„RISKIER WAS, MENSCH!“
PREDIGT ÜBER LUKAS 22,31-34
SONNTAG, 17. FEBRUAR 2013 (INVOCAVIT)
EVANG. KIRCHE STUTENSEE-STAFFORT

17.02.2013
Liebe Gemeinde!

Heute feiern wir den ersten Sonntag der Passionszeit. Dieser heutige Sonntag trägt den Namen „Invocavit“. Früher hat man die Namen der sechs Sonntage der Passionszeit mit dem Merkspruch gelernt: „In rechter Ordnung lerne Jesu Passion!“ Jeder der Anfangsbuchstaben dieses Satzes verweist auf den Namen eines dieser Sonntage. I für Invocavit – R für Reminiscere – O für Oculi – L für Laetare – J für Judika – und P für Palmarum, den Palmsonntag.

Die Sonntagsnamen selber waren dem Kehrvers für die jeweiligen Sonntagspsalmen entnommen. Heute, an Invicavit, rührt der Name vom 91. Psalm her: „Er ruft mich an. Und ich werde ihn erhören.“ Auf diesen Vers bezieht sich also der Name Invocavit. Die Menschen früherer Jahrhunderte kannten die Namen und kannten die Psalmen. Sie mussten anderes nicht kennen, was uns heute aufgebürdet und zugemutet wird.

Die berühmteste Predigt an einem Sonntag Invocavit wurde vor 491 Jahren gehalten. Damals fiel dieser Sonntag auf den 9. März. Prediger war kein Geringrerer als Martin Luther. Predigtort die Stadtkirche in Wittenberg.

Vorausgegangen war Luthers Schutzhaft auf der Wartburg. Sein Landesherr Kurfürst Friedrich der Weise hatte ihn nach dem Reichstag zu Worms 1521 dort in Sicherheit gebracht. In Ruhe kann Luther dort das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzen.

Dann, im Frühjahr 1522, erreichen ihn beunruhigende Nachrichten aus Wittenberg. Die Reformation droht aus dem Ruder zu laufen. Seine Anhänger überspannen den Bogen. Und überfordern die Menschen. Da riskiert Luther Kopf und Kragen. Er verlässt sein sicheres Versteck. Und vom Sonntag Invocavit an predigt er eine Woche lang jeden Tag. Bis zum Sonntag Reminiscere eine Woche darauf. Luthers Predigten waren erfolgreich. Die Situation beruhigt sich wieder.

Es sind wohl die berühmtesten Predigten des Protestantismus, die sogenannten Invocavit-Predigten Martin Luthers. Die Zeit, die diesen Predigten vorausging, hatte es in sich. Was waren das für Zeiten, als politische Unruhen sich noch mit Predigten eindämmen ließen.

Heute soll also wieder gepredigt werden. Wieder eine Invocavit-Predigt. Aber unter ganz anderen Umständen. Seit Mittwoch, seit Aschermittwoch, befinden wir uns in der Passionszeit. Das war damals nicht anders. Zur Zeit Luthers war die Passionszeit selbstverständlich eine Fastenzeit. Heute gibt es auch bei uns Evangelischen die Aktion „Sieben Woche ohne“. Mehr als zwei Millionen Menschen beteiligen sich jedes Jahr. Sie fasten nicht einfach beim Essen. Sie verzichten auf irgendetwas Liebgewordenes. Üben sich im Verzichten an einer beispielhaften Aktion.

Die Aktion hat jedes Jahr ein Motto. Dieses Jahr lautet es: „Riskier was, Mensch! – sieben Wochen ohne Vorsicht“. „Riskier was, Mensch!“ Das könnte auch die Überschrift für den Predigttext für diesen Sonntag Invocavit 2013 sein. Da geht es um einen, der bereit ist, alles zu riskieren. Und der am Ende kläglich versagt.

Hört also auf die Worte des Predigttextes aus Lukas 22, die Verse 31 bis 34:

31Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen. 32Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder. 33Er aber sprach zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. 34Er aber sprach: Petrus, ich sage dir: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst.

Um den Petrusdienst geht es in diesem Predigttext, liebe Gemeinde. Um die Verantwortung für die, die einem, anvertraut sind. „Und wenn du dereinst dich bekehrst, dann stärke deine Brüder!“ Die Stärkung der Brüder - und ich füge ausdrücklich hinzu – die Stärkung der Schwestern, das wird dem Petrus hier aufgetragen.

Auch die Zeit, die dem diesjährigen Sonntag Invocavit vorausgeht, hatte es in sich. Nicht nur, weil das Tief Nemo uns direkt von New York aus mit frischem Schnee überraschte. Nicht nur, weil ein Meteorit uns am Freitag vor Augen führte, wie gefährlich wir mit unserem Planeten Erde durchs Weltall unterwegs sind. Nein, ich meine noch etwas anderes.

Um den Petrusdienst, von dem der Predigttext spricht, ging es vor einigen Tagen nämlich schon einmal. Sie erinnern sich sicherlich, wenn Sie die Nachrichten angeschaut haben: „Ich bin zur Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben.“

Ein alter, genauer gesagt ein fast 86 Jahre alter Mann hat diesen Satz gesagt. Und hat mit ihm den Rückzug aus seinem Amt angekündigt. Den ersten Rücktritt dieser Art nach Hunderten von Jahren.

Uns Evangelische braucht das nicht zu kümmern, denken sie jetzt vielleicht. Ganz so einfach ist das nicht. Christenmenschen sollen sich immer umeinander kümmern. Gerade dann, wenn Menschen in Not geraten sind. Und das ganz sicher auch über die Grenzen von Konfessionen hinweg.

Aber mir kommt es auf etwas ganz anderes an. Da haben wir am Sonntag Invocavit einen Predigttext über den Petrusdienst. Und wenige Tage davor ist dieses Thema in allen Medien präsent. Ob es dabei beim einen wie beim anderen um dasselbe geht, das wäre jetzt zu prüfen. Und da kann uns der Predigttext sicher weiterhelfen.

Auch das Kapitel vor dem Predigttext hat es in sich. Voraus geht dem Predigttext nämlich der Bericht vom letzten Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern. Und kaum ist dieses denkwürdige Mahl beendet, herrscht schon wieder Alltag. Die frommen Jünger geraten in Streit miteinander.

Man mag es nicht glauben: Da macht sich dieser Jesus auf den Weg in den Tod. Und die Jünger streiten darüber, wer wohl der Größte und der Bedeutendste unter ihnen sei. Die Gegenwart mit all ihren Umfragen und Rankings und all den Schummeleien um der Beste zu sein, lässt grüßen. Das ist wohl schon seit langem die Frage, die die Menschen am meisten beschäftigt: Wer ist der Größte und Wichtigste im ganzen Land?

Jesus gibt eine doppelte Antwort. Eine allgemeine. Und eine konkrete. Die allgemeine lautet: Wer der Größte unter euch sein will, der soll euer aller Diener sein. Diener im damaligen Sinn haben wir keine mehr. Die gibt es nur noch im Märchen. Und in Berichten aus alter Zeit.

Umso mehr geht es heute um Dienstleistungen. Aber nicht mehr deshalb, um im Dienst Größe zu zeigen. Sondern um durch die Dienstleistung alle anderen zu übertreffen. Und um möglichst viel Geld zu verdienen.

Auch dazu bot die hinter uns liegend Woche wieder genügend Anschauungsmaterial. Etwa im Bericht über die Gepflogenheiten beim Internethändler Amazon. Über dessen menschenverachtenden Umgang mit ausländischen Leiharbeitern war in dieser Woche so einiges zu sehen und nachzulesen. Der Größte zu sein im Dienen – da setzt Jesus doch deutlich auf ein anderes Programm. Ein Programm, in dem es nicht um den größten Verdienst geht.

Die zweite, die konkrete Antwort, die finden wir im heutigen Predigttext. Jesus wendet sich direkt an den, der als der Größte und Mutigste unter den Jüngern angesehen sein will. An Petrus.

Jesus spricht ihn nicht mit seinem neuen Namen an. Nennt ihn hier nicht Petrus. Schließlich es geht darum, dass auch der Fels nicht stark genug ist, allem zu widerstehen: „Simon, Simon. Der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen.“ Der Satan, das ist nicht einfach der Teufel. Der Teufel, das wäre der Diabolos, der, der alles, was feststeht, durcheinander wirbelt.

Der Satan, das ist eine andere Figur. Das ist der Verführer und der Prüfer. Und das mit göttlichem Einverständnis. Bei Hiob können wir das nachlesen. Gott lässt den Satan Hand an Hiob anlegen, um seinen Glauben auszutesten. Bei der Versuchung Jesu können wir das nachlesen. Nicht der Böse tritt Jesus da gegenüber. Sondern der, der ihn locken will mit allem, womit wir uns doch alle selber gerne locken lassen. Mit Reichtum. Und mit Macht.

Hier macht sich der Satan an Petrus heran. An ihn. Und an all die anderen, die mit Jesus unterwegs sind. Sieben will er sie. Ihren Glauben prüfen und austesten. Jetzt, wo es ums Ganz geht. Um Leben und Tod.

Gesiebt werden wir Menschen doch beinahe täglich. Ausgetestet, ob unser Stehvermögen ausreicht. Ausgetestet, wieviel man uns auf die Schultern legen kann. Ausgetestet, wie lange wir mitmachen. Und wie lange wir durchhalten. Jesus findet andere Worte dafür: „Der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie Weizen.“ Zu schauen, was übrig bleibt, wenn er den Regler der Anforderungen immer mehr nach oben schiebt. „

Riskier was, Mensch!“ Das Motto der diesjährigen Aktion Sieben Wochen ohne kommt mir da in den Sinn. „Riskier was, sonst kommst du unter die Räder!“ Und der Mensch riskiert. Und viel zu oft scheitert er.

Zum Verzweifeln wäre diese Situation – bei Petrus und bei uns – ginge der Text nicht weiter: „Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.“ Der Satan mag sichten. Er mag sieben. Er mag prüfen. Aber er muss den Kürzeren ziehen. Zumindest auf längere Sicht. Der Satan bittet, uns Menschen sieben und testen zu dürfen. Und Jesus bittet, dass der Glaube sich all dem gewachsen zeigt. Und durchhält.

„Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhört.“ Manchmal hört er doch auf. Oder steht in Gefahr aufzuhören. Bei einem alten Theologen habe ich in der vergangenen Woche folgende Worte entdeckt. Er schreibt: „Es kann sein, dass der Glaube gelegentlich nur noch aus Handlungen besteht: in die Kirche gehen, aufstehen, knien, einen Psalmvers aufsagen. ... Der Glaube ist dann wir eine leere und ausgeräumte Kapelle. Karsamstagsglaube ... Es gibt Zeiten, in denen man mit dieser Kargheit auskommen muss.“

Karsamstagsglaube. Bei Petrus ist noch nicht Karsamstag. Aber immerhin Gründonnerstag. Doch von Glaubenskargheit ist scheinbar wenig zu spüren. Gründonnerstagsglaube also. Die Glaubenskapelle des Petrus ist längst leer geräumt. Nur merkt er es noch nicht. Petrus glaubt wie aus Gewohnheit. Stark. Selbstsicher. „Und wenn ich mit dir sterben müsste ... „ Die Fassade glänzt. Das Schaufenster seines Glaubens ist schön hergerichtet. Aber die Regale sind längst leer geräumt.

Wir wissen, wie es weitergeht: „Ehe der Hahn kräht .... ehe es wieder Tag wird, wirst du dreimal verneinen, mich zu kennen.“ Petrus, der Verräter, sagen wir gerne und vorschnell, um uns in Sicherheit zu bringen.

Petrus, der Taktiker, Petrus, der Stratege, könnten wir stattdessen auch sagen. Dass er den verleugnet, für den er doch bereit ist zu sterben, das kommt ihm gar nicht in den Sinn. Er will doch nur dran bleiben am Geschehen. Will nicht des Hofes verwiesen werden. Will doch gerade in Sichtweise dessen bleiben, den zu kennen er bestreitet.

Erst als der Hahn kräht, da leuchtet nicht nur der neue Tag auf. Da geht auch ihm ein Licht auf. Die kleine Unwahrheit, sie hat der großen guten Absicht die Würde genommen. Petrus hat eben nichts riskiert. Er hat der Wahrheit nicht den Vorrang gegeben. Er wollte sich durchlavieren.

Dieser Petrus müsste uns höchst sympathisch sein. Oder zumindest nah. Mir ist er schon irgendwie nah, dieser Petrus. Weil er seine Kräfte realistisch einschätzt. Weil er ahnt, dass ihn die ehrliche Antwort überfordert. „Riskier was, Mensch!“ Das ist leichter gesagt als getan.

Alles verloren, denkt Petrus, als der Hahn kräht. Und er gewahr wird, wie es jetzt wirklich um ihn steht. Alles verloren, denken auch wir das eine und das andere Mal, wenn die Kapelle unseres Glaubens geräumt ist. Und wir mit leeren Händen da stehen.

Schwach und seiner Grenzen überführt, erlebt sich Petrus. Und bleibt doch der, von dem Jesus sagt: „Du bist Petrus. Du bist der Fels. Auf dich will ich meine Kirche bauen.“ Schwach und am Ende ist dieser Petrus. Und erhält doch den Auftrag: „Stärke deine Brüder. Übernimm Verantwortung für deine Geschwister im Glauben.“ Weich gespült ist der Fels. Aber er bricht nicht. Scheinbar am Ende ist dieser Petrus. Und findet doch den neuen Anfang. Den Anfang, der ihm erlaubt, anderen in deren Schwäche beizustehen. Des eigenen Kleinglaubens überführt, erlebt er sich. Und doch gewürdigt, den Petrusdienst wahrzunehmen.

Da sind wir also noch einmal beim Petrusdienst. Aber nicht beim Dienst des einen. Damals nicht, als Petrus seinen Auftrag zugesprochen erhält. Und heute nicht, wenn in unserer Schwesterkirche dieser Dienst nur dem einen Amt zugesprochen wird, das einen einzelnen Menschen nur überfordern kann.

Ich bin mir sicher: Der Petrusdienst ist nicht der Dienst eines einzelnen Menschen. Der Petrusdienst uns allen aufgetragen. Von der Aufgabe, Fels zu sein, Untergrund, auf dem Gott seine Kapellen des Glaubens bauen kann, ist niemand entbunden. Und nie vermag Gott diese Kapellen besser auszustatten mit dem, was uns im Leben wirklich tragen kann, als dann, wenn diese Kapellen nur noch leere Gemäuer sind.

„Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhört“, spricht Jesus dem Petrus zu. Gott selber stattet die Kapellen unseres Glaubens mit dem aus, was wirklich nötig ist. Und wir sind eingeladen, den Glauben zu riskieren.

Gut, dass es Orte gibt, an denen die Kapellen unseres Glaubens neu ausgestattet werden. Orte, an denen sich unserer Glaube nähren kann. Kirchen sind solche Nährorte des Glaubens. Sie haben ihre Kirche hier in Staffort über Monate mit großer Anstrengung gewissermaßen neu eingerichtet. Ihr eine umfangreiche Renovierung angedeihen lassen. Sehen kann man es und hören – auch in den wieder neu erklingenden Orgel.

Gut, dass sie dieses Risiko nicht gescheut haben. Es gibt Orte, die rentieren sich nicht. Zumindest nicht im ökonomischen Sinn. Aber es sind Orte, die sind unverzichtbar. Kirchen sind solche Orte. Orte, an denen all diese Sätze gesagt werden, die uns stärken im Petrusdienst des Alltags. Orte, an denen wir hören können. „Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhört.“ Orte zugleich, an denen wir diese Erfahrung feiern wir feiern können. Selbst wenn der Hahnenschrei unüberhörbar erklingt.

Riskier was, Mensch! Mach’s wie Petrus! Der Hahnenschrei hat ihn aufgeweckt. Er hat ihn nicht hart werden lassen, sondern fest. Darauf baut Gott seine Kirche. Deshalb können wir unseren Petrusdienst wahrnehmen. Deshalb können wir mitbauen an den Kapellen des Glaubens. Und am Reich Gottes.

Etwas Größeres gibt es nicht. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.