PREDIGT ÜBER 1. KORINTHER 13,13;14,1-4.15-17.22-25
AUS ANLASS DER BEZIRKSVISITATION
GEHALTEN AM 17. JUNI 2012 (2.S.N.TR.)
IN DER EVANG. KIRCHE IN FLINSBACH

17.06.2012
Liebe Gemeinde!

Woran kann man die Kirche erkennen? Was macht Kirche aus? Es gibt verschiedene Wege, diese Frage zu beantworten.

Erkennen können wir die Kirche – zumindest bei uns - an den Gebäuden, die für eine Kirchengemeinde typisch sind. Traditionell sind das drei Typen von Gebäuden: Das Kirchengebäude. Das Gemeindehaus. Das Pfarrhaus. Über Jahrhunderte hat dieser Gebäude-Dreiklang die Gemeinden geprägt. Unverkennbar konnte man feststellen: Hier ist Kirche!

Aber Vorsicht! Längst nicht überall sind alle drei Gebäude zu finden. Vielfach gibt es nicht einmal mehr ein klassisches Kirchengebäude. Mit einem Längsschiff. Und einem Kirchturm. Es gibt Gemeindezentren. Es gibt Hauskirchen. Seit den Anfängen der Kirche. Gottesdienste, die in einer Wohnung oder sogar im Untergrund gefeiert werden. Da, wo die Kirche weniger Geld hat als bei uns. Da, wo sie verfolgt wird.

Da ist dann Kirche – ohne Kirche. Ohne einen klassischen Kirchenbau. Da können wir entdecken: Auf das Gebäude kommt es nicht an. Sondern auf die Menschen.

Das ist dann die zweite Antwort auf die Frage: Was macht Kirche aus? Kirche ist da, wo Menschen sich zur Kirche zugehörig fühlen. Wo Menschen sich zur Kirche halten. Wo Menschen Kirche sind.

Es gibt Menschen genug – und es gibt sie immer mehr - , die können ohne Kirche sein. Aber es gibt keine Kirche, die ohne Menschen sein kann. Leib Christi, das lässt sich nur erleben, wenn Menschen gemeinsam feiern. Gemeinsam nach Gott fragen. Ihr Leben in Verantwortung vor Gott gestalten. Aber Gemeinschaft im Fragen und im Suchen nach Gott – ist das schon genug, wenn wir danach fragen, was Kirche ausmacht?

Keine der beiden Antworten ist falsch. Aber keine der beiden Antworten reicht aus, wenn wir danach fragen, was Kirche ausmacht.

Der Predigttext für den heutigen 2. Sonntag nach dem Trinitatisfest schlägt eine weitere Antwort vor. Oder ergänzt die beiden Antworten, die ich bisher gegeben habe. Die Antwort des Predigttextes besteht im Grunde nur aus einem Wort. Und dieses Wort wird dann weiter ausgeleuchtet und auf das Leben der Menschen angewendet.

Hören wir also auf Worte aus einem Brief, den der Apostel Paulus in der Mitte des ersten Jahrhunderts an die Gemeinde in Korinth geschrieben hat. Ich lese Verse, die mit einer Ausnahme im 14. Kapitel des ersten Korintherbriefes zu finden sind.

Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen Rede! Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geist von Geheimnissen. Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde.

Wie soll es denn nun sein? Ich will beten mit dem Geist und will auch beten mit dem Verstand; ich will Psalmen singen mit dem Geist und will auch Psalmen singen mit dem Verstand. Wenn du Gott lobst im Geist, wie soll der, der als Unkundiger dabeisteht, das Amen sagen auf dein Dankgebet, da er doch nicht weiß, was du sagst? Dein Dankgebet mag schön sein; aber der andere wird dadurch nicht erbaut. Darum ist die Zungenrede ein Zeichen nicht für die Gläubigen, sondern für die Ungläubigen; die prophetische Rede aber ein Zeichen nicht für die Ungläubigen, sondern für die Gläubigen.

Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in Zungen, es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht sagen, ihr seid von Sinnen? Wenn sie aber alle prophetisch redeten und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, der würde von allen geprüft und von allen überführt; was in seinem Herzen verborgen ist, würde offenbar, und so würde er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist.


Gleich am ersten Vers haben Sie erkannt, wo dieser Text in der Bibel zu finden ist: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Der erste Vers des Predigttextes ist der letzte des sogenannten Hohen Liedes der Liebe. Und der nächste Vers beschreibt gleich in einem einzigen Satz das ganze theologische Programm des Paulus: Da schreibt Paulus ganz klar und knapp: „Strebt nach der Liebe!“

Wie kommt Paulus gerade auf dieses Thema zu sprechen? Paulus kennt die Gemeinde in Korinth. Es ist wahrhaftig keine Allerweltsgemeinde. Eine Gemeinde, so bunt wie die damalige Welt. Schon die ganze Stadt Korinth – sie ist ein Cocktail aus allem, was die Welt damals ausgemacht hat. Reiche und Arme. Hafenarbeiter und Villenbesitzer. Frauen, wie die selbstbewusste Cloe, und Männer, wie Erastus, die das Vermögen der Stadt verwalten.

Menschen jüdischen Glaubens, Menschen, die den vielen alten und neuen Religionen huldigen. Dazwischen die Anhänger dieses Christus, von denen niemand so richtig weiß, wohin man sie stecken soll. Sie passen in keinen Rahmen.

Und die Gemeinde ist gespalten in die unterschiedlichsten Gruppen. Und es ist wie immer: Wo es Unterschiede gibt, gibt es Konflikte. Gibt es Reibung. Die einen tafeln im heidnischen Tempelrestaurant und machen sich kein Gewissen deshalb. Die andern werden dadurch in höchstem Maße verunsichert. Und sie fragen sich: Dürfen die das?

Die Gemeindeglieder sind an den Namen der Prominenten ausgerichtet. Mich hat Paulus getauft. Darauf heben die einen ab. Und mich Apollos, der Starprediger, sagen die anderen. Und die dritten Gruppe beruft sich gleich auf Christus: Wir sind die Christuspartei! So lautet ihre Parole. Als ob es darauf ankäme.

Es gibt auch soziale Spannungen. Die wohlhabenden Gemeindeglieder haben schon gegessen, bis die ärmeren dazu kommen. Und Paulus geht heftig mahnend dazwischen. So kann es in einer Gemeinde schließlich nicht zugehen. Schließlich sind auch die Gottesdienste ein Spiegelbild dieser Vielfalt. „Unser Gott ist doch kein Gott der Unordnung“, schreibt Paulus nach Korinth. „Haltet also Frieden miteinander.“

Paulus ist so etwas wie ein Visitator. Er hört. Und sieht. Und er schreibt einen Bescheid. Der erste Korintherbrief, das ist so etwas wie ein frühchristlicher Visitationsbescheid. Und mitten in all den Spannungen, in all den Parteibildungen, mitten in allen Konflikten macht ihm ein Konflikt besonders zu schaffen. Ihm widmet er seine besondere Aufmerksamkeit. In diesem Konflikt geht es nicht nur um ein angemessenes Verhalten. In diesem Konflikt geht es um das Ganze. Da geht es um die Grundlagen der Kircheseins.

Genau das ist das Thema des Predigttextes. Dieses Thema, dieser Konflikt ist den meisten hier durchaus fremd. Für’s Erste zumindest. Es geht um den Konflikt der rechten Gottesdienstgestaltung. Es geht um den Konflikt zwischen dem Zungenreden und dem, was Paulus prophetisches Reden nennt.

Ich weiß nicht, wer von Ihnen schon einmal Zungenreden erlebt hat. Ein Form des Redens, eine Weise des Ergriffenseins, die für Außenstehende fremd ist. Sie hören ein Summen, sie hören Laute, sie spüren ein Ergriffensein, aber sie verstehen nicht, was in den Menschen vorgeht, die die Zungenrede üben.

Die Menschen haben damals diese Weise des Redens als eine Wirkung des Heiligen Geistes verstanden. Heute finden wir diese Form der Wirkung des Geistes vor allem in den Kirchen, die wir Pfingstkirchen nennen. Oder auch charismatische Kirchen. Dahinter verbirgt sich die Vermutung: An Pfingsten haben die Nachfolger Jesu in Zungen geredet. Und alle haben es ganz ähnlich getan, egal, wo die Menschen herkamen. Daher stammt dann die Beobachtung, sie hätten in fremden Sprachen gesprochen.

Ich weiß nicht, ob wir es an Pfingsten wirklich mit dem Phänomen der Zungenrede zu tun haben. Schließlich heißt es in der Apostelgeschichte, die Menschen seien von den anderen verstanden worden. Und Paulus beschreibt ja geradezu das Gegenteil. Er kritisiert an der Zungenrede, dass andere sie nicht verstehen.

Wichtig ist dennoch: Es sind die charismatischen Gemeinden, die heute am schnellsten wachsen. Ganz gleich, ob in Afrika, in Asien oder in Lateinamerika. In wenigen Jahrzehnten wird die Mehrzahl der Christinnen und Christen weltweit charismatischen Kirchen und Gemeinden angehören. Dies darf uns nicht gleichgültig sein. Und wir dürfen das auch nicht einfach schlechtreden. Wir brauchen vor allem einen Maßstab, um diese Entwicklung beurteilen und bewerten zu können.

Paulus formuliert einen solchen Maßstab. Seine Antwort ist sehr eindeutig. Geistliche Rede, die für andere unverständlich bleibt, schadet der Kirche. Daher zieht er die prophetische Rede der geistlichen vor. Prophetische Rede, das meint, erhellende, aufdeckende Rede. Prophetische Rede, das ist das, was Menschen bis heute von der Kirche erwarten. Prophetische Rede, das ist eine Form der geistlichen Rede, die die Zeichen der Zeit wahrnimmt. Die sie beschreibt. Und die sie deutet.

Prophetische Rede, das ist eine Weise der geistlichen Rede, die jedermann und jedefrau verstehen kann. Und genau darauf kommt es Paulus an.

Woran kann man Kirche erkennen? Was macht Kirche aus? So habe ich am Anfang der Predigt gefragt. Kirche erkennen wir daran, dass sie nach der Liebe lebt. Und dass sie nach der Liebe strebt – um es mit den Worten des Paulus zu sagen.

Eure Zungenrede – sie mag Euch selber geistlich erbauen, schreibt Paulus nach Korinth. Aber wenn ein Fremder in den Gottesdienst kommt, was wird er anderes sagen können, als dass er – im guten Fall – staunend feststellt, eine exotische Form des Sprechens wahrgenommen zu haben. Im wahrscheinlicheren, schlechteren Fall, kommt der Fremde zu dem Urteil: Bei denen stimmt etwas nicht.

Ganz anders verhält es sich mit der prophetischen Rede. Die Menschen verstehen, was sie hören. Sie verhalten sich dazu. Ziehen vielleicht traurig davon wie der reiche junge Mann, dem Jesus empfiehlt, seinen Besitz zu verkaufen. Oder- im besseren Fall – werden sie neugierig. Fragen nach. Kommen wieder. Wollen am Ende dazugehören. Lassen sich taufen.

Kirche darf sich nie selbst genügen. Kirche darf nie Selbstzweck sein – darauf legt Paulus großen Wert. Kirche ist kein Verein zur Pflege der eigenen Innerlichkeit. Keine Wohlfühlgesellschaft. Kirche richtet sich nach außen. Will die Welt verändern. Will Menschen mit dem Gottesthema infizieren. Will sie zu mehr Gerechtigkeit verleiten. Kirche will Menschen gewinnen!

„Strebt nach der Liebe!“, schreibt Paulus nach Korinth. Die Liebe bleibt nie nur bei sich. Die Liebe fragt immer auch nach den anderen. Deshalb kritisiert Paulus die Menschen, die im Tempelrestaurant Götzenopferfleisch essen. Nicht weil es an sich schädlich wäre. Nein, weil es das Gebot der Liebe verletzt. De Liebe gegenüber denjenigen, die damit Mühe haben.

Die Liebe fragt immer auch nach den anderen. Deshalb erweist sich Paulus an Anhänger der prophetischen Rede.

Wenn die Menschen hören, dass sie vor Gott ihre Würde haben. Sogar sein Ebenbild sind. Diese Botschaft verändert ihr Leben. Wenn Menschen hören, dass Gott mehr an Gerechtigkeit will. Dass eine Welt, in der die einen im Wohlstand schwimmen und die anderen darben, keine Welt ist, die Gottes Willen entspricht, dann macht das den Menschen Mut. Dann setzen sie sich selber ein für den Traum von einer besseren und gerechteren Welt.

Wenn Menschen hören, dass ihr Leben nicht die einzige Möglichkeit ist. Dass sie noch ganz anders leben könnten. Dass sie Gott in ihr Leben einbeziehen können. Dass Gott sie einbeziehen will, dann spüren sie: Sie können noch einmal neu anfangen. Dann sind sie eine neue Kreatur. Dann können sie leben in der Nachfolge dessen, der uns in seinem Leben vorangegangen ist. Und der uns glauben lässt, dass der Tod nicht das Ende ist.

Eine Kirche der Liebe – das kann keine Kirche sein, die nur unter sich bleibt. Eine Kirche ist immer eine offene Kirche. Eine Kirche, die redet „zur Erbauung, zur Ermahnung und zur Tröstung“ der anderen – um noch einmal den Apostel Paulus zu Wort kommen zu lassen.

Das ist auch der tiefere Sinn einer Visitation. Visitationen halten die Türen und Fenster auf. Visitationen wollen hören, ob die Kirche von denen außen noch verstanden wird. Visitationen wollen erbauen und trösten, weil Kirche gerade darauf immer angewiesen ist. Auch Sie hier, als Gemeinde von Bargen und von Flinsbach.

Visitationen wollen Hilfe geben auf dem Weg des Kircheseins. Oder noch einfacher. Und mit den Worten des Paulus: Sie wollen sagen: „Strebt auch weiterhin nach der Liebe!“

Mehr braucht’s nicht, um Kirche zu sein. Nicht Zungenrede. Nicht eine unverständliche Sprache Kanaans, die außerhalb der Kirche niemand versteht. Nicht den Rückzug aus der doch so schlechten Welt, in der wir leben. Am Ende braucht es womöglich nicht einmal mehr die prophetische Rede.

Nicht mehr braucht es um Kirche zu sein als Gottes Geist. Nicht mehr als die Liebe. Ohne sie wäre alles nicht. Mit ihr kann schon im Wenigen oder sogar im Nichts schon alles liegen. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.