ANSPRACHE ÜBER JESAJA 35,5
IM RAHMEN DER MORGENANDACHT
WÄHREND DER FRÜHJAHRSTAGUNG
DER LANDESSYNODE AM 28. APRIL 2012

28.04.2012
Liebe Synodalgemeinde!

Heute ist der letzte Tag dieser Frühjahrssynode. Vieles wurde beraten, am Tag und bis in die Nacht. Vieles wurde nach den offiziellen Beratungen noch nachgegart. Wie im richtigen Leben mit einem ordentlichen Schuss Rotwein verfeinert oder mit Bier abgelöscht.

Die Synodenkondition kommt an ihre Grenze. Und wir müssen vor dem für diese Morgenandacht vorgeschlagenen Vers der Tageslosung zunächst erst noch den vorausgehenden Vers würdigen und wahrnehmen. Ein Vers, so richtig treffend für die Synodenschlussbefindlichkeit. Denn da heißt es beim Propheten Jesaja Kapitel 35 Vers 4, wie wir es eben schon gehört haben: „Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!“

Ganz ohne Zweifel ist das eine angemessene Bitte der bis an ihre Grenzen geforderten Synodalen. Ein letzter Kraftakt steht heute auf der Tagesordnung. Ermöglicht durch gute Vorbereitungen in den Ausschüssen. Genährt von der Aussicht, dass den drei Nächten hier in Bad Herrenalb heute keine vierte nachfolgen wird.

Dann aber geht der Text weiter. Und führt mit einem Mal mitten hinein in das Zentrum der Theologie, wenn es heißt. „Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!“

Um die Gottesfrage geht es also. „Seht, da ist euer Gott!“ Brisant und gefährlich kommt dieser Satz daher. Gott wird identifiziert. Wird zur Erkenntnis frei gegeben. „Da ist euer Gott!“ Da ist dein Gott!

Wie kann ich Gott im Leben identifizieren? Im größeren Zusammenhang dieses Kapitels scheint die Frage noch einigermaßen klar zu beantworten. „Die Wüste wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. Die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, die Pracht von Karmel und Scharon. Sie sehen die Herrlichkeit des HERRN, die Pracht unsres Gottes.“ Wo die Wüste zum Blühen kommt. Wo wankende Knie gestärkt werden. Wo neue Kräfte zuwachsen – da ist Gott.

Diese Erkenntnis ist nicht auf eine bestimmte historische Situation beschränkt. Und darum können wir auch die Uneinigkeit der Exegeten zu diesem Kapitel einigermaßen schadlos aushalten. Eigentlich sind diese ersten 39 Kapitel des Jesajabuches ja zur Zeit des Jesaja zu datieren. Sie gehören also ins 8. Jahrhundert vor Christi Geburt. Und bilden damit den ältesten Gebäudeteil – um mein Bild von vorhin noch einmal aufzunehmen.

Dieses 35. Kapitel bleibt aber in seiner Textumgebung merkwürdig fremd. Es lässt schon den Jubel zweihundert Jahre später erahnen, als die Verbannten sich auf den Weg aus Babylon in ihre Heimat machen. Das „Töstet, tröstet mein Volk“ aus Kapitel 40, die Melodie des Liedes der Hoffnung auf Heimkehr - hier klingt sie schon unüberhörbar an. Das Kapitel 35 ist also womöglich von denjenigen, die dem Jesajabuch seine heutige Gestalt gegeben haben, irgendwie in die älteren Teile hineingeschmuggelt worden. Ein Meteorit der Hoffung in einer eher düsteren Umgebung. Eine helle, jüngere Farbe mitten im alten Gebäudeteil.

Wie dem auch sei – dieses „Da ist dein Gott!“ – es ist ohnedies eine beinahe zeitlose Deutungskategorie. Aber dieser deutenden Finger zeigt nicht selten in ganz andere Richtung. „Woran du dein Herz hängst, da ist dein Gott!“ Das können wir etwa in Luthers großem Katechismus lesen.

Und Luthers Beispiel zu diesem Satz ist überwältigend aktuell. Und allen Euro-Priestern sei es ins Stammbuch geschrieben: „Das muss ich ein wenig grob ausstreichen, dass man’s verstehe und merke. … Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat, verlässt und brüstet sich darauf so steif und sicher, dass er auf niemand etwas gibt.

Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißt Mammon, das ist Geld und Gut, woran er sein ganzes Herz hängt; und das ist der am weitesten verbreitete Abgott auf Erden. Wer Geld und Gut hat der wähnt sich sicher, ist fröhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies; und wiederum, wer keins hat, der zweifelt und verzagt, als wisse er von keinem Gott. Denn man wird gar wenige finden, die guten Muts sind, nicht trauern noch klagen, wenn sie den Mammon nicht haben; es klebt und hängt der Natur an bis ins Grab.“

Wer sehen will, woran Menschen ihr Herz hängen, wird also kaum allein in blühenden Wüsten fündig. Ein weiteres Beispiel: Wenn demnächst die Meisterschale in Dortmund ehrfurchtsvoll geküsst wird, mag es sich so anhören, als singe die Menge das Lied „Amazing Grace“. Tatsächlich singt sie aber mit derselben Melodie: „Leuchte auf, mein Stern Borussia!“ Die Gnade muss dem Erfolg weichen. Da lässt sich erahnen, wo Gott heute auch noch zu finden ist.

Wenn das Herz einer Sache zugeneigt ist – so sehr, dass anderes daneben keinen Platz mehr hat, dann kann sich dies auch zum fatal-einseitigen Hang entwickeln – und gottgleiche Züge annehmen. So dicht gefüllt ist dieser Götterhimmel, wie die Erde von Menschen gefüllt ist.

Aber es ist nicht derselbe Gott wie der, der gemeint ist, wenn wir hören: „Da ist dein Gott!“ Gott ist einzig. Und nicht beliebig. Nicht wohlfeil und austauschbar. Wo Gott inflationär daherkommt, reden wir zu Recht und angemessener eher von Göttern.

Statt ihn wohlfeil zu machen verschweigen wir bisweilen Gott einfach auch. Geben Gott verloren. Finden nicht einmal mehr den Mut, die Lücke wahrzunehmen. „Wer sagt, es gebe Gott nicht und nicht dazu sagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung.“ Dieser letzte Satz ist ein Zitat. Es stammt aus einem Vortrag in der Harvard Universität am 9.Novemebr 2011. Martin Walser hat ihn gehalten und anschließend zum Essay überarbeitet. Im März wurde er veröffentlicht.

„Über Rechtfertigung – eine Versuchung“ lautet der Titel. Seine Kernthese: Das Nachdenken über Rechtfertigung ist uns abhanden gekommen. „Übrig geblieben ist das Rechthabenmüssen. Recht zu haben ist der akzeptierte Ersatz für Rechtfertigung.“

Ich bin nicht sicher, ob Walser gänzlich recht hat. Schließlich müssen wir uns unentwegt rechfertigen. Aber die Instanz, vor der wir uns rechtfertigen müssen, das sind unsere Mitmenschen. Die Instanz dagegen, die uns rechtfertigt, die uns zuspricht: Du bist mir recht – das ist Gott.

Und mit einem Mal steht in einer ur-protestantischen Wendung Gott selber wieder im Mittelpunkt. Seine völlige Andersartigkeit. Und seine Bestreitung. Der junge Karl Barth und Friedrich Nietzsche führt Walser gleichermaßen als Zeugen an.

„Seht, da ist euer Gott!“ Wer sagt, dass Gott nicht ist, muss zumindest sagen, wie Gott fehlt. Gott ist da, als der, der uns rechtfertigt. Oder wir setzen uns eben dem Zwang des Rechthabenmüssens aus.

Ein letztes will ich zumindest nicht verschweigen. Dieses „Seht, da ist euer Gott“ - das ist noch nicht das letzte. „Gott kommt zur Rache“, geht der Vers noch weiter. „Gott, der da vergilt“. Dies ist die dunkle Seite dieses Textes. Und womöglich auch die dunkle Seite Gottes.

Und ich wünsche mir schon, dass die Erkenntnis des rechtfertigenden Gottes dem rächenden Gott den Weg verstellt. Und den Boden entzieht. Wer sagt: „Sieh, das ist dein Gott!“ und Gottes Knecht dann in einem entdeckt, der unsere Krankheit trägt, der für uns eintritt, der hat eigentlich keinen Raum mehr für den rächenden Gott. Bestenfalls noch für eigenen Rachegelüste. Vor denen sind wir tatsächlich nie gefeit.

Rache ist nichts anderes als die Form eines anders nicht mehr zu artikulierenden Hilfeschreis. Rache ist das Eingeständnis eigener Hilflosigkeit, die sich in destruktives Handeln flüchtet. Da ist es allemal besser, sich seine Schwächen einzugestehen. Und darauf zu vertrauen, dass uns einer zuruft: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!“

Möge dieser Gott mit gehen durch diesen letzten Tag. Und dann auch in die neuen Tage zu Hause. Und wohin uns unsere Wege heute noch führen. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.