PREDIGT ÜBER EPHESER 5,8-14
IM GOTTESDIENST AM SONNTAG, DEN 17. JULI 2016
- 8. SONNTAG NACH TRINITATIS -
IN DER KAPELLE DES WOHNSTIFTS AUGUSTINUM

17.07.2016
Es ist noch Nacht in Ephesus. Eine Gruppe von Menschen macht sich im Schutz der Dunkelheit auf den Weg zum kleinen Fluss, der etwas außerhalb liegt. Schweigend gehen die etwa zwei Dutzend Menschen hintereinander durch die engen Gassen. Männer und Frauen. Sogar zwei, drei Kinder sind dabei. Sie haben keine Angst. Aber sie wollen auch kein Aufsehen erregen. Man weiß ja nie!

Erst im sicheren Abstand zum lassen sich Worte und Satzfetzen vernehmen. „Ich freue mich“, hört man eine junge Frau sagen. „Du gehörst jetzt dazu!“, lässt sich eine andere Stimme vernehmen. „Du wirst ein anderer Mensch werden!“ – ein alter Mann sagt das. Weisheit und Lebenserfahrung verleihen seiner Stimme eine besondere Färbung.

Unten am Fluss ordnet sich die Gruppe neu. Eine Handvoll Menschen steht dicht beieinander. Ihre Kleider haben sie abgelegt. Sie sind nur noch mit einem Tuch bekleidet. Daneben formiert sich eine weitere größere Gruppe. Sie summt eine eingängige Melodie. Wie ein Chor. Zwischen beiden Gruppen steht der alte Mann. Er gibt ein Zeichen zur Stille. Dann fängt die größere Gruppe an zu singen:

Wach auf, der du schläfst,
und steh auf von den Toten,
so wird dich Christus erleuchten.


Immer wieder singen sie diese Strophe.

Wach auf, der du schläfst,
und steh auf von den Toten,
so wird dich Christus erleuchten.


Aufwachen, das müssen die meisten tatsächlich erst noch. Auch wenn das Lied etwas ganz anderes meint. Es ist noch sehr früh am Tag. Und sie sind noch müde.

Ganz allmählich sind die ersten Sonnenstrahlen zu erahnen. Es reicht, um lesen zu können. Der alte Mann betet einen Psalm. Er liest Texte aus der Hebräischen Bibel vor. Von der großen Flut. Vom Auszug aus der Sklaverei.

Dann wendet er sich an die kleine Gruppe derer, die nur noch ein Tuch tragen. Nacheinander legen die ihr Tuch ab. Steigen mit dem Alten in den Fluss. Sie tauchen unter. Und dann wieder auf. Dreimal hintereinander.

Der Name des dreieinigen Gottes ruft der Alte über ihnen aus. Jemand reicht ihnen ein Stück Stoff, damit sie sich abtrocknen können. Dann werfen sie sich ein neues Kleid über. Weiß leuchtet das Leinen in der jetzt schon stärker aufstrahlenden Sonne.

Alle stehen sie wieder nebeneinander. Jetzt strahlen sie. „Wie neugeboren!“, sagt einer! Dann setzt plötzlich der Chor wieder ein.

Bis jetzt wart ihr Finsternis.
Jetzt aber seid ihr Licht.
Licht in dem Herrn. (2x)
Lebt als Kinder des Lichts!
Die Frucht des Lichts ist
Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.


Alle spüren: Das ist ein besonderer Moment. Großes hat sich hier ereignet. Die Menschen, die dem Wasser entstiegen sind, die sind nicht mehr die alten. Mit ihnen ist etwas anders geworden. Sie sind jetzt irgendwie neu.

Bis jetzt wart ihr Finsternis.
Jetzt aber seid ihr Licht.


Voller Glanz strahlen die hellen Kleider der Neugewordenen jetzt in der aufbrechenden Morgensonne. Nicht nur der Tag ist heller geworden. Heller ist es auch in ihrem Inneren. Die ganze Welt, so scheint’s, ist heller, ein klein wenig heller geworden.

Liebe Gemeinde! Sie haben sicher gleich erkannt, wovon ich ihnen erzählt habe. Es ist der Bericht von einem Taufgottesdienst. Diese Gottesdienste laufen heute nicht sehr viel anders ab als vor 2000 Jahren.

Der Taufgottesdienst, von dem ich ihnen gerade erzählt habe, hat tatsächlich vor 2000 Jahren stattgefunden. Vor den Toren von Ephesus. Wir kennen den Text der beiden Lieder aus der Taufliturgie. Ein unbekannter Briefschreiber hat ihn für uns aufgeschrieben. Und somit aufbewahrt. Ein Schüler des Apostels Paulus. Als er schreibt, ist Paulus nicht mehr am Leben. Aber die Gedanken des Paulus sind immer noch wirksam. Seine Predigten und seine Briefe werden immer noch gelesen. Sie werden bearbeitet. Mit neuen Erfahrungen angereichert. Sie zirkulieren in den Gemeinden umher.

Der heutige Predigttext stammt aus einem solchen Rundschreiben. Irgendwann landet auch eine Kopie in Ephesus. Und der Vermittler, derjenige, der den Brief dahin weiterleitet, fügt im Briefkopf noch ein: „An die Heiligen in Ephesus“. In den ältesten Abschriften, die wir kennen, fehlt dieser Zusatz noch.

Es ist kein klassischer Brief. Eher eine Taufpredigt, die zu einem Brief umgearbeitet wurde. Und angereichert mit Liedern und Texten aus der Taufliturgie. Vermutlich haben die Christinnen und Christen in Ephesus das alte Tauflied schon gekannt. Viuelleicht haben sie es aber auch erst durch diesen Brief kennengelernt.

Der heutige Predigttext enthält genau dieses alte Lied. Zwischen die beiden Strophen ist dann noch eine kleine Taufermahnung eingefügt. Ich lese aus dem 5. Kapitel des Epheserbriefes die Verse 8 bis 14:

Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.

Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist, und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis; deckt sie vielmehr auf. Denn was von ihnen heimlich getan wird, davon auch nur zu reden ist schändlich. Das alles aber wird offenbar, wenn's vom Licht aufgedeckt wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht.

Darum heißt es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.


2000 Jahre dauert sie schon: die Geschichte der Kirche. 2000 Jahre dauert auch schon die Geschichte der Taufe. Mehr als 2 Milliarden Menschen auf diesem Planeten Erde sind derzeit Christinnen und Christen. Ich weiß nicht, wie große die Zahl wäre, wenn man alle Christen zusammenzählt, die je auf dieser Erde gelebt haben. Es wäre ein Vielfaches.

Ungezählte Milliarden von Taufen. Ungezählte Milliarden Menschen, die einst Finsternis waren. Und die jetzt Licht sind. Und ihr Licht doch auch leuchten lassen sollen. Ich wage kaum mir vorzustellen, wie diese Welt aussähe, wenn alle ernst gemacht hätten mit dem, wozu ihre Taufe sie einst berufen hat. Wenn sie ernst gemacht hätten mit ihrem Glauben. Zwei Milliarden von Menschen, die heute ihre Früchte des Lichts aufleuchten lassen: Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.

Irgendwie, denke ich, irgendwie hätte man das doch merken müssen! Irgendwie müsste man das doch merken! Unter den Habenichtsen am Rande unserer Gesellschaft. Unter den Opfern von Krieg, Gewalt und Zerstörung. Unter den Resignierten und Hoffnungslosen.

Und irgendwie merkt man ja auch manches. Immer wieder gibt es Menschen, die ihr Leben riskieren, um anderen Menschen zu helfen. Irgendwie hat das Wirken der Diakonie dieser Welt etwas von ihrer Kälte genommen. Irgendwie haben Menschen immer neu Hoffnungsgeschichten geschrieben. Haben dem Rad in die Speichen gegriffen. Und diese Welt besser gemacht.

Dietrich Bonhoeffer. Albert Schweizer. Mutter Theresa. Das sind nur die bekannten Namen. Es gibt viel mehr Menschen, deren Namen kaum noch einer kennt. Und die dennoch Licht waren – oder Licht sind für diese Welt. Und nicht einmal nur Menschen, die getauft sind.

Aber aufs Ganze gesehen ist diese Welt kein friedlicher Ort. Dazu reicht schon der Rückblick auf die hinter uns liegende Woche. Aufs Ganze gesehen hätten wir den Einsatz der 2 Milliarden Getauften bitter nötig. Ihr Eintreten für Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.

Nur: Wie könnte das gehen? Wie könnte dieser Einsatz aussehen? Reicht es, im Verborgenen kleine Werke der Nächstenliebe zu tun? Nötig sind sie allemal, diese Werke der Nächstenliebe. Dieser diakonische Einsatz für die Schwächsten unter uns.

Ich will noch einmal den Predigttext in Erinnerung rufen. Genauer gesagt, die kleine Predigt zwischen den beiden Liedern. Diese kleine Taufermahnung.

Auch in diesem kleinen Zwischenteil geht’s ums Licht. Aber nicht um unser Leuchten als Getaufte. Es geht um eine andere Wirkung des Lichts. Es geht um die aufdeckende Wirkung. Da wird auch etwas „ans Licht gebracht“. Da werden die Werke des Lichts von den Werken der Finsternis unterschieden.

Was in der Theorie einleuchtet, ist in der Praxis umso schwerer zu verwirklichen. Die Frage, was Licht ist, und was Finsternis – so leicht lässt sie sich in der Regel nicht entscheiden. Viel zu häufig spielt sich unser Leben in Grauzonen ab. Verläuft zwischen dem Wünschenswerten und dem Möglichen. Viel zu häufig bleibt uns nach langem Abwägen nur, sich zwischen zwei Übeln zu entscheiden.

Keine Gewalt - ja! Denn nichts ist gut – an vielen Orten dieser Welt. Aber wenn’s zum Schwur kommt, wenn es um die Abwehr von Willkür und Verbrechengeht, sind wir dann doch dabei. An fast 20 sogenannten humanitären Einsätzen ist die Bundeswehr derzeit beteiligt. Was ist dann hier Finsternis? Was ist dann hier Licht?

Keine genetischen Eingriffe in unser Erbgut und in unsere Lebensmittel – ja! Aber wenn dann ein solcher mein Leben rettet oder das eines lieben Angehörigen – wenn auf dieser Basis ein neues Medikament entwickelt wird oder irgendwo in Afrika der Mais gegen Schädlinge resistenter wird, so dass die Menschen zu essen haben - sind wir dann nicht doch dabei. Und sei’s mit schlechtem Gewissen. Was ist dann hier Finsternis? Was ist dann hier Licht?

Immer nur die Wahrheit sagen - ja! Immer unsere Türen offen halten für Fremde, die Schutz suchen - ja! Nie mit einem Diktator Geschäfte machen - ja! Die Umwelt immer weniger belasten! – ja! Ja, schon! Die Liste ließe sich mühelos verlängern. Aber dann will ich nicht alles öffentlich machen. Dann brauche ich Herrn Erdogan für einen Flüchtlingsdeal. Dann nehme ich doch wieder das Auto, um Zeit zu sparen. Unter der Hand wird aus dem Ja ein Ja, aber! Oder ein Ja, vielleicht! Was ist dann Finsternis? Was ist dann Licht?

Leben, auch das Leben der Getauften, spielt sich oft in den Grauzonen ab. Viel zu oft. Die feine Unterscheidung von Licht und von Finsternis - manchmal scheuen wir sie. Manchmal ist sie einfach unmöglich. Manchmal werden wir auch ertappt. Weil das Licht der Taufe aufdeckt, was wir sonst lieber unter den Teppich gekehrt hätten.

Getauft sein, das heißt im Licht leben. Sich dem Licht aussetzen. Und die Welt in diesem Licht neu sehen. Grauzonen dürfen kein Dauerzustand werden. Dazu haben wir uns in der Taufe verpflichtet. Dazu sind wir durch unsere Taufe berufen. Dazu sind wir aber auch in Stand gesetzt.

Und wenn wir dann dennoch immer wieder in den Grauzonen landen? Oder gar in der Finsternis? Dann kommt die andere Zusage ins Spiel, die bei der Taufe auch eine Rolle spielt. Auch wenn sie im Predigttext selber gar nicht vorkommt. Unser Scheitern vernichtet uns nicht. Unser Zurückbleiben hinter unseren Möglichkeiten nimmt uns vor Gott nicht aus dem Spiel.

Vergebung nennen wir diese Erfahrung in der Sprache des Glaubens. Auch diese Möglichkeit wird uns in der Taufe zugesprochen. Gerade deshalb können wir ein Leben lang zu unserer Taufe zurückkehren. Und immer wieder neu anfangen. Nicht nur im Großen. Auch im Kleinen. In den alltäglichen Entscheidungen und Abläufen unsere Lebens. Wir müssen die Welt nicht alleine aus den Angeln heben. Denn:

Wir waren einst Finsternis.
Jetzt aber sind wir Licht!


Und wo wir es noch nicht gänzlich sind, da können wir es allemal noch werden. Ohne Altersbegrenzung.

Das ist Grund genug, uns immer wieder neu an unsere Taufe zu erinnern. Das feiern wir in jedem Gottesdienst. Das macht uns Licht. Und lässt uns leben. Sogar über den Tod hinaus. Wenn wir Licht si. Und bleiben – für immer! Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.