„IM WEINBERG DES HERRN GIBT ES KEINE STECHUHR“
PREDIGT ÜBER MATTHÄUS 20,1-16A
SONNTAG, 1. FEBRUAR 2015 (SEPTUAGESIMAE)
IN SULZBACH UND BILLIGHEIM

01.02.2015
Liebe Gemeinde!

Es gibt Texte, die dürften in der Bibel auf keinen Fall fehlen. Unser heutiger Predigttext gehört dazu. Natürlich dürfte kein einziger Text der Bibel fehlen, ich weiß. Aber wenn ich mir vorstelle, wir hätten die Bibel nur noch in alten einzelnen Handschriften der biblischen Bücher, so wie in früheren Jahrhunderten, und wir müssten sie uns mühsam wieder neu zusammensuchen, dann wäre der heutige Predigttext ein unverzichtbarer.

Das Fehlen mancher Kriegsschilderung aus dem alten Testament könnte ich vielleicht verschmerzen. Auch der Wegfall mancher Doppelüberlieferungen. Aber wenn ich in einem einzigen Text wiederfinden möchte, worum es der ganzen Bibel geht – wenn ich davon erzählen möchte, was im Mittelpunkt meines Glaubens steht, dann ginge das nicht ohne den heutigen Predigttext.

Wenn jemand von mir wissen will, was es mit Gott auf sich hat, wie ich mir Gott vorstelle, dann würde ich zuallererst dieses Gleichnis erzählen, um das es heute geht.

Jetzt habe ich sie genug auf die Folter gespannt, liebe Gemeinde. Jetzt ist es höchste Zeit, dass wir gemeinsam auf den Predigttext für diesen Sonntag Septuagesimae hören. Er steht im 20. Kapitel des Matthäus-Evangeliums. Ich bin sicher, die meisten von ihnen werden ihn sofort wiedererkennen. Aber heute vielleicht noch einmal neu und mit anderen Ohren hören:

Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg.

Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin? So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.


Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg - so nennen wir das Gleichnis, das wir gehört haben, jedenfalls meistens. Ob diese Überschrift stimmt, darauf komme ich am Ende noch einmal zurück.

Mit der ökonomischen Brille können wir auf dieses Gleichnis schauen. Oder mit der theologischen. Sie werden sehen: Beides ist ertragreich. Wenn wir den Blick der Ökonomie, den Blick der Wirtschaft nehmen, gäbe es zwei Sichtweisen zu unterscheiden. Eine ärgerliche und eine womöglich doch zukunftsweisende.

Wir könnten sagen – und das ist fast immer die erste Reaktion: unmöglich! Da schlägt dann plötzlich in jedem und in jeder von uns ein Stück gewerkschaftliches Herz. Ein Stück Widerstand aus der Liebe zur Gerechtigkeit. Das kann doch einfach nicht sein! Die einen schuften den ganzen Tag in der sengenden Hitze. Und die anderen beteiligen sich noch eine Stunde, dann wenn’s abends schon etwas abkühlt. Und am Ende haben sie alle den gleichen Lohn in der Lohntüte.

Gerecht ist das nicht. Zumindest nicht gerecht nach unseren Maßstäben. Wir könnten bestenfalls die Leitlinien des erträumten kommunistischen Endzustands verwirklicht sehen: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Das heißt konkret zumindest nicht einfach Bezahlung nach den Stunden der geleisteten Arbeit. Aber dann müssten zumindest die mit einer großen Familie, die mit vielen Kindern und dazu noch die mit zu pflegenden Angehörigen mehr bekommen. Davon steht im Gleichnis aber nichts drin.

Ich kenne das von unseren fünf Kindern. Früher gab es oft Debatten, warum wir sie als Eltern unterschiedlich behandeln. Warum die einen früher ins Bett mussten als die anderen. Warum die einen irgendwo mitdurften. Und die anderen mussten zu Hause bleiben. Warum das Taschengeld nicht für alle gleich hoch war.

Dahinter steckten eben genau die Überlegungen von uns Eltern. Was braucht der oder die jetzt? Ist es sinnvoll, alle immer über den gleichen Kamm zu scheren? Was im Kleinen aber noch geht, etwa in der Familie, das lässt sich im Großen, im Politischen, in einem Betrieb, leider nicht in derselben Weise umsetzen. Darum sagt das Gleichnis dazu auch überhaupt nichts. Dieser Zahn der Ungerechtigkeit lässt sich diesem Gleichnis also fürs erste nicht gleich ziehen.

Der andere Weg wäre der zu sagen: In diesem Gleichnis ist der Mindestlohn umgesetzt. Jeder bekommt genug, um davon leben zu können. Diese Debatte können wir ja gerade in der Politik mitverfolgen. Der Stundenlohn müsste eigentlich so hoch sein, dass niemand in die Armut fallen darf, der arbeitet. Das trifft für das Gleichnis zweifellos zu. Ein Silbergroschen ist nach damaligem Wert schon eine gute Entlohnung. Umgerechnet viel mehr wert als 8 Euro 50. Aber auch der Mindestlohn ist ein Stundenlohn. Und wer zwölf Stunden gearbeitet hat, bekommt mehr als der, der nur eine Stunde gearbeitet hat. Das empfinden wir jedenfalls als gerecht.

Soweit der ökonomische Blick auf dieses Gleichnis. Ein kleiner Ertrag könnte also doch zumindest darin bestehen, dass wir feststellen: Ja, ein Mensch muss von seiner Arbeit leben können. Und: Womöglich ist die Rechnung: Lohn ist Stundenlohn mal gearbeitete Stunden manchmal doch auch ungerecht. Denn die einen haben schon ohne Lohn genug. Und den anderen reicht das, was sie bekommen, kaum zu einem würdigen Leben.

Höchste Zeit, dass ich jetzt also den theologischen Blick wage. Und auf den kommt es Jesus, dem Gleichnis-Erzähler in erste Linie an - obwohl die Zuhörer und Zuhörerinnen damals die wirtschaftliche Ungerechtigkeit auch empfunden haben. Jesus beginnt, indem er vom Reich Gottes spricht. Ich glaube, am Ende will er von Gott selber sprechen. Davon, wie Gott verstanden werden will. Davon, wie Gott ist. Was sein Gott-Sein ausmacht. Und da läuft am Ende etwa quer zu unserer Vorstellung von Gerechtigkeit. Und genau hier wird der Text so richtig spannend.

Wir leben alle nach unterschiedlichen Lebensentwürfen. In unterschiedlichen Beziehungen. Auch mit unterschiedlichen Vorstellungen davon, was wichtig ist und was unwichtig. Was ich tun darf, vielleicht gerade noch tun darf und was nicht. Und wir Menschen neigen alle gern dazu, über unsere Mitmenschen zu urteilen: Das geht doch nun wirklich nicht. Das hätte er oder sie nun wirklich nicht tun dürfen. Oder noch genauer: Der ist ein Schurke! Und die ein Engel!

Unsere katholischen Schwestern und Brüder kennen die Vorstellung des Fegefeuers. Fegefeuer, das bedeutet: Nach dem Tod werden alle gleich gemacht. Gleich gemacht dadurch, dass sie für ihr Leben unterschiedlich lang im Fegefeuer schmoren müssen. Irgendwie leuchtet das ja doch auch ein. Wer besser lebt als andere, dem oder der müsste es dann auch besser ergehen. Das ist unsere menschliche Gerechtigkeit. Dasselbe Gerechtigkeitsempfinden, das es uns schwer macht, dieses Gleichnis zu ertragen.

Das Gleichnis sagt: Das Urteil über unser Leben, die Würdigung unserer Lebensleistung, die ist Sache Gottes. Und Gott gegenüber sind wir alle gleich. Gott gegenüber sind wir alle darauf angewiesen, dass Gott uns ihm gegenüber recht sein lässt. Mit einer oder mit zwölf Stunden.

Um die Leistung, um die Dauer der Arbeit, geht’s überhaupt nicht. Es geht um die ausnahmslos allen zukommende Großzügigkeit Gottes. Sich darin geborgen wissen, darauf zu vertrauen, das genau meint Glauben. Glauben heißt, sich auf Gottes Großzügigkeit, auf Gottes Gnade verlassen.

Das lateinische Wort für Gnade ist gratia. Dieses Wort gratia steckt auch im deutschen Wort gratis. Da lässt uns Gott Leben und Fülle finden. Gratis. Umsonst. Diese Gnade kann man nicht portionieren. Diese Gnade, diesen Lebenszuspruch gibt es nur ganz. Für alle. Deshalb sind die Letzen den Ersten gleichgestellt. Im Weinberg des Herrn gibt es keine Stechuhr.

So ist Gott. So gnädig kann nur Gott sein. Anders gesagt: Genau das macht Gott aus, dass er so anders ist. Es macht Gott aus, dass sein Richten nicht Angst erzeugt. Sondern Befreiung. Oder um es mit den Worten eines bekannten Theologen zu sagen: „Dass Gott richtet, ist Gnade!“

Das muss unserem Denken zuwiderlaufen. Aber Gott wäre sonst nicht Gott. Wäre Gott nur die Perfektionierung unseres eigenen Gerechtigkeitsdenkens, bräuchte es ihn gar nicht. Dann müssten wir uns nur einfach selber genügend anstrengen.

Deshalb ist dieses Gleichnis unverzichtbar. Und deswegen dürfte es auch nicht die Überschrift tragen „Die Arbeiter im Weinberg“. Die Überschrift muss vielmehr lauten: „Von der grenzenlosen Gnade Gottes“.

Ein Missverständnis möchte ich am Schluss aber noch aus dem Weg räumen. Wenn das die göttliche Gerechtigkeit ausmacht, ist die menschliche deshalb nicht aufgehoben. Das heißt: Unser erster Blick mit der ökonomischen Brille war wahrhaftig nicht unnötig. Unser Einsatz für Gerechtigkeit, unser Drängen auch auf gerechte Entlohnung ist keineswegs unnötig.

Jesus hat hier ein Beispiel gewählt, mit dem er die Großzügigkeit Gottes ins rechte Licht stellen will. Aber ohne die Notwendigkeit unserer menschlichen Gerechtigkeit aufzuheben.

Darum liegt sehr wohl ein Segen auf unserem Bemühen, die Welt etwas gerechter zu machen. Um die Gerechtigkeit Gottes brauchen wir uns dagegen keine Sorgen zu machen. Gott will, dass wir die Fülle haben. Auch wenn das im Alltag manchmal kaum zu glauben ist. Und wir brauchen nicht scheel zu schauen, dass alle anderen genauso großzügig bedacht werden. Eben das ist Gnade. Und genau darum ist dieses Gleichnis unverzichtbar. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.