PREDIGT ÜBER MARKUS 1,40-45
GOTTESDIENST AUS ANLASS DES 225JÄHRIGEN BESTEHENS DER EVANGELISCHEN KIRCHE
IN RHEINAU-MEMPRECHTSHOFEN
AM SONNTAG, DEN 17. SEPTEMBER 2017
(14. SONNTAG NACH TRINITATIS)

17.09.2017
Liebe Gemeinde!

Am Anfang dieser Predigt soll natürlich ein Glückwunsch stehen – ein Glückwunsch zum 225. Geburtstag ihrer Kirche. Und natürlich auch ein Glückwunsch zum 40. Geburtstag des Posaunenchores.

Ich freue mich sehr, dass ich heute in diesem Fest-Gottesdienst als Prediger mitwirken und diesen Gottesdienst mitgestalten kann. Im Hintergrund meiner Einladung steht sicher die Erinnerung daran, dass ich auch einmal für ein Jahr für Ihre Gemeinde zuständig war. Ab Sommer 1990 bis zum Sommer 1991 war ich in Freistett und hier im Rahmen der Vorbereitung auf den Pfarrdienst als Pfarrvikar eingesetzt. Verwalter der Pfarrstelle war Pfarrer Saecker, heute längst im Ruhestand. Ich habe hier immer wieder Gottesdienst gefeiert, getauft und einmal auch konfirmiert. 27 Jahre ist das also her, ich weiß nicht, wer sich daran überhaupt noch erinnern kann. Nun bin ich also wieder einmal da und freue mich, dass ihre Pfarrerin, Frau Covolo, mich eingeladen hat.

225 Jahre steht hier also dieses evangelische Kirchlein hier in Memprechtshofen. Unübersehbar, aber doch unaufdringlich eingereiht in die Häuserfront, selbstbewusst und bescheiden zugleich. Natürlich ist das Jubiläumsjahr 225 keines der ganz großen Jubiläen. In 25 Jahren wird das anders sein, wenn sie den 250. Geburtstag ihrer Kirche feiern wer weiß, vielleicht wird dann Pfarrerin Covolo als Festpredigerin eingeladen. Aber auf der anderen Seite ist es wichtig, dass sie diese Jahreszahl 225 zum Anlass nehmen, sich ihrer Kirche und ihrer Geschichte zu vergewissern. Und sich als Gemeinde von diesem Jubiläum stärken zu lassen.

Wozu ist die Kirche gut, liebe Gemeinde? Wozu ist ihre Kirche gut? Wozu war sie gut und wird sie auch in Zukunft gut sein? Es ist kein Zufall, dass Kirche immer eine doppelte Bedeutung hat. Kirche, das ist zum einen das Kirchengebäude vor Ort. Wenn ich sage, ich gehe in die Kirche, meine ich den Ort, an dem wir am Sonntag Gottesdienst feiern.

Wenn ich sage, ich gehöre zur Kirche oder ich bin Mitglied in der Kirche, dann ist mit Kirche noch einmal etwas anderes gemeint. Dann geht es nicht mehr um einen konkreten Ort, ein konkretes Gebäude, dann geht es um die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden bzw. der Getauften, ganz egal ob sich dies ganz konkret auf die evangelische Landeskirche in Baden oder auf die weltweite Kirche Jesu Christi bezieht.

Beide Bedeutungen für Kirche hängen aufs engste miteinander zusammen. Einen Geburtstag, den 225. Geburtstag, feiert dieses Kirchengebäude. Aber wenn wir dies feiern, dann feiert zugleich die große Kirche mit: als Kirchenbezirk, als Landeskirche, ja eigentlich die ganze weltweite Ökumene. „Wenn sich ein Glied am Leib Christi freut, dann freut sich der ganze Leib. Dann freuen sich alle mit.“ So schreibt der Apostel Paulus einmal an die Gemeinde in Korinth.

Wenn wir heute also über ihre Kirche hier vor Ort nachdenken, denken wir über die Kirche überhaupt nach. Was also ist sie, diese Kirche hier in Memprechtshofen? Warum wurde sie 1792 überhaupt gebaut? Was ist die besondere Bedeutung eines Kirchengebäudes?

Bei der Beantwortung dieser Frage kann der heutige Predigttext hilfreich sein. Es ist der vorgeschlagene Text für diesen 14. Sonntag nach Trinitatis. Nicht ausgewählt für ein Kirchenjubiläum, aber heute vielfach gepredigt. Insofern nimmt er uns hinein in eine große Bewegung, die durch die ganze Kirche hindurchläuft.

Der Predigttext steht beim Evangelisten Markus im 1. Kapitel in den Versen 40 bis 45:

Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen. Und es jammerte ihn, und er streckte seine Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich wills tun. Sei rein! Und alsbald wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein.
Und Jesus bedrohte ihn und trieb ihn alsbald von sich und sprach zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.
Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekannt zu machen, sodass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; und sie kamen zu ihm von allen Enden.


„Sie kamen zu ihm von allen Enden!“ Allein schon der letzte Satz verschafft uns eine Brücke zu dem heutigen Fest. Auch heute sind Menschen von allen Enden gekommen. Sie sind gekommen, weil sie alle eine Beziehung zu dieser Kirche haben. Weil sie für sie ein besonderer Ort ist – selbst dann, wenn sie sie gar nicht regelmäßig aufsuchen. Es ist wichtig, dass es diesen Ort gibt. Dass es ihn gibt, wenn ich ihn brauche. Wenn ich ihn brauche, um an irgendeinem Punkt wieder Richtung und Struktur in mein Leben zu bekommen.

So ähnlich verhält es sich mit diesem Kranken, von dem wir eben gehört haben. Eine Heilungsgeschichte ist das, keine Gebäudegeschichte. Auch keine Geschichte, aufgeschrieben für ein Kirchenjubiläum. Und doch ist diese Geschichte mehr als einfach nur eine Heilungsgeschichte. Sie ist eine Heilungsgeschichte der besonderen Art. Dass ein kranker Mensch gesund werden will, das versteht sich von selbst. Wenn er sich an Jesus wendet, läge es doch auf der Hand, dass er das tut mit den Worten: „Ich will gesund werden! Mach mich bitte gesund!“ Das wäre die normale, angemessene Reaktion.

Was der Kranke sagt und tut – für mich ist das überraschend. Er wendet sich an Jesus mit den Worten: „Willst du, dann kannst du mich gesund machen!“ Er legt seine Heilung in die Verantwortlichkeit eines anderen, allerdings in die Hände eines anderen, dem er zutraut, die rechte Entscheidung zu treffen. Die Voraussetzung eines solchen Vorgehens ist ein abgrundtiefes Vertrauen. Das Vertrauen zahlt sich aus. Jesu lapidare Antwort: „Ich will’s! Sei jetzt gesund!“

Und jetzt kann die Heilungsgeschichte doch auch zu einem Geburtstagsgeschenk für den heutigen Tag werden, zu einer Geschichte, die uns hilft, den besonderen Auftrag einer Kirche zu verstehen. Eine Geschichte auch, die klären hilft, warum uns solche Kirchengebäude so wichtig sind.

Wozu also ist die Kirche gut? So habe ich eingangs gefragt. Der Predigttext bahnt uns sieben Wege zu einer Antwort.

(1) Zunächst: Die Kirche ist ein Ort der Entlastung. Ich muss mir nicht alles auf meine eigenen Schulter laden. Und auch nicht auf meine eigenen Schulter laden lassen. Ich kann auch abgeben. Muss auch abgeben. Gerade wenn’s um Ganze geht. So wie bei diesem Aussatz-Kranken. „Wenn du willst, Gott, dann hilf mir!“ Das ist etwas ganz anderes als ein: „Bitte schön, lieber Gott, ich versuche ja immer ein rechter Mensch zu sein. Jetzt habe ich aber auch Anspruch darauf, dass du mir hilfst!“ Das Entscheidende im Leben kann ich in andere Hände legen. In Gottes Hände. Darum ist es gut, dass es Orte gibt, wo das geschehen kann. Orte, an denen ich bete: „Dein Reich komme!“ Ihre Kirche ist solch ein Ort.

(2) Die Kirche ist auch ein Ort der Verwandlung. Für den vom Aussatz befallenen Menschen war klar, um was es ihm bei der Begegnung mit Jesus geht: Um Gesundheit! Er macht sich als kranker Mensch auf den Weg. Und kehrt als gesund Gemachter zurück. Neu geworden. Und verwandelt.

Das ist etwas ganz Entscheidendes, das Menschen sich erhoffen, wenn sie in eine Kirche gehen. Wenn sie in ihre Kirche gehen. Oder in einer, die wegen der Verwandlung zu ihrer Kirche geworden ist.

(3) Das Dritte: Die Kirche ist ein Ort der Begegnung. Der Begegnung mit Menschen. So wie heute Vormittag auch wieder. Aber auch der Begegnung mit Gott. Wenn sich der Kranke an Jesus wendet, fällt beides zusammen. Er hat von diesem Menschen gehört, der die Gabe hat, Kranke gesund zu machen. Und er stößt in diesem Menschen Jesus zugleich auf die Wirklichkeit Gottes selber. Nicht nur sein Körper wird rein. Sein ganzes Leben wird wieder heil.

Das ist die große Hoffnung, die Menschen an eine Kirche knüpfen – dass sie zu einem Ort werden kann, der ihr Leben wieder in einen größeren Zusammenhang stellen kann. Der sie Sinn entdecken lässt, gerade auch dann, wenn wir nur mit Bruchstücken gelebten Lebens vor Gott stehen. Und Gott uns schauen lässt, wie alles zusammengehört. Und wieder heil wird. Auch ihre Kirche ist ein solcher Ort.

(4) Dazu kommt ein Viertes. Die Kirche ist kein virtueller Ort. Die Kirche ist ein Ort der Berührung. Jesus rührte ihn an, heißt es in der Heilungsgeschichte. Berührung ist etwas Leibhaftiges. An Hände, die in der Kirche zum Segen aufgelegt werden, erinnert mich das. An Konfirmationen und Trauungen. An die Taufe mit dem Lebenselement Wasser und manchmal auch mit dem Kreuzzeichen, das auf die Stirn gezeichnet wird. An Brot, uns in die Hände gelegt. An Wein, der uns im Kelch zum Trinken gereicht wird. Wie nachher gleich wieder.

Vieles können wir heute tatsächlich virtuell tun. Fast eine Million Menschen schauen sich jeden Sonntagvormittag den Fernsehgottesdienst im ZDF an. Das ist eine ähnlich große Zahl wie die Zahl der Menschen, die in eine Kirche gehen. Und es ist gut, dass es dieses Angebot im Fernsehen überhaupt noch gibt.

Aber die Menschen links und rechts neben mir, ihr Lächeln, ihr zum Gruß entgegengestreckte Hand, Brot und Wein beim Abendmahl, können diese Gottesdienste nicht anbieten. Dazu braucht es Kirchen wie diese.

(5) Dazu kommt ein Fünftes. Die Kirche ist auch ein Ort der Bewegung. Auch wenn es in unseren Gottesdiensten meist nicht so aussieht. Wir sitzen da ja alle auf unserem Platz. Und viele haben einen vertrauten Platz, den sie immer wieder nutzen.

Jesus schickt den Geheilten, den ja schon sein Weg zu ihm in Bewegung gebracht hat, zu den Priestern. Er schickt ihn gewissermaßen in die Kirche. Nicht irgendwo soll er seine Freude loswerden, nicht irgendwo soll er seinen Dank abstatten – er soll das an dem Ort tun, an dem Gottes Gegenwart sich besonders gut feiern lässt. Im Gotteshaus. Dahin setzt Jesus ihn in Bewegung.

Und eine Begegnung fällt mir dazu ein, die ich gerad vor einem Monat gehabt habe. Als Kurpfarrer habe ich Gottesdienst auf der Insel Hiddensee gehalten. Ganz hinten, in der letzten Reihe war mir die ganze Zeit ein Mann aufgefallen. Er kennt sich nicht aus in der Liturgie, er kann kein einziges Lied mitsingen. Aber er ist hochkonzentriert dabei, den ganzen Gottesdienst über.

Beim Verabschieden an der Kirchentür spricht er mich dann an: „Sie haben sicher gemerkt, dass ich hier fremd bin“, sagt er. „Ich bin Atheist. Ich war bis heute noch nie in einem Gottesdienst. Aber heute früh habe ich erfahren, dass ich Großvater geworden bin. Ich bin so glücklich. Aber ich wusste nicht wohin mit meiner Freude. Und mit meinem Glück. Da habe ich gedacht, jetzt gehe ich halt mal in die Kirche. Sie haben meiner Freude Worte geliehen. Vielen Dank!“ Und damit verabschiedete er sich.

Die Kirche als Ort, an dem meiner Freude Worte geliehen werden. Die Kirche als Ort, zu dem hin ich mich in Bewegung setze und von dem her meine Bewegung dann weitergeht. Dazu ist eine Kirche da, habe ich gedacht. Darum sind solche Häuser Gottes unverzichtbar. Darum brauchen wir sie – mitten in unserer Welt. Darum brauchen sie ihre Kirche hier mitten in Memprechtshofen.

(6) Aber einen weiteren, sechsten Punkt möchte ich noch hinzufügen. Einen, der über den Predigttext hinaus geht: Die Kirche ist ein Rasthaus am Weg. Ein Haus der Unterbrechung unseres Alltags. Aber niemand lebt in einer Kirche. Zumindest nicht für immer. Unser aller Leben – es spielt sich außerhalb der Kirchenmauern ab.

Wir können uns in der Kirche stärken lassen. Wir können uns Mut und Kraft, wir können uns Gottes Segen zusprechen lassen. Aber gelebt wird an anderen Orten. In der Familie und am Arbeitsplatz. Gelebt wird am Krankenbett oder in der Einsamkeit der eigenen vier Wände. Hier vor Ort oder irgendwo in der weiten Welt. An Orten des Friedens und an Orten, voll von Gewalt und Krieg. Gelebt wird da, wo der Hurrican ganze Orte hinweggefegt hat. Gelebt wird im Norden Afrikas, wo Menschen auf ihre Schlepper warten, die sie am Ende in den Tod führen.

Überall da gibt es Menschen - Menschen voller Sehnsucht nach Leben. Sie kommen, wie es am Ende des Predigttextes heißt, „von allen Enden.“ Überall gibt es Menschen, die nach Gott fragen. Überall da gibt es Menschen, die auf ihren Gott vertrauen. Überall gibt es Menschen, die an Gott zweifeln und nach seiner Hilfe rufen. Überall gibt es auch Menschen, die mit Gott wenig anfangen können.

Überall gibt es aber auch Menschen, die hören und sich auf den Weg machen. Menschen, die ihrem Mitmenschen Schwester sind und Bruder. Menschen, die andere besänftigen und berühren. Es ist gut, dass wir unsere Kirchen haben. Es ist gut, dass sie diese wunderschöne Kirche haben. Kirchen sind Kraftorte. Kraftorte aber, die uns stärken für unser Leben außerhalb der Kirchenmauern. Für das Leben in seiner Vielfalt, das jeder und jede von uns hier lebt.

Kirchen sind Rasthäuser am Weg. Aber als wanderndes Gottesvolk ziehen wir weiter. Ziehen wir Gottes Spur der Menschenfreundlichkeit und Weltzugewandtheit weiter durch diese Welt. Sind wir Kirche im anderen, viel weiteren Sinn. Als Gemeinschaft der Getauften, der nach Gott Suchenden, der an Gott Glaubenden. Gestärkt und ermutigt in der Kirche aus Stein. Für das Leben draußen vor den Kirchenmauern. In der weltweiten Kirche Gottes.

In jedem Fürbittengebet im Gottesdienst nehmen wir die Welt darum vor Gott ins Gebet. Im Segen am Ende lassen wir uns für die Rückkehr in die Welt ermutigen und stärken.

(7) Sechs Wege der Bedeutsamkeit der Kirche haben wir in den Blick genommen. Nach sechs Tagen Arbeit hat Gott geruht. Auch uns bleibt jetzt nur noch der siebte Weg des Kirchseins. Der Weg, auf dem wir ruhen und feiern. Den Geburtstag dieser Kirche. Und auch den des Posaunenchores.

Feiern wollen wir - das Abendmahl jetzt gleich hier in der Kirche. Im Rasthaus Gottes. Und dann wird draußen weitergefeiert.

Wie gut, dass heute Sonntag ist! Wie gut, dass sie diese Kirche haben. Wie gut, dass es die Kirche gibt. Gottseidank! Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.