PREDIGT ÜBER HEBRÄER 13,15+16
IM GOTTESDIENST ANLÄSSLICH DES JUBILÄUMS50 JAHRE MELANCHTHONHAUS
AM SONNTAG, DEN 5. OKTOBER 2014 IN SCHWETZINGEN

05.10.2014
Wer in die Kirche kommt, kommt nach Hause. Wie eine große Familienfeier zu Hause kommt mir darum dieser Gottesdienst vor. Denn alle sind sie da, die man zu einem großen Familienfest einlädt. Alte Bekannte und Freunde aus jüngerer Zeit. Nachbarn und offizielle Gäste. Junge und Alte. Kinder und Kantorei. Familie Gemeinde! Familie Kirche!

Wer in die Kirche kommt, kommt nach Hause. Es ist, wie wenn man ein Photo-Album anschaut, wenn man durch die Festschrift für dieses Jubiläum blättert. Bilder als sprechende Zeugen eines halben Jahrhunderts. Pfarrer von einst und Pfarrer der Gegenwart. Gottesdienste und Frühstück für Bedürftige. Kita und Kirchenmusik. Bildung und Diakonie. Geburtstagspost in Form von Grußworten. Photographien von einst und jetzt. Familie Gemeinde! Familie Kirche!

Wer in die Kirche kommt, kommt nach Hause. Die einen öfter oder gar regelmäßig. Andere zumindest dann, wenn es etwas zu feiern gibt. An Weihnachten oder an Ostern. Im Advent oder zu Erntedank! Am Sonntagmorgen oder zum Taizé-Gebet. Ganz sicher aber, wenn ein runder Geburtstag ansteht. Wie heute. Wenn der 50ste gefeiert wird. Familie Gemeinde eben! Und Familie Kirche!

Familien haben ihre Geschichten. Familien haben ihre Erinnerungen. Es vergeht fast kein Fest, wo sie nicht wieder auf den Tisch kommen. Weißt Du noch, als Onkel Karl ... Und wie der kleine Jan uns damals alle ... Gut, dass die Claudia nicht da ist, sonst würden wir wieder wie jedes Mal ... Auch hier ist es in der Familie Gemeinde nicht anders. Wer in die Kirche kommt, kommt eben nach Hause!

Wenn heute viele an vielen unterschiedlichen Orten leben, ist es gut, dass die Familie ihren Stammsitz hat. Das Haus der Vorfahren, dass diese sich vom Mund abgespart haben. Nicht so groß, wie zuerst gedacht und erträumt, aber immerhin. Und wie bei den Bauernhöfen im Schwarzwald oder im Odenwald trägt der Familienstammsitz einen Namen. Kein Vogts-Bauernhof. Auch kein Hansmichel-Hof. Sondern eben das Melanchthon-Haus. Das Bild des Namensgebers hängt stolz und gut sichtbar gleich vorne im Foyer. Auch wenn der Hausbau erst lange nach dessen Tod erfolgt ist.

Wer seinem Familiensitz den Namen Melanchthon gibt, der hat Programmatisches im Sinn. Will nicht nur den einen großen Familienvorfahr Luther geehrt wissen, dessen Haus, nicht so weit von hier, gewisermaßen in der weiteren Nachbarschaft steht.

Melanchthon, der Namensgeber und Hauspatron, ist der Reformator des zweiten Blicks. Meist in seiner Bedeutung und Wirkung gehörig unterschätzt. Und doch ist die Reformation ohne ihn nicht zu denken.

Ich bin ja viel mit dem Zug unterwegs. Vor einigen Wochen las die Frau mir gegenüber in einem Buch über Melanchthon. Wir kommen miteinander ins Gespräch. „Sie kennen Melanchthon sicher auch nicht“, sagt die Frau zu mir. Ich schweige und höre ihr weiter zu. „Ich habe ihn auch nicht gekannt“, fährt sie fort. „Bis ich jetzt zufällig nach Bretten gekommen bin. Er ist noch wichtiger als Luther“. Emotional bewegt, wie eine Neubekehrte, redet sie weiter. „Ohne Melanchthon hätte es die Reformation gar nicht gegeben. Aber er wird immer übersehen. Oder in die zweite Reihe abgeschoben.“

Ich freue mich über soviel Melanchthon-Enthusiasmus. Und denke, in der Familie Gemeinde ist es manchmal womöglich auch so. Gut, dass wir heute also im Stammsitz der Melanchthon-Familie feiern. Aber die Luther-Familie ist willkommen und feiert mit. Weil man häufig ohnedies zusammen feiert. Und im Grunde doch immer schon einer Familie angehört. Gäste sind willkommen. Wie etwa die katholische Verwandtschaft. Man weiß, dass man zusammengehört!

Und manchmal steht bei alten Familien im Familienschrank auch noch ein Erinnerungsbuch der besonderen Art. Eine Familienbibel. Mit den Daten der Vorfahren. Geburt und Tod. Hochzeit. Kinder. Und dann eben auch die kleine Bibliothek, die die Bibel ja auch ist. Mit ihren 66 Büchern, angefangen vom Ersten Buch Mose bis hinten. Bis zur Offenbarung des Johannes.

Beim Blättern in diesem Buch finden wir sehr weit hinten den Predigttext für diesen Erntdedanksonntag. Ein alter Brief unserer Vorfahren. Ein Dokument der Urahnen gewissermaßen. Ein Brief an eine unbekannte Gemeinde. Als Hebräer werden sie angesprochen. Und damit in eine Ahnengeschichte gestellt, die noch weit älter ist als die unsere. In die Geschichte des Volkes Gottes, noch ehe der neue Weg des Christentums seinen Ausgang genommen hat.

Die Worte dieses Hebräerbriefes sind heute gewissermaßen ein Geburtstagsruß der besonderen Art. Wie es manchmal eben Postkarten gibt, die erst nach Jahren und nach vielen Umwegen ihren Adressaten erreichen. Und diesen noch einmal eine neue Sicht auf sein Leben werfen lassen. Da lesen wir also:

So lasst uns nun durch ihn - gemeint Jesus Christus - Gott allezeit das Lobopfer darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. Gutes zu tun und mit andern zu teilen vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott.

Da hat sie also nun Gesprächsstoff für den Geburtstagskaffee, die Familie Gemeinde. Etwas zum Kauen und zum Nachdenken. Etwas, bei dem die einen ratlos zurückbleiben während sich die anderen den Mund verreißen und dritte sich unermüdlich bemühen, die Gemüter zu kühlen und um Verständnis zu werben.

Die Frucht der Lippen als ein Lob-Opfer für Gott. Gewiss, an Erntedank geht’s um Früchte. Um Früchte des Feldes. Früchte, die immer weniger Menschen aus dem eigenen Garten oder den eigenen Feldern kennen. Und die sie immer mehr in der Gemüseabteilung in den Einkaufswagen legen. Die Sorge um deren Wachsen und Gedeihen ist mit Erntedank dann kaum noch verbunden.

Für andere Früchte sind wir aber dennoch verantwortlich. Für die Früchte der Lippen. Einfacher gesagt: Für das, was unsere Worte bewirken. Und immer weder auch unser Schweigen. Dabei gäbe es so viel zu sagen. Etwa dazu, dass die Europäische Union bis zum Jahresende 165 Millionen Euro nur dafür ausgibt, Lebensmittel gleich nach der Ernte wieder kompostieren. Damit die Preise stabil bleiben, weil die Waren nicht mehr nach Russland verkauft werden dürfen. Das ist nicht Erntedank. Das ist die Perversion von Erntedank. Das ist Ernte-Undank. Und die Frucht der Lippen kann nichts anderes sein als der lautstarke Protest!

Die Urversion der Frucht unsere Lippen ist das Bekenntnis. So haben wir’s eben aus dem alten Briefdokument gehört. Das Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer, dem wir verdanken, dass wir sind. Dem wir verdanken, was wir sind. Dem wir danken für das, was uns am Leben hält.

Zur Frucht der Lippen kommt das Opfer der Tat. Ein knappes, aber wirksames Programm ist im Brief aus der Familienbibel festgehalten. Nur zwei Dinge seien wirklich nötig: Gutes tun. Und mit anderen teilen!

Und vielleicht findet sich auf dem Speicher des Familien-Stammsitzes der Melanchthon-Linie noch ein Exemplar jenes Buches von Melanchthon, das Luther nach der Bibel als wichtigstes überhaupt angesehen hat. In diesem Buch, den Loci communes, den Grund begriffen der Theologie, können wir zu den Früchten des Lebens und des Glaubens folgendes lesen:

Die Wirksamkeit des Glaubens – so schreibt Melanchthon - besteht darin, dass man die Barmherzigkeit und Vergebung schmeckt, so dass unser Gemüt Gott wiederliebt und sich freut und gleichsam durch einen Gegendienst seine Dankbarkeit für solche Barmherzigkeit beweisen will. Man stellt sich den Nächsten gern zur Verfügung. Man hält ihre Not für die eigene ... und verfährt in allen Dingen mit allen Menschen lauter und aufrichtig, so dass aus diesen Früchten sich leicht erhellt, in welchem Herzen wahrer Glaube ist.

Vom Gegendienst der Dankbarkeit spricht Melanchthon. Vom Opfer, vom Dank-Opfer der Hebräerbrief. Das wahre Opfer des Lebens – es besteht darin, mit anderen zu teilen! An Erntedank kommt uns zuallererst das Teilen der verzehrbaren Güter, der Nahrungsmittel, in den Sinn. Niemand auf diesem Planeten müsste an Hunger sterben. Wenn wir es denn nur wollten!

Längst müsste anderes ebenso geteilt werden: Die Isolierstationen der Krankenhäuser, die fehlen. In Liberia. Überall da, wo sich Ebola ausbreitet. Wohnraum, ein Dach über dem Kopf, für die vielen, die vor Krieg und Gewalt in ihrer Heimat fliehen.

Wer in die Kirche kommt, kommt nach Hause – das habe ich eingangs gesagt. Gerade die verfolgten Christinnen und Christen müssten sich darauf verlassen können. Familie Gemeinde. Familie Kirche. Ein sicherer Ort. Für die Nahen. Und eben auch die Fernen!

Dieses Melanchthon-Haus ist ein Ort, wo dies eingeübt wird. Das Opfer der Früchte unserer Lippen. Im Gottesdienst. Im Konfirmandenunterricht. Beim Singen und Musizieren. Immer da, wo Menschen sich hier begegnen.

Die Kita nebenan ist ein Ort, wo diese eingeübt wird. Gutes zu tun. Und mit anderen zu teilen.

Familie Gemeinde! Familie Kirche! 50 Jahre beheimatet hier in diesem Haus. Grund zum Danken! Und Gedenktag des Erntens. Des Erntens der Früchte auf dem Feld. Des Erntens der Früchte unserer Lippen. Und der Früchte des Lebens.

50 Jahre Erntedank! 50 Jahre Grund zum Feiern! Wer in die Kirche kommt, kommt nach Hause. Und ist eingeladen mitzufeiern. Im Haus der Familie Gemeinde. Am Tisch der Familie Kirche. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.