PREDIGT AM BEGINN DER BEZIRKSSYNODE
DES KIRCHENBEZIRKS NECKARGEMÜND-EBERBACH
AM MITTWOCH, DEM 24. NOVEMBER 2010
IN MECKESHEIM

24.11.2010
Umbruchszeiten sind allemal die spannendsten Zeiten, liebe Gemeinden. Das ist im Leben so, wenn wir mit einem Mal vor ganz neuen Fragen und Herausforderungen stehen. Umbruchszeiten sind meist auch mit Krisen verbunden. Aber Krisen sind keine Katastrophen. Krisen sind Aufforderungen, alles noch einmal zu durchdenken. Und mit unserem Denken und unserem Handeln womöglich noch einmal ganz anders und ganz neu anzusetzen.

Umbruchszeiten sind die spannendsten Zeiten. Das werden Sie hier im Kirchenbezirk in den letzten Monaten auch gespürt haben. Und darum werden Sie froh sein, wenn von dieser Synodaltagung ein ermutigendes Signal für die Zukunft ausgeht.

Umbruchszeiten sind die spannendsten Zeiten. Das gilt auch für die Tage des Kirchenjahres, die jetzt angebrochen sind. Ohne dass wir es womöglich wirklich wahrgenommen haben, leben wir in dieser Woche gewissermaßen „zwischen den Zeiten“. Der Ewigkeitssonntag liegt hinter uns. Und die Tage des Kirchenjahres, in denen wir uns an die letzten Dinge und die letzten oft schweren Fragen des Lebens erinnern lassen, sind wie jedes Jahr zu ihrem Recht gekommen. Wir haben der Verstorbenen des letzten Kirchenjahres gedacht. Und wir haben davon gehört, gepredigt und gesungen, dass wir am Ende nicht ins Nichts fallen. Sondern aufgehoben bleiben in der Lebendigkeit Gottes.

In der Mitte dieser Woche fällt der Blick aber auch schon nach vorne. Auf den kommenden Sonntag. Dann feiern wir den ersten Advent. Dann lassen wir uns wieder anstecken von der Sehnsucht, dass Gott seinen Platz einnimmt in dieser Welt. Mit Haut und Haaren Menschen wird. Ganz und gar. Und dass er sich einmischt in die todbringenden Ränkespiele, die das Leben auf diesem Planeten nach wie vor bestimmen. Und die sich auch im Kleinen auf unsere Beziehungen legen: verletzend, lähmend, uns unserer Hoffnungen beraubend.

Und der Tiefe der Enttäuschungen entspricht dann wieder unsere Sehnsucht, Gott möchte es nicht aushalten in himmlischer Abgeschiedenheit. Gott möge sich zu erkennen geben mitten in den Wirklichkeiten und den Widrigkeiten des Lebens. Und all diese Hoffnungen kleiden wir ein in den Modus der Erwartung.

Der Advent ist eine Zeit, das Warten einzuüben und auszuhalten, ehe wir an Weihnachten dann wieder in den vorweggenommenen Jubel der Engel einstimmen und in ihr „Ehre sei Gott in der Höhe“ erklingen lassen – auch wenn auf der Erde noch lange nicht alles zum Besten bestellt ist.

So ist diese letzte Woche des Kirchenjahres die Woche der doppelten Hoffnung: der Hoffnung auf ein Leben, das unser Leben hier überdauert und übersteigt. Und zugleich eine Woche, in der schon die große Erwartung auf das Fest der Gegenwart Gottes mitten in dieser Welt am Horizont ihr Licht aufscheinen lässt.

Die Bibel verwendet Bilder, die der Seele gut tun, wenn sie die große Zukunft Gottes bei den Menschen beschreibt. Ein solch kühne Zukunfts-Vision haben wir vorhin als Lesung gehört. Es ist eine der ganz bekannten Hoffnungstexte, der auch politisch schon große Wirkung erzielt hat: Schwerter zu Pflugscharen! Das Bild wurde aufgenäht auf Ärmel und Jacken, es wurde aufgeklebt auf Taschen und Ringbücher – und diese unscheinbaren Bilder haben mitgeholfen, einen Staat das Fürchten zu lehren. Und ihn an sein Ende zu bringen.

Neben dieser gewissermaßen ländlichen Vision mit Pflügen und Sicheln gibt es ein anderes Bild einer besseren Zukunft in der Gegenwart Gottes. Dieses andere Bild ist das Bild einer Stadt. Und ich lese jetzt Verse aus Offenbarung 21, die sich unmittelbar anschließen an den Predigttext des vergangenen Ewigkeitssonntages. Die Bilder sind so überbordend, das ich mich beim Auswählen der Verse beschränken musste. Schließlich wollen Sie nachher als Synode noch einiges vor. Ich lese also ausgewählte Verse aus Offenbarung 21 über die neue Stadt Gottes:

Und einer von den sieben Engeln, führte mich im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem aus dem Himmel von Gott auf die Erde herab gekommen, die hatte die Herrlichkeit Gottes; Und ich sah keinen Tempel darin; denn der Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, er und das Lamm.
Und nichts Unreines wird in die Stadt hineinkommen und keiner, der Gräuel tut und Lüge, sondern allein, die geschrieben stehen in dem Lebensbuch des Lammes.
Und es wird keine Nacht mehr sein, und sie bedürfen keiner Leuchte und nicht des Lichts der Sonne; denn Gott der Herr wird sie erleuchten, und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit.


Eine Stadt als Bild des Ortes der bleibenden Gegenwart Gottes. Das war nicht immer so. Rousseau wollte den Weg in die Zukunft mit seinem Programm des „Zurück zur Natur“ finden. Auch für die Romantiker war die Natur das Sinnbild der harmonischen Welt. Die Städte der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts wuchsen mitten hinein in die verblieben Natur; dehnten sich aus an den grünen Rändern. Das Land war der Zielpunkt der Sehnsucht nach einem Ort, an dem zu leben sich lohnt. An dem sich Spieße zu Sicheln und Schwerter zu Pflugscharen umschmieden lassen.

In den letzten Jahren haben sich die Lebensräume wieder verwandelt. Die Altstadt war nicht länger ein Synonym für verödete Innenstadtquartiere. Leben in der sanierten Altstadt - so lautete nun plötzlich das neue Programm. Ein Leben, das attraktiv ist und das zusehends unerschwinglich wird.

Was in unseren Breiten dem Geschmack für das Lebenswerte überlassen bleibt, ist weltweit kein Thema. Die Stadt ist der Lebensort der großen Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten. Wir müssen uns nur einmal die großen Metropolen in Asien vorstellen. Dagegen nimmt sich unsere Metropolregion hier doch sehr bescheiden aus.

Der Seher Johannes hat keine Mühe, uns eine Stadt als Ort der Zukunft bei Gott vor Augen zu stellen. Das neue Jerusalem. Es ist die ideale Stadt. Es ist der Versuch, sich die Ewigkeit Gottes so vor Augen zu stellen, dass wir mit unserem Vorstellungsvermögen nicht auf de Strecke bleiben.

Das Bild einer Stadt – und doch unterscheidet sie sich von dem, was wir uns unter einer Stadt vorstellen. Die wunderbaren Beschreibungen der Bausubstanz habe ich erst gar nicht vorgelesen. Da funkelt und glitzert es vor lauter Edensteinen. Aber auch ohne diese Beschreibungen des Wunderbaren bleibt noch genug, was eine Botschaft für uns enthält. Drei Punkte sind auffällig.

Zunächst: Diese Stadt ist ein guter Ort. Kein Gräuel und kein Frevel. In dieser Stadt gehen die Menschen gerecht miteinander um. Ohne Ausnahme. Diese Stadt ist ein Leuchtturm des Rechts. Und sie entspricht dem, was wir Menschen sich wünschen. In dieser Stadt geht also alles mit rechten Dingen zu.

Damit aber noch nicht genug. In dieser Stadt ist auch der Wechsel von Tag und Nacht aufgehoben. Es gilt nicht mehr: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Diese Stadt beschreibt die Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit. Sie beschreibt die Schöpfung, die ans Ziel gekommen ist.

Dies gilt auch für das dritte Kennzeichen den neuen Jerusalems. Ist das alte Jerusalem in seiner Geschichte unauflöslich mit dem Tempel verbunden – im neuen Jerusalem suchen wir den Tempel vergeblich. Gott selber ist der Tempel dieser Stadt. Heilig ist nicht mehr ein ausgegrenzter Ort. Die Heiligkeit Gottes hat in dieser Stadt gewissermaßen Gestalt angenommen.

So wie Gott Gestalt angenommen hat in diesem Kind, auf das sich unsere adventlichen Erwartungen richten. Ist diese Stadt aber ein Ort des ewigen Glanzes – das Kind geht den Weg durch Armut und Tod. Ist diese Stadt der Ort ohne den Wechsel von Sonne und Mond - so verdunkelt sich der Himmel, als der seinen Atem aushaucht, aus dem uns Gottes Gegenwart entgegen leuchtet. Ist diese Stadt der Ort der Gegenwart Gottes, die Stadt, die eines Tempels nicht mehr bedarf - so klingt uns doch ganz anderes in den Ohren. Der Ruf nach dem verborgenen Gott: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“

Das neue Jerusalem ist der Ort, der all unsere Vorstellungen sprengt. Der Ort, der sich auch unserer Zuständigkeit und Verantwortung entzieht. An uns ist es, uns um das alte Jerusalem zu kümmern. Den Ort, der für alle Orte steht, an denen gelitten wird und gestorben. An uns ist es, uns um das alte Jerusalem zu kümmern. Uns zu sorgen um Frieden auf dieser Erde. Um Gerechtigkeit für die, die immer wieder zu kurz kommen. An uns ist es, Gottes Menschenfreundlichkeit und Gottes Weltzugewandtheit öffentlich zu machen und im Gespräch zu halten.

Auch hier geht nichts, wenn Gott nicht seinen Segen dazu gibt. Aber Gottes Segen und menschliche Verantwortung schließen sich nicht aus. Darum ist es gut, wenn wir uns daran beteiligen, dem Recht in dieser Welt einen Ort zu geben. Darum ist es gut, wenn wir mithelfen, die Kirche zu einem Ort zu machen, an dem Menschen etwas von Gottes Gegenwart spüren können. Darum lassen wir uns ein auf oft mühsame Wege, auf denen wir auch in der Kirche in die Zukunft gehen können. Darum haben wir Synoden. Darum wählen wir Dekaninnen und Dekane. Denn all diese Wege müssen begleitet und gestaltet werden, damit sie nicht im Ungefähren enden.

Das neue Jerusalem ist das Bild, das die Zukunft Gottes mit uns von ihrem Ende her sieht. Wir leben im Glauben. Nicht im Schauen, um es in der Sprache der Bibel zu sagen. Wir nehmen im Glauben vorweg, was in seiner Fülle erst noch aussteht.

Im Talmud steht ein schöner Satz. Da heißt es: „Gott wird das himmlische Jerusalem nicht betreten, er habe denn zuvor das irdische betreten.“ Gott betritt das irdische Jerusalem immer und immer wieder. Auch in dem einen, in dem er uns nahe kam wie in keinem anderen sonst. Jerusalem und all die Orte, an denen wir leben, sind Gott nicht fern.

Aber noch leben wir „zwischen den Zeiten“. Noch sind es die Hoffnungen und Sehnsüchte, die unser Leben bestimmen. Noch ist der Advent der Weg, auf dem wir Gott entgehen gehen: Erwartungsvoll und bereit zur Umkehr. Aber immer in der Gewissheit. Das Größte steht noch aus!

Aber in der Welt des Zweitgrößten hat Gott uns genug zu tun übrig gelassen. Auch heute in der Bezirkssynode. Und in all dem, was wir tun, geht der Weg dem entgegen, was uns heute erst als Hoffnung entgegenleuchtet. Noch wechseln sich Licht und Dunkel ab. Im Auf und Ab jedes Menschenlebens. Aber das Dunkel hat keine Zukunft mehr. Gottes Zukunft kommt uns licht entgegen. Das lasst uns feiern im Advent. Das lasst uns singen.

Es sind gewaltige Umbruchszeiten, auf die wir zugehen. Die Nacht ist im Schwinden. Und Gott ist im Kommen! Oder um es mit dem Lied zu sagen, das wir jetzt gleich singen werden:

Beglänzt von seinem Lichte
hält euch kein Dunkel mehr.
Von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.

Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.