PREDIGT ÜBER MATTHÄUS 6,25-34
GEHALTEN AM SONNTAG, DEN 3. OKTOBER 2010
- ERNTEDANKFEST -
IN SPRANTAL UND NUSSBAUM

03.10.2010
Liebe Gemeinde!

Der 3.Oktober ist in diesem Jahr gleich auf zwei Festkalendern von Bedeutung. Auf dem Kalender der politischen Gedenktage ist es der 20. Jahrestag der 1990 neu erlangten deutschen Einheit. In vielen Reden und durch viele Beiträge in den Medien ist dieses Tages gedacht worden.

Im Kirchenjahr feiern wir heute das Erntedankfest. Das kann man auch dieser Kirche wunderbar ansehen. Beide Anlässe, 20 Jahre Wiedervereinigung und der Erntedank haben im Grunde wenig miteinander zu tun. Es sei denn, dass wir uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass wir unser Leben nicht in der Hand haben. Dass menschliches Planen darauf angewiesen ist, dass ein anderer seinen Segen darauf legt.

Für mich ist der Erntedank von größerem Gewicht. Politische Entwicklungen verlieren an Bedeutsamkeit, wenn wir sie in die Jahrtausende alte Geschichte der Menschheit einordnen. Gewiss, Grund zur Dankbarkeit gibt es auch da. Aber dass wir leben können, dass wir uns im Auf und Ab der Geschichte als Menschen begreifen, die sich zu verdanken, das führt zu einer Form der Dankbarkeit, die mehr ist als der Rückblick auf eine Wendung der Geschichte. Am Erntedanktag geht es um den Blick auf eine Grunddimension des Lebens überhaupt. Am Erntedanktag werden wir eingedenk, dass wir als Menschen Teil der guten Schöpfung Gottes sind. Und dass wir dabei bleibend angewiesen sind auf das, was wir essen und trinken. Lebenslänglich. Diese Einsicht gibt diesem Erntedanktag seine besondere Würde.

Es ist zweifellos einer der großen Texte des Neuen Testaments, über den heute gepredigt werden soll. Ein Text mitten aus dem Herz der Bergpredigt. Bekannte, vertraute Worte. Doch ob das, was uns da geraten wird, wirklich geht? Ob dieser Text für uns zur Erntedankbotschaft 2010 werden kann? Hören sie selber:

25Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?
26Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? 27Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? 28Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.
29Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.
30Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? 31Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? 32Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.
33Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. 34Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.


Liebe Gemeinde! Die Hauptfeste vieler Religionen sind Erntefeste. Kein Wunder. Die Früchte des Feldes waren den Launen der Natur ausgesetzt. War die Ernte in einem Jahr gut, konnte schon im Jahr darauf eine Dürre oder eine Flut alles der Vernichtung preisgeben. Die Bilder aus dem überfluteten Pakistan sind uns noch ganz nah. Und die Bilder aus den überfluteten Landstrichen in Sachsen sind derzeit in jeder Nachrichtensendung zu sehen.

Gute oder schlechte Erntejahre – man brachte sie seit alters her mit den Göttern in Verbindung. Und wenn man den Göttern die besten Früchte zur Verfügung stellte, ihnen die besten Früchte opferte, hoffte man auf ein weiteres gutes Jahr. Ein Jahr, in dem der Hunger nicht täglich zu Gast sein würde.

Erntefeste dienten also nicht nur dem Dank. Sie dienten auch der Vorsorge. Heute würde man sagen, der Zukunftssicherung. Der der eigenen Sippe. Und der der Familie.

Darum lassen wir unsere Früchte auch nicht einfach wachsen. Das, was wir essen, ist längst ein Konsumgut. Es wird produziert. Gezüchtet. Ist weniger vom Wetter als von der allgemeinen Konjunktur abhängig.

Getreide wird an den internationalen Börsen gehandelt. Für die Milch gibt es Produktionsquoten. Überschüsse werden entsorgt, damit der Preis stabil bleibt. Es geht längst nicht mehr um Dankbarkeit. Zumindest nicht vorrangig. Es geht auch um funktionierende Märkte.

Ob die Menschen bei uns satt werden oder nicht - es hängt nicht nur vom Ertrag der Felder ab. Sondern auch von der sozialen Schicht, der die Menschen angehören. Mittlerweile gibt es in unserem Land mehr als 800 Tafelläden. Läden, in denen Geschäfte unverkaufte Lebensmittel abgeben, damit die Ärmsten der Amen genug zu essen habe. Weltweit betrachtet, gehen mehr Menschen hungrig schlafen als mit ausreichender und ausgewogener Ernährung.

Eigentlich also doch Grund genug Erntedank zu feiern! Es ist ein Privileg, in einer der fruchtbarsten Regionen dieser Erde zu leben. Es ist ein Privileg, dass wir uns satt essen zu können. Ja mehr noch: Dass wir aus einem großen Angebot unterschiedlichster Früchte auswählen können.

Das allein schon ist Grund genug, auch in diesem Jahr wieder Erntedank zu feiern. Und niemand kann sich der Unmittelbarkeit und Schönheit der Früchte entziehen, mit denen an Erntedank die Kirchen geschmückt sind. Auch heute hier bei Ihnen. Die zum Erntdankfest geschmückten Kirchen haben ihre eigene Schönheit. Und sie tragen eine nicht zu überhörende Botschaft in sich. Grund genug, dankbar zu feiern! Erntedank 2010.

Darum müsste uns die Grundbotschaft des Predigttextes aus der Bergpredigt unmittelbar einleuchten. Wer so leben kann wie wir, hätte doch allen Anlass, das „Sorget nicht!“, von dem der Bergprediger spricht, zum Lebensmotto zu machen.

Doch keine Generation widersetzt sich dieser Aufforderung erfolgreicher als die unsrige. Keine Generation überlässt so wenig dem Zufall. Niemand vor uns hat so sorgfältig gesorgt und geplant. Hat sich so ausführlich mit den drängenden Fragen und Problemen auseinandergesetzt. Begutachtet die Zukunft so gründlich mit Analysen und Prognosen. „Sorget nicht!“ Dieses Programm halten wir doch für fahrlässig. Und das aus guten Gründen.

Wir sorgen und planen allenthalben. Fürsorge und Vorsorge. Mit-Sorge und Nachsorge. Die Fülle der entsprechenden Programme ist nicht mehr zu überschauen. Die Zahl der Kinder, nicht selten auch der Geburtstermin wird sorgsam geplant. Nein, kein „Sorget nicht!“ Kurse schon für die Allerkleinsten, Bildungspläne in den Kindergärten, kindgemäße Annäherung an die Musik. Fremde Sprachen wenn nicht im Kindergarten, dann spätestens in der Grundschule. Die beste Vorsorge für Übermorgen hat hoffentlich gestern schon begonnen.

Lebensziele werden definiert. Lebensrisiken werden abgesichert. Laufbahnen geplant. Karrieren frühzeitig vorbereitet. Wer heute nicht vorsorgt, hat morgen womöglich das Nachsehen. „Sorget nicht!“ – diese beiden Worte beschreiben also bestenfalls ein Programm für die, die zur Sorge eigentlich gar keinen Anlass haben. Die man aber trotzdem immer wieder gerade daran erinnern muss. „Sorget nicht!“ – das wäre dann also eine Therapie für Ängstliche, denen wir helfen, die Welt mit realistischen Augen zu sehen.

Und Erntedank? Erntedank wäre dann das Fest der Aufforderung zur Sorglosigkeit. Zumindest in unseren Breiten. Eine Sorglosigkeit, die sich nicht unserem Gottesglauben verdankt. Sondern gerade unserer eigenen, sorgfältigen Vorsorge. Erntedank – so verstanden – wäre dann das Fest unserer eigenen Möglichkeiten.

So kann Erntedank nicht gemeint sein. Und so ist auch die Aufforderung Jesus aus der Bergpredigt nicht zu verstehen. Für so weltfremd dürfen wir den Bergprediger nicht halten, auch wenn er zweitausend Jahre vor uns gelebt hat.

Jesus und der Kreis seiner engsten Anhänger – sie konnten tatsächlich noch so leben. Sorglos. Ohne festen Wohnsitz. Zur Nacht einmal hier und einmal dort. Unter freiem Himmel. Oder im Haus irgendeines Sympathisanten. Umherziehende Radikale. Menschen, die mit ihrem Gottvertrauen ernst gemacht haben. Nachahmer gab und gibt es immer wieder. Franz von Assisi und Mutter Theresa. Auch viele Unbekannte und Ungenannte, die ernst gemacht haben mit ihrem Gottesglauben.

Doch es wäre aberwitzig, allen Menschen diese Lebensweise vorzuschreiben. Die Lebenspraxis Jesu und seiner Freundinnen und Freunde lässt sich nicht einfach in unsere Welt übertragen. Wir leben in einer anderen Welt. Und zu einer anderen Zeit. Und unter anderen, oft sehr komplizierten Umständen. Nicht vorzusorgen, nicht zu planen, sich keine Ziele zu setzen, das hieße sich abzumelden aus der Verantwortungsgemeinschaft. Naiv wäre das. Und unvernünftig dazu. Vorsorge ist eine Form der Selbst- und Nächstenliebe.

Was bleibt aber dann von dieser Aufforderung Jesu? Als Reiche trifft sie uns nicht wirklich. Und die Armut der Anfänge der Jesus-Bewegung hat mit unserer Lebenssituation wenig gemein. Ist der heutige Predigtext also einer, der sich nur den Habenichtsen dieser Erde erschließt? Leichter als uns gewiss. Aber ich hoffe, dass auch wir aus diesen Worten Gewinn ziehen können. Wenn es hier aber nicht einfach nur um eine Erinnerung an Verhältnisse geht, die wir zumindest hier überwunden haben. Worum geht es dann? Dazu gibt der Text zwei entscheidende Hinweise.

Den ersten Hinweis finden wir in dem Vers, der dem Predigttext vorausgeht – und den man auf keinen Fall abschneiden darf. Da heißt es unmittelbar vor unserem heutigen Predigttext: „Niemand kann zwei Herren dienen. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ Es geht also um eine Form der Konkurrenz. Der Konkurrenz zweier Grundeinstellungen gegenüber dem Leben. Einer, die allein auf unseren Möglichkeiten gründet. Und die darauf baut, dass wir unser Leben schon selber im Griff haben. Und einer, die weiß: Keine Erkenntnis der Wissenschaft, keine Form der Vorsorge, kein noch so vernünftiges politisches Handeln macht uns unverwundbar. Das Leben bleibt zerbrechlich. Und unser Sorgen können ganz unterschiedliche Gesichter tragen. Schließlich macht uns im Leben nicht nur die Nahrung satt.

Darum heißt Leben immer auch, sich zu entscheiden. Darum heißt Leben, eine Grundentscheidung darüber zu treffen, worauf ich mich im Innersten gründe. Worauf ich mit meinem ganzen Herzen vertraue. „Woran du nun dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott.“ Von Martin Luther stammt dieser Satz. Aus seinem Großen Katechismus. Und Gott zu dienen und dem Mammon, genau das geht nicht, wenn wir die Bergpredigt ernst nehmen.

Der zweite Hinweis, wie der Predigttext auch für uns orientierende Kraft gewinnen kann, findet sich ganz am Ende. Dort heißt es: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles andere schon zufallen.“ Es geht also gar nicht um die Konkurrenz von Vorsorge gegen Sorglosigkeit. Es geht um die Konkurrenz der unser Leben tragenden Grundeinstellungen. Worauf kommt es am Ende im Leben? Was geben wir denen weiter, die nach uns auch noch auf dieser Erde leben wollen? Was ist es wert, dass wir es weitergeben? Worauf kann ich mich verlassen, wenn ich von allen verlassen bin?

Im Leben nur seine eigenen Schäfchen ins Trockene bringen – das ist keine Sorglosigkeit im Sinne Jesu. Weil wir so das Entscheidende im Leben verpassen könnten. Gott in unserem Lebens ins Spiel zu bringen, darum geht es. Wir können uns gegen vieles versichern. Aber niemand kann uns garantieren, dass unser Leben gelingt. Wir können uns vieles leisten. Aber unser Lebensglück – es ist nicht käuflich.

„Fragt danach, was bei Gott zählt“ – so werden wir ermahnt. „Dann wird euch das andere alles zufallen. Dieser Zufall Gottes ist der entscheidende Zu-Fall unseres Lebens. Diesen Zu-Fall Gottes sollten wir uns gefallen lassen. Dann werfen uns die anderen Zufälle nicht mehr aus der Bahn.

Heute noch, an diesem Sonntag, könnten wir damit anfangen, mit der Aufforderung Jesu ernst zu machen. Und uns nicht schon heute in der Sorge für morgen verstricken. Erntedank ist darum kein Fest der Absicherung. Kein Dank für das, was wir am Ende doch unserer eigenen Leistung zuschreiben. Erntedank ist das Fest des fröhlichen Leichtsinns derer, die wissen: Unser Leben bleibt ein Gang über das Wasser. Aber wir können dieses Risiko eingehen. Weil wir unsere Sicherheit nicht in uns selber gründen müssen.

Die alten Erntefeste dienten dem Zweck, die Götter gnädig zu stimmen. Wir feiern Erntedank, weil wir wissen, dass Gott uns gnädig gestimmt ist. Und es gut mit uns meint. Darum sorgen wir uns um die, die nicht wissen, was sie morgen essen und womit sie sich kleiden. Kümmern wir uns um mehr Gerechtigkeit in dieser Welt. Und um ein Ende dessen, was Menschen bedrückt und klein macht. Andere Sorgen um unsere Zukunft müssen wir uns nicht machen. Weil Gott uns alles andere zufallen lässt.

Darum ist heute Zeit für den Dank. Den großen, weil wir genug zu essen haben. Und den kleinen, weil Gott auch der Gang der Geschichte nicht gleichgültig ist. Und wir uns heute über 20 Jahre in neuer Gemeinsamkeit in unserem Land freuen können.

Und wenn wir mit offenen Augen durchs Leben gehen, werden wir noch genügend Anlass haben zustaunen, was Gott uns alles zufallen lässt. Und was es in jedem Menschenleben zu ernten gibt. Das lasst uns heute feiern – am Erntedanktag 2010. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.