LASTEN TRAGEN – GETRAGEN SEIN
PREDIGT ÜBER MARKUS
GOTTESDIENST MIT EINFÜHRUNG VON FREDERIK LOWIN
21. JULI 2013 IN DER JOIHANNESKIRCHE IN ETTLINGEN

21.07.2013
Liebe Gemeinde!

Die Hängematte hat keine gute Presse. Wir schätzen sie, wenn wir Gelegenheit haben, uns einmal hineinzulegen. Das ist wirklich eine wunderbare Erfahrung. Aber wir reden von der Hängematte nicht gut, wenn andere diese Gelegenheit nutzen.

„Der legt sich lieber in die Hängematte“ sagen wir, wenn es jemand mit der Arbeit nicht so genau nimmt. Und wenn Menschen in Not die soziale Unterstützung des Staates in Anspruch nehmen, spreche wir gerne mit despektierlichem, unterstellendem Unterton von der „sozialen Hängematte“.

Herr Lowin hat darum Mut bewiesen, wenn er das Thema vom Lastentragen und vom Getragen sein mit der Hängematte illustriert. Aber Mut ist für einen Gemeindediakon schon einmal eine gute und hilfreiche Tugend.

Unterschiedliche Zugänge zum Thema der Hängematte und des Tragens und Getragenwerdens gibt es in diesem Gottesdienst. Das Anspiel, das wir eben gesehen haben, war ein Zugang. Die Lasten lassen sich besser tragen, wenn wir sie in eine Matte legen. Und sie werden auf diesen Weise auch leichter.

Einen anderen Zugang finden wir in einem bekannten Text in der Bibel. Es ist nicht der vorgeschlagene Predigttext für diesen Sonntag. Aber es ist ein Text, der wunderbar zum Thema passt. Und in dem auch eine Hängematte eine entscheidende Rolle spielt. Die meisten von ihnen kennen diesen Text. Hören sia also auf Verse aus dem zweiten Kapitel des Markus-Evangeliums:

Ein paar Tage später kam Jesus nach Kafarnaum zurück. Es sprach sich herum, dass er wieder zu Hause war. Und es strömten so viele Menschen herbei, dass der Platz nicht ausreichte, nicht einmal draußen vor der Tür. Und Jesus erzählte ihnen von Gott.

Da brachten Leute einen Gelähmten zu Jesus. Er wurde von vier Männern getragen. Aber wegen der Volksmenge

konnten sie nicht bis zu ihm vordringen. Deshalb öffneten sie das Dach genau über der Stelle, wo Jesus war. Sie machten ein Loch hinein und ließen den Gelähmten auf seiner Matte herunter. Jesus sah, wie groß ihr Glaube war, und sagte zu dem Gelähmten: "Deine Schuld ist dir vergeben."

Es saßen aber auch einige Schriftgelehrte dabei. Die dachten: "Wie kann der so etwas sagen? Das ist Gotteslästerung. Nur Gott allein kann Schuld vergeben." Doch Jesus wusste sofort, was sie dachten, und sagte zu ihnen: "Warum habt ihr solche Gedanken? Was ist einfacher? Dem Gelähmten zu sagen: 'Deine Schuld ist dir vergeben', oder zu sagen: 'Steh auf, nimm deine Matte und geh umher'? Aber ihr sollt sehen, dass der Menschensohn von Gott die Vollmacht hat, hier auf der Erde den Menschen ihre Schuld zu vergeben." Deshalb sagte er zu dem Gelähmten: "Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Matte und geh nach Hause."

Und er stand auf, nahm rasch seine Matte und ging weg. Alle sahen es. Sie gerieten außer sich, lobten Gott und sagten: "So etwas haben wir noch nie erlebt."


Die Heilung des Gichtbrüchigen – so war dieser Text in der Lutherbibel überschrieben. Ich habe ihn eben in der neuen Übersetzung der Basis-Bibel vorgelesen, die erst seit wenigen Jahren auf dem Markt ist.

Diese Geschichte, liebe Gemeinde, hat einen unangefochtenen Platz ganz vorne in der Bestsellerliste biblischer Texte. Aufgegriffen vor allem in Familiengottesdiensten. Und in szenischen Darstellungen der Bibel. Übertroffen nur von der Weihnachtsgeschichte und der Begegnung Jesu mit Zachäus.

Jesus ist in der Stadt. Wieder einmal. Und diese Botschaft zieht die Menschen an. Jesus war kein Religionsgründer damals. Auch kein VIP, der zu den oberen Zehntausend gehört hat. Was diesen Wanderprediger so attraktiv macht, das ist die ganz konkrete Hoffnung: Dieser Mensch hilft mir. Er nimmt mich wahr. Er ändert meine Situation zum Besseren. Er macht mich gesund.

Und die Menschen laufen ihm nach. Dieser Jesus von Nazareth, das war also einer, mit dem die Menschen nicht irgendwelche spirituellen Erfahrungen verknüpfen. Sondern mit dem sie ganz konkrete Hoffnungen verbinden.

Kaum macht das Gerücht die Runde „Er ist wieder da“ ist das Haus auch schon voll. Jesus erzählt den Menschen von Gott. Er predigt. Spricht den Menschen ihre Würde zu. Richtet sie auf. Ermutigt sie zu einem Leben nach neuen Maßstäben. Und die Menge drum herum schottet diesen Jesus ab. Kein Durchkommen mehr.

Dann nimmt die Geschichte ihren bekannten Verlauf. In die Decke wird ein Loch gebrochen. Das war damals kein besonders aufwändiger Akt. Es ist eine Lehmabdeckung. Kein isolierter Dachstuhl mit Ziegelauflage. Und die Decke hatte schon eine Lücke. Einen Ausgang, um auf das Dachgeschoss zu gelangen. Abends. Wenn es kühler wird.

Aber trotzdem: Der weg durch die Decke war auch damals nicht der normale, der übliche Zugang. Da bahnen sich Menschen einen Weg an den Massen vorbei. Und wählen eine ungewöhnliche Variante. Von oben. Durch die aufgebrochene Decke.

Sie alle sind sicher schon einmal wartend in einer langen Schlage gestanden. Vor der Konzertkasse etwa. Und dann kommt jemand von der Seite. Umgeht das Warten. Stellt sich einfach vorne hin. Und ist drin. Während sie immer noch stehen. Die Aufregung und der Unmut, ja auch der Ärger die dann entstehen, sind beträchtlich.

Ähnlich stelle ich mir das in jenem Haus vor. Die einen erkämpfen sich mühsam einen Platz. Sie beweisen Geduld. Sie strengen ihr Gehör an, damit sie überhaupt etwas mitbekommen und verstehen. Und andere kommen einfach von oben. Freunde haben sich diese Menschen nicht gemacht. Außer dem einen, dem sie schon Freund sind. Und der den Anlass für diese Aktion abgibt.



Die Freunde tragen. Sie tragen diesen einen Menschen, der ihnen wichtig ist. Der sich getragen weiß. Im Sinne des Wortes. Und Jesus lässt sich unterbrechen. Er wendet sich diesem Menschen zu. Und spricht ihn an. Aber es erfolgt keine Nachfrage. Kein Heilungswunder. Auch keine Zurechtweisung der Initiatoren dieser Aktion. Jesus spürt die Lebenssehnsucht dieses Gelähmten. Und er bringt sein Leben in Bewegung. „Deine Schuld ist dir vergeben!“

Gefährlich ist dieser Satz. Und das gleich aus zwei Gründen. Dieser Satz könnte ein Missverständnis auslösen. Er könnten den Eindruck erwecken, dieser Mensch hat sich etwas zu Schulden kommen lassen. Und er sei deswegen krank geworden. In einer anderen Heilungsgeschichte weist Jesus diesen Zusammenhang zurück. Schuld. Nicht bewältigte, nicht bearbeitete und vergebene Schuld kann tatsächlich krank machen. Körper und Geist stehen in einem engen Zusammenhang.

Nur: Was vorausgeht, das ist dann unser Verhalten. Dann stellen wir diesen Zusammenhang zwischen Verhalten und körperlichen Folgen her. Gott straft nicht mit Gesundheitsentzug.

Doch die Hüter des Glaubens stoßen sich an etwas anderem. Dem zweiten möglichen Missverständnis. Sie stören sich am Anspruch Jesu. An der Zumutung, dass dieser Jesus Schuld vergibt. Dass er die Trennung zwischen Gott und Mensch in den Blick nimmt. Und Aufhebt. Dass er sagt. „Dir sind dein Schulden vergeben!“

Wer Schulden hat. Materielle, finanzielle Schulden, der kann am ehesten noch ausloten, was Schulderlass heißt. Welche neuen Möglichkeiten sich eröffnen, wenn die roten Zahlen sich in schwarze verwandelt haben. Jesus macht nichts anderes. Er will diesem Mann zu neuen Lebensmöglichkeiten verhelfen. Will seine Starre lösen. Nicht im Finanziellen. Sondern im Blick auf die Lebenswirklichkeit.

Stattdessen: Widerspruch! Wie kann der nur? Was masst er sich an? Welche Grenzüberschreitung! Schuld vergeben. Das ist allein Gottes Sache. Jesus ahnt, was diese Leute denken. Und er nimmt ihnen den Wind aus den Segeln. Sagt ihnen auf den Kopf zu, woran sie sich stören. Doch Jesus legt nach. Legitimiert sein Verhalten. „Ich löse nicht nur seine seelische Starre. Ich bringe ihn wieder in Bewegung. Auch körperlich. Nimm deine Hängematte“, sagt er. „Und bewege dich. Geh. Auf eigenen Beinen!“

Der Mann geht. Steigt aus der Matte. Macht sich auf den Weg. Kehrt zurück in die Gemeinschaft seiner Familie. Und die Menge staunt. Wer ist dieser, der Sünden vergibt? Und Lähmungen aus der Welt schafft?

Jesus hat diesem Menschen eine große Last abgenommen. Die Last der Selbstverkrümmtheit. Die Last, seine Möglichkeiten nicht nutzen zu können. Es ist nicht einfach Heilungswunder. Sondern eine Rückführungswunder ins Leben. Möglich ist sie geworden, weil Menschen – die Freunde - eine Last getragen haben. Eine fremde Last. Weil Menschen sich die Last eines anderen zur eigen gemacht haben. Und diesem Menschen die Last erleichtert und sogar genommen haben.

Mit dem Wort Last ist es ähnlich wie mit der Hängematte. Wenn wir sie selber zu tragen haben, hätten wir sie gerne los. Wenn andere an Lasten zu tragen haben, sind sie uns leicht gerne „lästig“. Dabei heißt lästig nichts anderes als mit einer Last versehen.

Lieber Herr Lowin – und jetzt wende ich mich ausdrücklich ihnen zu. Es sind die Lästigen, verstanden in diesem Sinne, die ihnen auferlegt sind. Menschen, die an etwas zu tragen haben. Menschen, denen sie helfen sollen, beweglich zu bleiben Und lebendig. Als Gemeindediakon ist das ihre Aufhabe. Menschen zu entlasten. Menschen zu begleiten. Menschen das Leben leichter und schön zu machen. Menschen hineinzuknüpfen in das Netz des Lebens.

Dabei sind sie nicht auf sich selbst gestellt. Zu mehreren trägt sich’s leichter. Wie in der Geschichte vom kranken Gelähmten. Andere packen einen Zipfel ihrer Hängematte. Andere helfen, Mauern aufzubrechen und Zugänge zu schaffen. Auch ungewöhnliche Zugänge.

Diese Durchbrüche sollten sie suchen. Und nutzen. Und auch immer wieder selber in starre Mauern brechen. Tragen sollen sie mit anderen. Und die Erfahrung machen, dass sie selber auch getragen sind.

Die Hängematte dürfen sie darum durchaus im doppelten Sinn verstehen. Als Matte, die andere trägt. Die Lasten wegschafft. Aber immer wieder doch auch als Ort der eigenen Entlastung. Als Ort, an dem sie in der Hängematte alles ablegen können. Und sich ihrem leichten Schwingen hingeben.

Als unsere Kinder noch klein waren, hing ein großes Poster über der Wickelkommode. Ein Indiomädchen mit einem Tragetuch auf dem Rücken. Und in das Tuch gekauert ein kleiner Junge. Unsere Kinder zitieren diese zwei Sätze immer wieder. Bis heute. Da hieß es, an das Mädchen gerichtet:

„Du trägst aber eine schwere Last!“ Und das Mädchen antwortet: „Ich trage doch keine Last. Ich trage doch meinen Bruder!“

Lasten – anderen nicht aufbürden, sondern sie ihnen abnehmen. Diese Erfahrung bei diesem Tun bereichert zu werden - die wünsche ich ihnen! Die Erfahrung, dass sie sich getragen fühlen. Da, wo sie leben, und da, wo sie arbeiten. Und dass sich das Tragetuch zur Hängematte verwandelt. Und die Last sich als Schwester oder als Bruder entpuppt. Und dass sie dann wie die Menschen damals ins Staunen geraten. Und sagen: „So etwas haben wir noch nie gesehen. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.