PREDIGT IM GOTTESDIENST
AM 26. DEZEMBER 2012 (2. WEIHNACHTSTAG)
IN DER STADTKIRCHE IN SCHWETZINGEN

26.12.2012

Was soll ich jetzt noch predigen, liebe Gemeinde? Eine gesungene Predigt war das, was wir eben gehört haben. Und diese gesungene Predigt hatte alles, was zu einer Predigt gehört. Einen Text - das waren die Verse aus dem Lukasevangelium. Reflektierende Zwischenbemerkungen in Gestalt erläuternder Rezitative. Und theologische Deutungen in den Arien und Chorälen.

Gepredigt ist also schon. Was mir bleibt, das ist der zweite Blick auf diese schöne Kantate, die wir eben gehört haben. Ob die Leipziger eigentlich zu schätzen wussten, was sie da beinahe allsonntäglich in den Kantaten ihres großen Kantors geboten bekamen?

Johann Sebastian Bach ragt sicher über viele andere hinaus. Aber die Art der Würdigung und der Huldigung, die wir ihm heute angedeihen lassen, die gab es damals noch nicht. Vom fünften Evangelisten hat noch niemand geredet. Dies hat nachweislich zum ersten Mal erst der schwedische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Nathan Söderblom im Jahre 1929 getan.

Bach hätte das sicher gar nicht gewollt. Ihm reichten die vier Evangelisten der Bibel durchaus aus. Und nicht ohne Grund hat er immer wieder sein Soli Deo Gloria unter seine Kompositionen geschrieben. Sein „Gott allein die Ehre!“

Aber auch auf diesen Johann Sebastian Bach, dem wir ja nicht nur das Weihnachtsoratorium zu verdanken haben, werfen wir längst einen zweiten Blick. Die öffentliche Wirkung seiner Oratorien und seiner Kantaten, die Wertschätzung, die viele Menschen nicht zuletzt dem Weihnachtsoratorium und den beiden großen Passionen entgegenbringen, sie geht über die von Gottesdiensten oft weit hinaus.

Oratorium, welches die heilige Weihnacht über in beiden Haupt-Kirchen in Leipzig musicieret wurde – so lautetet der Titel der ersten Druckausgabe des Weihnachtsoratoriums. Erschienen ist sie im Jahre 1734 in Leipzig. Über die weihnachtlichen Feiertage 1734 und die ersten des Jahres 1735 wurden die insgesamt sechs weihnachtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs zum ersten Mal aufgeführt.

Wie kein zweiter hat Bach die Kunst beherrscht, auf die Berichte der Weihnacht diesen zweiten Blick zu werfen. Bei ihm kann man lernen, dass Kirche und Welt keine abgegrenzten und voreinander zu schützenden Größen sind.

Es macht Bach nicht nur hier keine Mühe, Weltliches ins Kirchliche zu wenden. Und etwa im Eingangschor der ersten Kantate der Huldigung für die Kurfürstin Maria Josepha anlässlich ihres Geburtstages einen christlichen Text zu unterlegen. Da diese weltliche Kantate gerade ein Jahr zuvor, nämlich am 8. Dezember 1733 aufgeführt wurde, konnte er das auch gar nicht erst verbergen. „Dienet dem Höchsten mit herrlichen Chören, lasst uns den Namen des Herrschers verehren.“ Die Schlusszeilen des Eingangschores meinen dann eben nicht mehr die Kurfürstin oder den Kurfürsten. Sie beziehen sich auf einen anderen, himmlischen Herrscher, dessen Lebensumstände von den kurfürstlichen doch sehr verschieden sind.

Es ist hier eben wie im richtigen Leben. Theologie ist häufig nichts anderes als Deutung der Wirklichkeit mit dem zweiten Blick. Der Glaube sieht nicht über die Realitäten hinweg. Aber er sieht das Vorhandene mit anderen Augen. Er sieht es einfach anderes. De Glaube sieht in dem, was vordergründig wie zufällig abläuft, Gott am Werk. Gerade dafür ist Weihnachten ein gutes Beispiel.

Da will ein Kaiser sich Klarheit verschaffen, über die Möglichkeiten seiner Macht. Er bringt die Menschen in Bewegung. Will genaue Auskunft über seine ökonomische Stärke. Lässt sein Vermögen bilanzieren. Ordnet eine Schätzung an, wie es im Text des Lukas heißt.

Für das Jahr 7 oder 6 v.Chr. ist eine regionale Steuerschätzung des Quirinius nachgewiesen. Eine reichsweite Schätzung gab es wohl erst 74 oder 75 n. Chr. Daran hat sich Lukas sicher erinnert, der bald darauf sein Evangelium verfasst. Die in kaiserlichem Auftrag durchgeführte Steuerschätzung bringt gerade so ans Licht, dass die wahre Stärke sich nicht ökonomisch und in Zahlen messen lässt. Sondern in der Kraft der Liebe.

Das Kind, das geboren wird, während seine Eltern fern der Heimat sind, es wird zum Garanten dieser Möglichkeiten ganz anderer Art. Und während das Imperium des Kaisers Augustus nur von begrenzter Dauer ist, fängt unter der Hand ein Reich an zu wachsen, in dem der Mensch nicht länger des Menschen Wolf sein muss. Und in dem Gerechtigkeit und Frieden sich küssen.

„Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, wird der später einmal sagen, der zunächst ein Kind ist wie jede und jeder von uns einmal ein Kind war. Aber dennoch ist dieses Reich dabei, der Welt ein menschlicheres Antlitz zu geben. Wie Gott sich in jenem Kind ein menschliches Antlitz gegeben hat.

Des Höchsten Sohn kömmt in die Welt,

weil ihm ihr Heil so wohl gefällt“

so haben wir’s im Rezitativ eben gehört.

Da wird dieses Kind geboren irgendwo in einer Absteige am Rande von Bethlehem ein Kind. In Armut. Und ohne allzu rosige Zukunftsaussichten. Ein Kind, wie viele andere Kinder auch. „In Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend.“ Damals und heute. Aber der zweite Blick lehrt uns, dieses Kind mit anderen Augen zu sehen. Maria hat uns das vorgemacht. Die Hirten. Und dann auch die weisen Magier aus dem Osten.

Sie deuten nicht einfach nur die Sterne am Himmel. Sie deuten die Zeichen der Zeit. Sie sind darin geschult, auf das, was sie sehen, eben diesen zweiten Blick zu werfen. Dieser zweite Blick gibt dem Stern seine Botschaft und seinen Sinn. Und er entlarvt Herodes. Dieser zweite Blick führt diese Drei in den Stall. Und lehrt sie, in dem, was sie dort sehen, die Pforte des Himmels zu entdecken.

Dass das Lied „Wie soll ich dich empfangen“ auf die Melodie von „O Haupt voll Blut und Wunden“ gesungen wird, das ist keine Bach’sche Raffinesse. Es war, wie inzwischen nachgewiesen ist, die damals übliche Melodie. Aber für uns ergibt sich so dennoch der zweite Blick auf dieses Kind. In der Geburt liegt der Hinweis auf den Tod schon verborgen. Krippe und Kreuz gehören ganz eng zusammen.

Der Berner Dichter-Pfarrer Kurt Marti, der eine ausgesprochene Begabung hat für diesen zweiten Blick, hat das einmal in die Worte gefasst:

Nicht Ägypten ist der Fluchtpunkt der Flucht.

Das Kind wird gerettet für härtere Tage.

Der Fluchtpunkt der Flucht ist das Kreuz.

Und wenn wir dann also schon über Weihnachten hinaus schauen. Wenn wir im Tod des einen nicht das absolute Ende sehen. Sondern eine Möglichkeit, Widerstand zu leisten gegenüber jedem weiteren sinnlosen Tod, dann braucht es auch da den zweiten Blick.

Und dann wird auch klar, dass der zweite Blick nicht einfach nur eine Metapher ist, ein Bild dafür, genauer hinzusehen und hinzuhören. Der zweite Blick, das ist der Blick, den wir meinen, wenn wir vom Glauben reden.

Bachs Musik lehrt uns zu glauben. Und macht Bach gerade dadurch doch zu einem Evangelisten. Einem Evangelisten der anderen Art. So wie wir alle dazu eingeladen sind, Evangelisten dieser anderen Art zu werden.

Eindrücklich wird dies in der Bass-Arie kurz vor dem Ende, für mich immer der Höhepunkt der ersten Kantate:

Großer Herr, o starker König,

liebster Heiland, o wie wenig

achtest du der Erden Pracht!

Der die ganze Welt erhält,

ihre Pracht und Zier erschaffen,

muss in harten Krippen schlafen.

Hier scheint in wenigen Zeilen ein ganzer theologischer Entwurf auf. Gott, der Schöpfer und Erhalter der Welt. Gott, dem Pracht ganz gleichgültig ist. Gott, der auf alle Macht verzichtet. Und dann zugleich Gott, der sich nicht zu schade ist, in einem Stall zur Welt zu kommen. Die harte Krippe ist dabei schon ein Bild für andere Härten, denen dieses Kind einmal ausgesetzt sein würde.

Der Schlusschoral der ersten Kantate beschränkt sich noch einmal auf dieses Bild der Krippe. Ja, ersieht die Krippe sogar im Herzen der Menschen verortet, wenn er vom „sanft Bettelein“ in „meines Herzens Schrein“ singt.

Der Schlusschoral der sechsten Kantate, geschrieben für den Festtag „Epiphanias“, d.h. für den 6. Januar, gibt dann die Sichtweise einer reinen Herzensfrömmigkeit auf. Dort wird in starken, eindeutigen Worten beschrieben, was hier noch so leise anklingt, als solle das neugeborene Kind nicht geweckt werden. „Christus hat zerbrochen, was euch zuwider war“, singt der Chor dann. Und er schließt mit dem Bekenntnis:

Tod, Teufel, Sünd und Hölle

Sind ganz und gar geschwächt.

Bei Gott hat seine Stelle

das menschliche Geschlecht.

Und spätestens dann, wenn diese Zeilen erklingen, hat der Prediger nun gar nichts mehr hinzuzufügen. Er hört in sich noch einmal das „Jauchzet, frohlocket!“ erklingen. Und staunt. Schweigt. Und gibt den himmlischen Chören Raum.

Das will ich mir zum Beispiel nehmen. Und darum sage ich einfach: Amen!

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.