PREDIGT ÜBER JOHANNES 15 (AUSWAHL)
ANLÄSSLICH DER INDIENSTNAHME DER NEUEN ORGEL
AM SONNTAG, DEN 20. OKTOBER 2013 (21.S.N.TR .) IN NUSSLOCH

20.10.2013
Liebe Gemeinde!

Manchmal beneide ich die Organisten. An ihrem Instrument sind sie die alleinigen Virtuosen. Wie ein Marionettenspieler ziehen sie die Fäden – oder genauer gesagt – drücken sie die Tasten oder die Pedale. Die einzelnen Töne suchen nicht das Gespräch. Sie formulieren keinen Widerspruch. Sie wollen nicht mitentscheiden, ob sie nun erklingen wollen oder nicht. Ob sie gerade keine Zeit haben. Oder ob es ihnen gerade nicht darum ist.

Die Töne haben am 1. Advent keine Kirchenwahl. Es gibt zwar ein allgemeines Priestertum der Glaubenden. Ein allgemeines Priestertum der Orgel-Pfeifen gibt es dagegen nicht.

Und wenn am Ende doch einmal nicht mehr alles so zusammenklingt, wie wir es uns wünschen, kann man die alte Orgel grundüberholen. Oder – wie bei ihnen – sogar durch eine neue ersetzen. Eine Gemeinde grundsanieren. Eine Gemeinde rundum erneuern. Oder gar in eine neue umtauschen, das geht nicht.

Eine Pfarrerin, ein Pfarrer kann eine Gemeinde wechseln. Aber auch die hat längst schon ihre unverwechselbare Geschichte. Der Organist und die Organistin – sie bestimmen selber, wie sie ihre Töne zum Klingen bringen. In welcher Zusammenstellung. In welcher Registrierung. In welcher Mixtur. In welchem Tempo. Und wenn alles gut klingt, können sie dafür sogar Beifall ernten. Und werden dies hoffentlich auch immer wieder. Dem Prediger wird diese Form der Anerkennung eher selten zuteil.

Ein Organist kann guten Gewissens zu seinen Pfeifen sagen: Ihr habt mich nicht ausgesucht. Aber ich habe euch ausgesucht und kann machen, dass ihr erklingt. Und dass aus euren vielen Einzelklängen ein Ganzes wird. Ein wunderschöner Klanggenuss, der in eurem Herzen und in eurer Seele Raum findet. Und der eine Erinnerung schafft, die in euch bleibt.

Viellicht haben manche bei diesem letzten Satz schon den Anklang an einen biblischen Satz gehört. Ein Satz, der sich im Predigttext für diesen heutigen Sonntag findet. Ein Satz, den Jesus zu seinen Freundinnen und Freunden spricht. Dort lautet er nur etwas anders. Nämlich so: Nicht ihr habt mich erwählt. Sondern ich habe euch erwählt. Und bestimmt, dass ihr Frucht bringt. Und dass eure Frucht bleibt.

So betrachtet wäre die Orgel also ein Bild für die Kirche. Etwa in dem Sinn: Jedes Manual eine Konfession. Jedes Register eine Gemeinde. Jede Pfeife ein Christ oder eine Christin. Ein Gemeindeglied, wie wir in unserer manchmal etwas überkommenen und altmodischen Sprache gerne sagen. Eine Kirche voller Pfeifen sind wir dann also. Pfeifen allerdings, die Gott wunderschön zum Klingen bringen kann. Pfeifen, in deren Zusammenklang so etwas wie die wunderschöne Musik des Lebens zum Erklingen gebracht wird.

So verlockend und reizvoll dieses Bild auch sein mag, es hat auch seine Tücken. Ich möchte nicht einfach nur ein Ton sein, den ein anderer zum Klingen bringt – übrigens genauso wenig wie ein Schaf, das mitten in seiner Herde über Wiesen und Auen trottet. Und das nur die Wege gehen kann, die der Hirte es gehen lässt – so alt und ehrwürdig dieses Bild auch ist. Bilder haben ihren Wert und ihren Reiz. Aber sie kommen sehr schnell dann auch an ihre Grenze.

Der Predigttext für diesen Sonntag kommt ohne ein Bild aus. Er ist direkt und unverblümt. Einen Ausschnitt habe ich eben schon zitiert. Er stammt aus den sogenannten Abschiedsreden Jesu. Mit diesen Reden verabschiedet sich Jesus nach dem Bericht des Johannes-Evangeliums von seinen Freundinnen und Freunden. Hören sie jetzt einige Verse aus dem für heute vorgeschlagenen Predigttext im Zusammenhang:

Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan.

Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt.


Auch wenn der Evangelist Johannes diese Worte Jesus in den Mund legt – da muss ich zuerst einmal schlucken. Da ist einige zu hören, das mir nicht so leicht runtergehen will. Und mir nicht gleich einleuchtet. An drei Punkten will ich dem, was mir beim ersten Hören Mühe macht, nachgehen.

Zunächst: „Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt.“ Liebe als Gebot. Liebe, die verordnet wird. Jetzt habt euch euch doch endlich mal lieb! Das geht nicht. Das macht ja die Liebe geradezu aus, dass sie sich der Planbarkeit und der Machbarkeit entzieht. Liebe entsteht aus sich heraus. Ohne Absicht. Ohne dass sie sich verzwecken lässt. Liebe, die den anderen entdeckt. Liebe, die andere schön findet. Weil die Augen der Liebe anders sehen. Weil sie einen Menschen so sehen, wie Gott ihn gemeint hat.

Ein zweites, das mir Mühe macht: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ Es muss ja nicht immer gleich ums Ganze gehen. Es muss ja nicht immer gleich das Leben auf dem Spiel. Es könnte ja auch um Unterstützung gehen. Um ein solidarisches Eintreten für jemand, den man mag. Und wenn schon: Dass ich das für einen Freund oder einen Freundin tue – dass ich für die in die Bresche springe. Dass ich für die mein Leben riskiere, das ist ja eigentlich nichts Besonderes. Das liegt ja eigentlich nahe.

Hat Jesus in der Bergpredigt nicht etwas ganz anderes gesagt: Liebet eure Feinde. Tut denen Gutes, die euch hassen. Das verlangt Einsatz. Das kostet Kraft. Aber für die eigenen Freunde eintreten – was ist daran groß?

Und dann eben das dritte: Der Vers, den ich schon einmal zitiert habe: „Nicht etwa ihr habt mich erwählt. Nein! Es ist umgekehrt. Ich habe euch erwählt. Ich habe bestimmt, dass eurem Handeln Erfolg zukommt. Was ihr seid, das habt ihr allein mir zu verdanken!

„Ich habe euch erwählt!“ Über die sogenannte Erwählungslehre haben die Christinnen und Christen schon seit allem Anfang gestritten. Auch schon in der Alten Kirche. Die eine Partei hat gesagt: Gott hat von allem Anfang an bestimmt, wer gut ist und wer nicht. Wer gerettet wird und wer nicht. Uneins war man sich nur, ob Gott diese Auswahl schon vor Erschaffung der Welt ein für alle Mal getroffen hat, Oder ob er sie erst mit der Erschaffung jedes Menschen vornimmt.

Wenn das aber so ist – wenn Gott längst bestimmt hat, was aus jedem einzelnen und aus jeder einzelnen von uns wird – wenn von Anfang an klar ist, wer sich gut verhält und wer schlecht, wer sich für Gott entscheidet und für wen Gott keine Rolle spielt – dann kann ich das Predigen einstellen. Dann ist unser Einsatz für mehr Gerechtigkeit in der Welt unsinnig. Dann muss ich nicht einmal mehr dafür werben, dass wir einander lieben, wie es am Anfang des Predigttext heißt.

Wenn es eine solche Erwählung Gottes gäbe wie im Märchen vom Aschenputtel: die Guten ins Töpfchen und die Schlechten ins Kröpfchen – oder vielmehr noch in die Hölle – dann sind wir Menschen wirklich nur noch Marionetten. Dann tragen wir auch keine Verantwortung, wenn diese Welt am Ende zugrunde geht. Die Erwählungslehre - das ist eines der schwierigsten und gefährlichsten Kapitel der Theologie! Und eine Herausforderung für unseren Glauben.

Das waren jetzt die drei Anfragen. Aber das ist jeweils nur der erste Zugang. Ich will dem Predigttext trauen. Will ihm den Vertrauensvorschuss geben, den ihm schon Geberationen von Glaubenden vor mir gegeben haben. Und will mich den drei Fragen noch einmal zuwenden. Und nach einer Brücke in die Gegenwart suchen.

„Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt.“ Das war das erste. Für die Liebe erscheint das fragwürdig. Aber womöglich meint Liebe hier etwas anderes als das, was bei uns mitschwingt, wenn wir dieses Wort benutzen. Und hören.

So kann das auch gar nicht gemeint gewesen sein. Ich kann nicht alle meine Mitmenschen lieben. Aber ich kann ihnen Respekt entgegenbringen. Kann mich ihnen auf Augenhöhe zuwenden. Ich kann das Ebenbild Gottes in ihnen wahrzunehmen versuchen. Ich mache meinen Mitmenschen nicht klein, nur weil er eine andere Hautfarbe hat. Oder einer anderen Religionsgemeinschaft angehört. Oder weil er anders geprägt ist. Und politisch andere Ziele verfolgt.

Um die Ent-Zauberung eines überhöhten Liebesideals geht es also. Um den Verzicht, das Modell der Liebe von Menschen, die sich ganz nahe stehen, auf jede zwischenmenschliche Beziehung zu übertragen.

Die Aufforderung, im Mitmenschen einfach einen Menschen zu sehen – sie gilt auch dann, wenn mir ein Mensch Mühe macht. Daran muss ich arbeiten. Muss meine Gefühle auch im Zaum halten. Das kostet Kraft. Und das muss ich auch üben. Immer wieder neu. Und des halb macht ein Gebot Sinn. Deshalb muss ich die Mitmenschen dazu immer neu ermutigen. Muss sie ausdrücklich auffordern. Auffordern nicht zur Liebe. Aber zur Geschwisterlichkeit.

In ähnlicher Weise nähere ich mich auch dem zweiten Widerspruch. „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ Wenn das gelingt, was ich eben beschrieben habe. Wenn ich aufhöre, in dem Menschen, der mir fremd ist, eine Feind zu sehen, dann bin ich auch fähig, solidarisch für ihn einzutreten. Für den ewigen Nörgler, der nie zufrieden ist. Für den unangenehmen Kollegen, der sich immer seinen eigenen Vorteil sichert. Für die Flüchtlinge aus Syrien, die uns nur in den Nachrichten begegnen. Weil wir viel zu wenige von ihnen hier bei uns aufnehmen.

Auch diesem Programm, sich einen Fremden erträglich zu machen, möchte ich einen Namen geben. Es geht um Ent-Feindung. Das bedeutet: Ich muss nicht jeden Menschen zu meinem Freund oder zu meiner Freundin machen. Das geht im Übrigen auch gar nicht. Oft reicht es schon, wenn ich aufhöre, in ihm oder in ihr einen Feind zu sehen. Und wer nicht mehr mein Feind ist, für den kann ich dann auch Partei ergreifen. Und mich für ihn einsetzen.

Bleibt das dritte Problem: die Erwählung vor aller Zeit! Sie muss kein Problem sein. Besser gesagt, sie ist es dann nicht, wenn wir sie recht verstehen. Es geht nicht darum, dass Gott über uns ein Urteil spricht, noch ehe wir überhaupt irgend etwas getan haben oder nicht. Es geh darum, dass wir fröhlich Hand anlegen. Und dabei darauf vertrauen, dass Gott schon irgendwie seinen Segen dazu gibt. Oder wie es in einem Lied im Gesangbuch heißt: „Eh’ wir entscheiden ja und neun, gilt schon für uns: gerettet sein !“

Habe ich vorhin von Ent-Feindung gesprochen, so geht es hier um Ent-Ängstigung. Ich muss mich nicht nach allen Seiten absichern. Ich kann darauf vertrauen, dass ich handeln kann in aller Freiheit. Und dabei doch nicht aus dem Einflussbereich Gottes herausfalle. Ich bin Gott recht, von allem Anfang. Und muss mir das nicht erst erarbeiten und verdienen – das ist die Botschaft der Reformatoren. Und doch auch schon die Botschaft Jesu im Johannes-Evangelium.

Ich glaube nicht, dass Jesus das so gesagt hat. Zumindest nicht mir diesen Worten. Die Bergpredigt enthält für mich mehr vom Original-Ton Jesu als die Abschiedsreden des Johannes-Evangeliums. Der Evangelist Johannes war ein Theologe. Und ein großer dazu. Ihm ging es nicht um den Originalton, sondern um den Geist der Predigt Jesu. Johannes hat dazu die Worte verwendet, die die Menschen verstanden haben. Auch wenn er dabei in seinen Formulierungen durchaus neue Wege beschritten hat. Aber vor dieser Aufgabe stehen wir als Predigerin oder als Prediger jeden Sonntag von Neuem. Und wir können dabei von Johannes durchaus lernen.

Aber Worte allein machen das Glauben bisweilen tröge und beschwerlich. So unverzichtbar sie auch sein mögen. Wie gut, dass wir den Schatz unserer Lieder haben! Wie gut, dass es die Kirchenmusik gibt. Dass aus vielen Tönen immer wieder ein Ganzes entstehen kann.

Wie gut auch, dass es jetzt diese Orgel gibt. Ihre Töne gehen zu Herzen. Und ihr Spiel lässt bisweilen mehr erahnen von der Schönheit Gottes als so manche Predigt.

Auch darum beneide ich immer wieder die Organisten. Gerade heute, wo er ein neues Instrument erklingen lassen kann. Zur Ehre Gottes. Und zum Glück derer, die diese Orgel jetzt über viele Jahre zum Singen bringen will. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.