PREDIGT ÜBER APOSTELGESCHICHTE 12,1-11
AM SONNTAG, DEN 23. SEPTEMBER 2012
- 16. SONNTAG NACH TRINITATIS -
IN GROSSSACHSEN

23.09.2012
Hauptsache etwas Neues!, liebe Gemeinde. Das ist ein untrügliches Qualitätssiegel der Gegenwart. Hauptsache etwas Neues! Ein neuer Roman. Ein neuer Film. Eine neue Talkshow. Ein neuer Trend in der Mode. Ein neues Gesicht in der Politik.

Neues lässt Aufhorchen. Neues fällt auf. Etwas, das noch nicht abgestanden ist. Noch nicht abgenutzt. Etwas, das noch den Reiz des Neuen ausübt. Neue Besen kehren gut, sagen wir manchmal. Und irgendwie schwingt da die Sehnsucht mit, dass da noch etwas aussteht. Dass wir noch nicht am Ende sind mit unserem Latein. Und mit unseren Möglichkeiten.

Und mitten in dieser Sehnsucht nach Neuem feiern Sie einen alten Turm. Einen Turm, dessen Helm an eine Zwiebel erinnert. Und das schon seit 250 Jahren. Der Turm einer Kirche, deren Vorläufer noch viel älter sind. Natürlich waren dieser Turm und diese Kirche auch einmal neu. Und die Gefühle der damaligen Zeuginnen und Zeugen werden womöglich gemischt gewesen sein. Stolz über das neu Wiederhergerichtete und das Neuerbaute bei den einen. Aber bei einigen anderen womöglich doch gehörige Zweifel, ob denn das alles wirklich so richtig gebaut wurde. Ob alles so aussehen musste. Oder ob denn auch etwas ganz anderes denkbar gewesen wäre.

Und heute – heute freuen sie sich an Ihrer Kirche und an ihrem Kirchturm. Der 250. Geburtstag gibt Anlass zum Feiern. Und darum möchte auch ich mich einreihen in die Schar der Gratulierenden. Und ich freue mich, dass ich mit ihnen diesen festlichen Gottesdienst feiern darf.

Die Kirche lebt immer in der Spannung von Altem und Neuem. Sie lebt davon, dass es gelingt, Altes und Neues in eine gelingende Balance zu bringen. Die Kirche birgt sich in uralten Texten. Und gewinnt daraus Orientierung, um das Leben unter ganz neuen Bedingungen zu gestalten.

250 Jahre, die Spanne, die sie heute feiern, das ist immerhin schon ein Achtel von 2000 Jahren Kirchengeschichte. Viel älter, fast so alt wie die Kirche, ist der Text, aus dem wir heute Neues für uns gewinnen sollen. Neue Einsichten. Und neue Aussichten. Neue Hoffnungen und neuen Trost.

Für diesen 16. Sonntag nach Trinitatis ist ein Predigttext vorgeschlagen, der eigentlich nicht so recht passt für das Fest des Geburtstags eines Kirchturms und einer Kirche. Aber es ist zugleich eine Befreiungsgeschichte. Im wirklichen Sinn des Wortes. Und darum wird es sich auch für uns heute lohnen, dieser alten Geschichte Neues abzugewinnen. Wir hören Worte aus Apostelgeschichte 11:

Um diese Zeit legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde (…) und nahm auch Petrus gefangen. Als er ihn nun ergriffen hatte, warf er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn vier Wachen von je vier Soldaten, ihn zu bewachen. Denn er gedachte, ihn nach dem Fest vor das Volk zu stellen. So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott.

Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis. Und siehe, der Engel des Herrn kam herein, und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen. Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und zieh deine Schuhe an! Und er tat es. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir! Und er ging hinaus und folgte ihm und wusste nicht, dass ihm das wahrhaftig geschehe durch den Engel, sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen.

Sie gingen aber durch die erste und zweite Wache und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt führt; das tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen eine Straße weit, und alsbald verließ ihn der Engel. Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt und mich aus der Hand des Herodes errettet hat.


Irgendwie trägt diese Geschichte Elemente eines urchristlichen Krimis an sich. Die Geschichte einer Gefangenenbefreiung haben wir gehört. Nicht irgend eines Gefangenen. Der Gefangene ist eine der zentralen Figuren des frühen Christentums. Die unbestrittene Autorität unter den Jüngern Jesu. Petrus. Der Fels. Der, der ihn gefangen gesetzt hat, das ist Herodes Agrippa. Er ist ein Enkel des berühmten Herodes, den sie alle aus der Weihnachtsgeschichte kennen.

Dieser Herodes Agrippa fürchtet um seine Macht. Darum will er ein Zeichen setzen. Und sich bei den Feinden der ersten christlichen Gemeinden etwas einschleimen, wie wir heute sagen. Er lässt Jakobus ermorden, ebenfalls ein Jünger Jesu. Der Bruder des Johannes.

Da es gut geht, wird Herodes mutiger. Und er bringt auch Petrus hinter Gitter. Kein Zweifel: Er weiß, dass er religiöse Gefühle verletzt. Und er ahnt auch, zu welchen Reaktionen das führen kann. Unter ganz anderen Voraussetzungen können wir das gegenwärtig jeden Tag ja auch den Nachrichten entnehmen.

Er will sicher gehen, dass die Anhänger der Jesusbewegung nicht das Gefängnis stürmen und Petrus befreien. Also setzt er ihn in Einzelhaft. Legt ihn in Ketten. Und lässt ihn streng bewachen.

Aber von der Gemeinde wird anderes berichtet als dass sie Befreiungspläne schmiedet. Von der Gemeinde heißt es: Sie beteten für Petrus zu Gott. Ohne Unterbrechung.

Was dann berichtet wird, ist eine Befreiung der anderen Art. Ein Engel erscheint dem Petrus. Mitten in seinem Verließ. Und wenn sie schon einen Turmhelm haben, der an eine Zwiebel erinnert, so tut diese Geschichte das auch. Denn die Befreiung des Petrus – sie wird beschrieben wie der Weg vom Inneren einer Zwiebel nach außen: Erst fallen die Ketten. Und er ist seinen Wächtern entronnen. Dann folgt der Durchgang durch den ersten Bewachungsring. Dann durch den zweiten. Dann gehen sie durch das eiserne Tor.

Und mit einem Mal hat Petrus Schale um Schale seiner Gefängniszwiebel durchquert. Dann steht er im Freien. Mitten auf der Straße. Und der Engel ist mit einem Mal verschwunden.

Eine alte Geschichte. Und doch voller Aussagekraft. Auch noch beinahe 2000 Jahre später. Zunächst: Petrus erlebt eine Geschichte eines Grenzübertritts. Eine Geschichte, die sich mit unseren tagtäglichen Erfahrungen nicht deckt. Auch nicht mit den Erfahrungen all der Menschen, die weltweit unschuldig in Gefängnissen sitzen. Oder in Lagerhaft gehalten werden.

Petrus erlebt seine Befreiung als ein Geschehen, in dem andere Mächte im Spiel sind. Engel. Petrus kann seinen Engel nicht festhalten. Festhalten können wir Engel nie. Wenn sie ihren Engelsdienst hinter sich gebracht haben, werden wir ihrer nicht mehr habhaft. Auch Petrus muss den weiteren Weg wieder alleine gehen. Und seine Herausforderungen alleine bewältigen.

Eine alte Geschichte. Aber doch aktuell. Immer wieder machen wir die Erfahrung der Begleitung. Bei Petrus ist es ein Engel. Und die Gemeinde, die für ihn betet. Und die ihm auf diese Weise verbunden bleibt. Jede Lebensgeschichte kennt Begleitung. Eltern zuerst. Freundinnen und Freunde. Menschen, die uns wie Engel die Richtung zeigen. Aber dann müssen wir alleine gehen. Verantwortung übernehmen. Schritte wagen ins Unbekannte.

Auch bei Petrus folgen die ersten Probleme auf dem Fuß. Er geht zum Versteck seiner Anhänger, so wird im weiteren Verlauf in Apostelgeschichte 12 berichtet. Aber seine Freundinnen und Freunde lassen ihn erst einmal nicht ins Haus. Sie halten ihn für ein Gespenst. Schließlich wissen sie: Aus dem Gefängnis des Herodes gibt es kein Entrinnen. Das ist das zweite: Befreiungserfahrungen enden nicht einfach in der Feier des Wiedersehens. Nicht selten stoßen solche Erfahrungen auf Skepsis. Sie führen zu Widerspruch.

Eine alte Geschichte. Und uns doch näher als wir womöglich meinen. Fragen tauchen auf: Wofür möchte ich einstehen – so einstehen, dass ich ein Risiko eingehe. Wer weist mir die Richtung? Wie bringe ich Gott ins Spiel? Wann lasse ich mich begleiten? Wann übernehme ich selber die Verantwortung? Rechne ich damit, dass ein Engel mir den Weg weist? Und wage ich dann auch den Schritt ins Freie?

Beim Versuch einer Antwort kommt nun doch noch einmal ihr Kirchturm in den Blick. Ihr Zwiebelturm. Als Gleichnis, das helfen kann, bei der Suche nach Antwort auf diese Fragen weiterzukommen.

Was ist denn ein Kirchturm? Ein Kirchturm – das ist eigentlich ein in Stein gefasstes Bekenntnis. Ein Finger, der über uns hinausweist. Nach oben gerichtet. Unübersehbar. Der Kirchturm – das ist eine sichtbarer Hinweis auf eine Perspektive, die „höher ist als unsere Vernunft“, um es in biblische Worte zu fassen.

Dass heute andere Gebäude die Kirchtürme oft überragen. Und das Bild einer Stadt prägen. Das beschreibt durchaus auch, worauf wir Menschen uns heute gründen. Und die große Stadt hier im Norden, kaum mehr als 50 km weit, mit den hohen Türmen der Bankpaläste und Finanztempel, die verweist darauf, welche Bedeutung wir dem Geld zumessen – und dabei derzeit heftig Schiffbruch erleiden.

Kirchtürme verweisen auf alte Geschichten. Und haben selber häufig schon eine eigene alte Geschichte. So wie der ihre seit 250 Jahren. Oder der fast 800 Jahre alte Turm eines der vielen gotischen Münster. Der Münsterturm, wie etwa der in Freiburg, er strebt lichtdurchflutet direkt und ohne Umwege in den Himmel.

Ein Zwiebeltum hält ein auf diesem Weg. Er wagt den Umweg der Form. Liebt den Schnörkel, der die gerade Linie durchbricht. Hat etwas Bewahrendes an sich. Etwas, das er nicht gleich in den Himmel steigen lassen will.

Einer Zwiebel gleicht auch unser Glaube. Ganz innen, im Kern, die uralte Geschichten von Gott, der die Menschen befreit. Aus der Knechtschaft in Ägypten. Aus der Gefangenschaft in Babylon. Aus dem Tod am Ostermorgen. Aus dem Gefängnis, wie bei Petrus. Ganz innen also der Kern, ohne den alles nichts ist.

Dann folgt die nächste Schicht. Das ist das, was sich die Menschen von ihren Erfahrungen mit Gott erzählt haben. Was sie irgendwann auch schriftlich festgehalten haben. Auf Papyrus. Oder auf Pergament. Ohne dass Menschen erzählt und aufgeschrieben haben, ständen wir mit leeren Händen da.

Die dritte Schicht hat Menschen zusammengeführt. Zu kleinen Hausgemeinden erst. Und dann zu einer immer stärker wachsenden Kirche. Einer Kirche, die selber längst wieder in unterschiedliche Schalen und Schichten ausdifferenziert.

Weiter Schalen der Zwiebel des Glaubens folgen. Heller und durchsichtig die einen. Dunkel, mit Zeichen der Fäulnis andere. Die Geschichte der Kirche durch die Jahrhunderte hindurch. Durch Mittelalter und Reformation. Durch Krieg und Frieden. Durch Macht und Barmherzigkeit.

Erfahrungen des Glaubens legen Schicht um Schicht um den Kern. Sie bewahren. Und sie verdecken. Und ganz außen ist mein Glaube. Ist ihr aller Glaube. Ehe die nach uns Kommenden ihre Schichten herum wachsen lassen. Vielleicht denken sie an diese Zwiebel des Glaubens, wenn sie nachher ihren Zwiebelturm wieder sehen. Oder auch an anderen Tagen. Wenn sie sich fragen: Was habe ich an diese Zwiebel angelagert? Welche Kerngeschichten, welche alten Erfahrungen lassen in mir immer wieder etwas nachwachsen? Lassen mich wachsen?

Und manchmal müssen wir auch Schale um Schale abtragen. Um ins Zentrum zu gelangen. An die Ursprünge. Um uns die alten Befreiungsgeschichten in Erinnerung zu rufen. Die Zwiebel – ein schönes Bild für das, was wir an unserem Glauben schützen und für bewahrenswert halten. Was uns selbst bewahrt. Und uns daran erinnert, dass ein anderer seine Hände um uns hält. Wie die Schalen einer Zwiebel. Im Leben. Sogar dann, wenn wir unser Lebe nicht mehr festhalten können.

Uns kann’s tragen und trösten. Anderen sollen wir daran Anteil geben. Und wenn die Bäume ihres Glaubens wieder einmal nicht in den Himmel wachsen wollen, dann kann sie der Blick auf die Zwiebel trösten, die der Turm dem Himmel entgegenstreckt. Freiheit sagt Gott uns zu. Und Bewahrung. Immer wieder neu. Auch wenn die Geschichten, in denen wir uns gründen, die alten sind. Wie die von der Befreiung und der Bewahrung des Petrus.

Hauptsache neu? Ja und nein. Hauptsache, die alten Geschichten und die oft alten Kirchengebäude mit ihren alten Türmen verlocken uns zum Leben. Am besten jeden Tag auf’s Neue. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.