„EIN GANG DURCHS MUSEUM DER
UNVERZICHTBAREN WÖRTER“
PREDIGT ÜBER GALATER 5,1-6
ANLAESSLICH DES BADISCHEN CHORFESTES
IN DER JESUITENKIRCHE HEIDELBERG AM 1. JULI 2017

01.07.2017
Liebe Gemeinde!

Wenn Sie denn nun schon mal hier sind, kommen sie doch schnell mal mit ins Museum! Ich lade Sie ein. Nein, nichts ins Kurpfalzmuseum, nicht weit von hier, in der Hauptstraße. Das hat um diese Zeit längst geschlossen. Ich will sie mitnehmen ins „Museum der unverzichtbaren Wörter“. Sie kennen es noch nicht? Ich bin immer wieder dort. Das „Museum der unverzichtbaren Wörter“ lebt davon, dass die Menschen keinen Bogen darum herum machen.

Gleich wenn man reinkommt, geht es in die Abteilung für Menschenrechte. Da müssen alle durch. Ebenso durch die Hallen der Gerechtigkeit. Die Räume mit den Ideen des Humanismus lassen dann viele lieber links liegen. Und viele umgehen auch die Abteilungen Frieden und Bewahrung der Schöpfung.

Ein eigener Trakt dieses besonderen „Museums der unverzichtbaren Wörter“ ist den Religionen gewidmet. Wenn man geradeaus hineingeht, gelangt man zum Bereich „Schlüsselwörter der jüdisch-christlichen Tradition“. Der Liebe ist ein Raum gewidmet. Verzeihung und Versöhnung steht an der anderen Tür. Nebenan dann Dienst am Nächsten und Kunst und Feste. Irgendwo muss da auch die Musik einen Ort haben. Denn die Klänge werden immer lauter. Gesungenes Gotteslob steht auf dem Hinweisschild.

Ausnahmsweise gehe ich dieses Mal an dieser Tür vorbei. Normalerweise lege ich in der Oase der Kirchenmusik immer eine Pause ein. Heute zieht es mich unwillkürlich weiter. Neu-Präsentation der Säulen der Freiheit steht da zu lesen. Hier verweile ich nun fürs Erste. Viel gibt es da zu sehen. Noch mehr geht mir durch den Kopf.

Von Freiheit ist derzeit schließlich viel die Rede, denke ich. Hier möchte ich fürs Erste verweilen bei meinem Gang durchs Museum. Gottseidank – die Musik kann man immer noch ganz gut hören. Im Moment ist es Chormusik, die da an meine Ohren dringt.

Aber die Freiheit hat’s mir heute besonders angetan. Um Freiheit geht’s in der Politik, wenn eingeschränkte oder gar fehlende Freiheit beklagt wird.

Um Freiheit geht’s derzeit häufig auch bei auch bei uns in der Kirche. Ein riesiges rotes Banner füllt einen Teil der Wand hinter den Säulen der Freiheit. Oben das Gesicht Martin Luthers. Darunter der Satz: „... da ist Freiheit!“ Genauso wie auf dem Programmheft für das Chorfest oben rechts. Ein T-Shirt, eigens mit diesem Aufdruck versehen, kann man im Museumsshop erwerben. Dazu laufen immer wieder kleine Filme, in denen Menschen erläutern, was dieser Satz für sie bedeutet: „... da ist Freiheit!“ Da hat jemand ganz schön viel Geld investiert, denke ich!

Natürlich kenne ich diesen Satz. „... da ist Freiheit!“ Es ist die zweite Hälfte eines Satzes des Apostels Paulus. Ganz lautet er: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!“ Hier zitiert eine Stimme aus dem Off aber immer wieder einen anderen Satz: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit! - Zur Freiheit hat euch Christus befreit!“ Wieder Paulus, denke ich. Das war wohl der Apostel der Freiheit schlechthin. Aber irgendwie kommt mir der Satz auch ein wenig vollmundig vor. „Zur Freiheit hat euch Christus befreit!“

Ich gehe auf andere Menschen zu, die sich wie ich die Säulen der Freiheit anschauen. „Fühlen sie sich frei?“, frage ich. „Fühlen sie sich wirklich frei? Unterliege sie derzeit keinerlei Einschränkungen Müssen sie auf niemanden Rücksicht zu nehmen? Keine Sorgen oder Konflikte, die die Freiheit ihres Denkens einschränken. Keine zeitlichen Einschränkungen durch die Fürsorge für andere – in Erziehung oder Pflege? Sind sie frei, zu tun und zu lassen, was sie wollen?“ Meist ernte ich Schweigen. Manchmal auch ein verächtliches Schnauben. Oder ein: „Wenn sie wüssten!“ Bei einigen lösen sich ein paar Tränen. Wenn ich so nach der Freiheit frage, da bin ich mir sicher, dann ist niemand wirklich frei.

Das hat auch der Apostel Paulus gewusst. Und darum hat er mit Freiheit noch einmal etwas anderes im Blick. Ich schaue, wo die Ausstellung weitergeht. Und wirklich: Durch das Lutherbild an der Wand kann man hindurchsteigen. Und landet in einem Raum, der gestaltet ist wie ein Buch. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ ist auf die große Plexiglasscheibe aufgedruckt, die die Rückseite des Buchs darstellen soll.

In bunter Laserschrift schweben zwei Sätze in dem Raum. Immer wieder lösen sie sich ineinander auf: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. So lautet der eine Satz, Und der andere: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Luther hat’s also auch mit der Freiheit gehabt, stelle ich fest. Und sicher hat er seine Einsichten doch auch dem Apostel Paulus zu verdanken. Ich merke: Ich muss dem Satz nachspüren, der von der Stimme aus dem Off immer wieder wiederholt wird: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit. Lasst euch nicht wieder klein machen vom Joch der Knechtschaft!“

Paulus, daran erinnere ich mich – hat diese Sätze an die an die Gemeinden in Galatien geschrieben hat: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit. Lasst euch nicht wieder klein machen vom Joch der Knechtschaft!“

In diesen beiden Sätzen leuchtet der ganze Galaterbrief in konzentrierter und komprimierter Form auf. Was dann noch folgt, ist nur Erläuterung. „Zur Freiheit hat euch Christus befreit!“ Was aber ist gemeint, wenn es um die Freiheit geht? Was ist Freiheit? Schautafeln verweisen mich auf die Tradition. Nach und nach gehe ich an ihnen entlang.

• Freiheit von Sklaverei und körperlicher Arbeit, steht da. Freiheit zur Muße und zur politischen Betätigung - darum, so lese ich, ging es bei den Griechen. Ich gehe weiter die Tafeln entlang.

• Freiheit, Liberté – zusammen mit der Gleichheit und der Geschwisterlichkeit hatten sich die Revolutionäre des Jahres 1789 in Frankreich die Befreiung von feudalen oder vordemokratischen Strukturen auf ihre Fahnen geschrieben.

• Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden – das können wir bei Rosa Luxemburg nachlesen.

• Freiheit – sie ist die Beschreibung eines Zustandes, in dem man nichts mehr zu verlieren hat – freedom is just another word for nothing left to loose – so klingt es in Me and Bobby MacGee, dem berühmten Folk-Song von Kris Kristofferson, den Janis Joplin einst so unnachahmlich interpretiert hat.

• Freiheit – verstanden als Anspruch, tun und lassen zu können, was ich will. Als Möglichkeit, willentlich zu handeln. Gegen die Überzeugung mancher Neurowissenschaftler.

• Freiheit, verstanden als das Recht, meinen Führungsanspruch und meine Auffassung der Welt durchzusetzen - und womöglich der Verlockung der Macht zu erliegen?

• Oder auch Freiheit als das Recht, auf meine individuelle Weise das Glück anzustreben, wie die amerikanische Verfassung es formuliert.

• Und auf der letzten Tafel steht eine Frage: Freiheit – Freiheit von etwas oder Freiheit zu etwas?

Zum Glück entdecke ich plötzlich eine Museumsmitarbeiterin im Raum. Haben sie irgendwelche Fragen? Ganz freundlich wendet sie sich mir zu.

Natürlich habe ich Fragen. „Wovon sind die Menschen frei geworden, an die Paulus diesen Brief gerichtet hat?“, will ich wissen. Die Antwort kommt prompt und bestimmt: „Frei geworden sind sie von bestimmten Vorgaben des Weges zu Gott. Frei geworden sind sie davon, sich beschneiden zu lassen. Denn diese Beschneidung hätte schließlich zur Folge gehabt, dass alle, die beschnitten wurden, auch alle Regeln und Vorgaben der jüdischen Mutterreligion des Paulus hätten einhalten müssen. Die Speisegesetze etwa, die genau festlegen, was rein ist und was nicht. Oder die Regel, dass ich am Sabbat keinerlei Arbeit verrichten soll.

Diesen Weg will Paulus vor allem denen ersparen, die aus einer anderen Religion kommen. Denen eben, die nicht zu seiner eigenen jüdischen Glaubensgemeinschaft gehören. Völker nennt die hebräische Bibel diese Gruppe. Luther übersetzt dieses Wort mit Heiden. Freiheit hieße dann Freiheit von einem diese Menschen womöglich überfordernden Netz der Tradition. Freiheit also auch von der Beschneidung. Freiheit ist also als das Recht, ein Heide sein zu können. Und einen anderen Weg zu Gott wählen zu können.“

Die Mitarbeiterin unterbricht ihren Redefluss. Das war fast etwas zu viel auf einmal. Mir wird klar: Paulus ist hier im Umfeld von Menschen aktiv, die nicht der jüdischen Religion angehören. Niemand muss also erst Mitglied einer jüdischen Gemeinde werden, um an Gott glauben zu können. Das ist hier mit Freiheit gemeint.

Freiheit ist hier also der Ausdruck einer gänzlich neuen Art zu leben. Nur: „Wie soll das konkret gehen?“, frage ich mich. Da höre ich, dass neben der einen Stimme jetzt noch eine zweite zu hören ist. Sie fällt der ersten immer ins Wort. Nicht nur „Zur Freiheit hat euch Christus befreit!“ Sondern auch: „In Christus zählt nur der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“

Ich ahne: Ich muss auch noch in die Abteilung Liebe. Aber vorerst bleibe ich noch bei den Säulen der Freiheit. Die Zeile eines Liedes aus dem Gesangbuch kommt mir in den Sinn. Ein häufig und manchmal zu Unrecht geschmähtes Lied. „Freiheit, sie gilt für Menschen, Völker, Rassen, so weit, wie deine Liebe uns ergreift.“ Ich nehme mir vor, das nächste Mal etwas gnädiger zu sein, wenn Menschen sich dieses Lied wünschen.

Einiges ist mir jetzt klar geworden. Freiheit, so wie Paulus sie im Brief nach Galatien beschreibt – das begründet im Letzten keine neue Religion. Sondern eine neue Haltung gegenüber der Wirklichkeit. Und damit auch gegenüber Gott. Diese neue Haltung, diese neue Vertrauen – das macht bei Paulus den Glauben aus, zumindest den Glauben als Möglichkeit für die, die nicht aus dem Judentum stammen.

Durch einen kurzen Gang gelange ich in die Abteilung Freiräume des Glaubens. Eine leise Stimme singt Antworten auf die Frage, was das bedeutet: Glauben in der Freiheit eines Christenmenschen. Ich höre genauer hin:

Glauben heißt – im Freiraum dieses Christus sein Leben gestalten.

Glauben heißt – in der Liebe Gottes werden.

Glauben heißt – die Gerechtigkeit von Gott her erhoffen.

Klare Antworten auf meine Fragen, denke ich. Glauben in dieser Freiheit meint also mehr, als sich einfach in ein Regelsystem von Verhaltensweisen einbinden zu lassen. Selbst dann, wenn diese Regeln durchaus ihren Sinn haben. Doch die Erfüllung dieser Regeln allein garantiert den Glauben noch nicht. Aber ich kann meine Freiheit dafür nutzen, mich auf diesen Glauben einzulassen. Und es mit ihm zu versuchen.

Von Freiheit ist heute inflationär die Rede, denke ich. Aber viel zu wenig von der Freiheit eines Christenmenschen. Die Schwierigkeit liegt hier nicht bei der mangelnden Einsicht, was diese Freiheit wirklich meint. Damals nicht, als die Galater sich auf diesen Weg des Paulus einlassen. Auch heute nicht, wo Freiheit zum Schlüsselbegriff einer ganzen Denk-Tradition geworden ist.

Die Schwierigkeit liegt in dem Versuch, dieser Einsicht Konsequenzen folgen zu lassen. Nicht selten macht uns diese Freiheit Angst. Und wir bleiben auf halbem Weg stehen. Wir kennen die Rahmenbedingungen der Freiheit. Wir sehnen uns nach ihr. Und wählen dann doch die Unfreiheit. Wir entkommen durch’s Rote Meer in die Freiheit. Und wünschen uns an die Fleischtöpfe Ägyptens zurück.

In einer dunkeln Spiegelwand leuchten die Versäumnisse der Freiheit auf. Ich schaue genauer hin:

• Wir wissen: Mehr Waffen bedeuten mehr Krieg, lese ich. Aber wir verkaufen dann doch mehr Waffer als die meisten Länder dieser Erde.

• Wir wissen: Fossile Brennstoffe schaden unserer Umwelt, lese ich. Aber am Ende halten wir an Öl und Kohle fest.

• Wir wissen: Unsere Art zu leben macht uns krank, lese ich. Aber am Ende machen wir weiter wie bisher.

„Die Freiheit geht immer auf’s Ganze“, raunt mir die Museumsmitarbeiterin ins Ohr. „Oder es ist keine Freiheit!“ Und sie fährt dann fort: „Ein bisschen Freiheit, das geht nicht. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Das ist die Freiheit, die aufs Ganze geht. Auf dem Weg in diese Freiheit müssen wir uns den Rückweg am besten gleich selber abschneiden. Freiheit geht nicht einfach halb. Oder ein bisschen. Wenn es denn wirklich die Freiheit ist, dann muss ich sie wagen und riskieren. Dann muss ich mich entscheiden, ob ich auf diese Freiheit setze. Und den Möglichkeiten der Liebe vertraue. Ein bisschen Liebe – das geht bestenfalls im Schlager. Im Leben funktioniert das nicht.“

Die Museumsmitarbeiterin verabschiedet sich. Nicht ohne mir den Rat zu geben, noch einmal bei Luthers Freiheit eines Christenmenschen vorbeizuschauen.

„Niemand“, so sagt sie zum Schluss“ – „niemand hat das Verhältnis von Freiheit und Liebe besser und schöner zusammengefasst als Martin Luther. Seine beiden Sätze aus der Freiheit eines Christenmenschenschweben immer noch ineinander übergehend frei durch den Raum: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Luther, das weiß ich, hat seine Theologie in der Auseinandersetzung mit Paulus entwickelt. Wenn auch mit einem anderen Ziel als Paulus. Paulus ist es um bestimmte Regeln für andere Menschen gegangen. Regeln, die den Rahmen des Glaubens an Gott eben auch für andere öffnen wollten. Luther ist es um Regeln für sich selber gegangen. Um Regeln, die ihm selber für den aufrechten Gang vor Gott möglich gemacht haben. „Wie kriege ich einen gnädigen Gott“ – kein Wunder, dass er ein ums andere Mal so gefragt hat.

„Zur Freiheit hat euch Christus befreit!“ Paulus hat seine nichtjüdischen Mitmenschen im Blick. Um von der Freiheit zu kosten, die Paulus meint, sind sie zu einer neuen Grundeinsicht herausgefordert. Und zu einer Grundentscheidung. Die Grundentscheidung, sich im Streben nach Freiheit von der Liebe zu den Mitmenschen leiten zu lassen. Ehrlich gesagt, so viel anders ist das heute auch nicht. Die Freiheit will immer noch riskiert und gewagt werden Gerade auch die Freiheit eines Christenmenschen. Für mich selber. Und für alle anderen auch.

Ich gebe zu: Der Gang durchs „Museum der unverzichtbaren Wörter“ hat mich angestrengt. Vor allem mein Aufenthalt bei den Säulen der Freiheit. Die drei Räume zu Glaube, Liebe und Hoffnung, die in Form eines Dreiecks angelegt sind, nehme ich mir ein ander’ Mal vor.

Immer noch höre ich das Singen. Je mehr ich zurückgehe, desto lauter wird es. Der Gang in dieses Museum tut mir immer gut. Vor allem auch die Musik. Beim gesungenen Gotteslob halte ich ein. „Das kenne ich doch“, denke ich plötzlich. „Da kann ich sogar mitsingen!“ „Es ist das Heil uns kommen her.“ Erst singt noch der Chor. Dann stimme ich selber ein. Wie gut, denke ich, lebt sich’s doch in der Freiheit eines Christenmenschen. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.