach draußen. Zu denen an den Rändern. In der Nachfolge dessen, der draußen seinen Tod fand, damit wir zum Leben und zur Mitte finden. Leben ist immer Leben im Übergang. Leben, auf dem Weg vom Vorletzten ins Letzte. Auf dem Weg, der in die große Zukunft Gottes führt. Dann kommt unsere Suche ans Ziel. Weil wir in der Gegenwart Gottes die bleibende Stadt gefunden haben. Amen.



Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.