PREDIGT
ÜBER 1. KORINTHER 7,29-31
AM SONNTAG, DEN 14. OKTOBER 2018
(20. SONNTAG NACH TRINITATIS)
IM GOTTESDIENST ZUM ABSCHUSS DER 110. GENERALVERSAMMLUNG
DES EVANGELISCHEN BUNDES IN DER PETERSKIRCHE IN HEIDELBERG

14.10.2018
Liebe Gemeinde!

Mit diesem Gottesdienst kommt die 110. Generalversammlung des Evangelischen Bundes zu ihrem Abschluss. Noch einmal also weist uns das Thema dieser Tage die Richtung: "Das Wort vom Kreuz und Reform der Kirche." Und natürlich ist diese Tagung mit der Wahl des Tagungsortes Heidelberg noch einmal dem 26. April 1518 gewidmet - dem Tag von Luthers Heidelberger Disputation vor 500 Jahren.

Im Mittelpunkt der Predigt heute steht der für diesen 20. Sonntag nach Trinitatis vorgeschlagene Predigttext aus 1. Korinther 7. Paulus geht es dort um die Bedeutung der Ehe. Und um den - wie er meint - Vorzug, solche Bindungen erst gar nicht mehr einzugehen. "Ich wollte, alle Menschen wären so wie ich!" schreibt der Single Paulus. Weiter heißt es in den Versen 29-31:

Das sage ich aber, liebe (erg.) Schwestern und Brüder: Die Zeit ist kurz. Auch sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.

Liebe Gemeinde!

Manchmal wünsche ich mir, der Apostel Paulus lebte mitten unter uns. Er wäre sicherlich überrascht, welch große Bedeutung wir ihm bis heute zumessen. Ich bin mir sicher: Er würde weiter Brief um Brief schreiben. Womöglich würde er es auch als Blogger im Internet schon bald zu unübersehbarer Berühmtheit bringen. Er würde sich zu den Themen, die uns beschäftigen, mit einer Direktheit äußern, die wir aus ausgewogenen kirchlichen Erklärungen nicht gewohnt sind. Und er könnte mir Rede und Antwort stehen, wenn ich meine vielen Fragen über Gott und die Welt an ihn richte.

Manchmal wünschte ich mir, der Apostel Paulus lebte mitten unter uns. Und ich könnte ihn zu einem kleinen Spaziergang durch Heidelberg einladen. Und sicher nutzte diese Gelegenheit, einiger meiner Fragen an ihn loszuwerden. "Warum hat das Thema Ehe für dich eine so großes Gewicht? Warum hast du mit den Frauen so unübersehbar deine Probleme? Warum ist die Lebensgemeinschaft von zwei Menschen, die sich lieben, für dich fast ohne eigenen Wert? Die Ehe ist für dich doch nur eine Einrichtung, um Unzucht zu vermeiden, wie du schreibst."

Und wenn ich ihn frage, ob er sich neben der Ehe von Mann und Frau auch noch die Verbindung von Menschen mit gleichem Geschlecht vorstellen kann - ich befürchte, dann würde er ganz schnell endgültig jegliche Zurückhaltung verlieren.

Mir bliebe dann nur, mit Paulus gegen Paulus anzuargumentieren. "Sprich doch Institutionen nicht heilig", könnte ich sagen. "Du warst doch selber ein großer Neuerer. Hast deinen jüdischen Schwestern und Brüdern einiges zugemutet. Mehr noch: Hast die Möglichkeit, den Weg zu Gott zu finden, über den vertrauten Weg hinaus gehörig geweitet. Hast das Halten der Thora mit dem Glauben an den auferstandenen Christus in Beziehung gesetzt.

Betrachte deinen Glauben nicht als etwas Statisches. Und sortiere niemanden in Systeme ein, die Menschen dann nicht mehr verlasse können.

Die Rahmenbedingungen und Ordnungen dieser Welt vergehen, hast du doch selber geschrieben", würde ich weiter anfügen. "So will ich leben, als wenn es sie gar nicht gäbe. Leben möchte ich, als wäre ich auf der Durchreise. Als würde ich in allen Rollenzuschreibungen nur einen Zwischenstopp einlegen."

"Jeder Mensch soll leben, wie Gott ihn gemeint hat", würde Paulus antworten. "Genauso ist es", würde ich Paulus aufnehmen. "Und darum kann es auch sein, dass Gott mich ganz anders gemeint hat als diejenigen, die mich in eine bestimmte Schublade einordnen. Und viele leben heute so, dass sie sich festen, lebenslänglichen Rollenzuweisungen entziehen. Nicht wenige gibt es, die beziehen sich dabei auf dich, lieber Paulus. Zur Freiheit hat euch Christus befreit. Lasst euch doch diese Freiheit nicht wegnehmen. Mannsein oder Frausein, jüdisch oder griechisch, das spielt dann keine Rolle mehr. Hast du das nicht auch geschrieben?"

"Natürlich", antwortet Paulus. Und er zögert nur kurz, ehe er antwortet: "Gerade darum kannst du doch bleiben, was du bist. Und musst nicht alles Überkommene aus den Angeln heben. Selbst wenn du Sklave bist oder Sklavin - leben so, dass es keine Rolle mehr spielt. Als ob es nicht wäre. Dem Sklaven Onesimus habe ich damals auch diesen Rat gegeben."

"Und den Sklavenhaltern dann freie Hand gegeben - zumindest haben sie dich so verstanden." Ich widerspreche ihm heftig. "Nein, lieber Paulus. Gerade weil ich die äußeren Bindungen ihren begrenzten Rang einräume, bin ich frei. Auch in dem, wie ich mein Leben gestalte."

Beim Gang über den Universitätsplatz fällt Paulus die große Plakette im Boden auf. Er liest: Martin Luther - zu Gedenken an seinen Aufenthalt im Kloster der Augustiner und an seine Heidelberger Disputation. "Was bedeutet das?", fragt er nach. "Dieser Luther war ein großer Kenner deiner Briefe", erkläre ich ihm. "Er hat sie für sein eigenes Leben fruchtbar gemacht. Und hat mit der Rechtfertigungslehre die halbe damalige Welt aus den Angeln gehoben."

"Ich habe keine Rechtfertigungslehre verfasst. Den Begriff kenne ich gar nicht." Paulus schüttelt den Kopf. "Mir gings doch vor allem darum, wie auch die Menschen der Völkerwelt, also die, die nicht den jüdischen Glauben meiner Herkunft mit mir geteilt haben, den Glauben an Gott mit mir teilen können."

"Das weiß ich wohl!", sagt eine mir bisher unbekannte Stimme neben mir. "Aber deine Briefe haben mir geholfen, mein Lebensproblem zu lösen. Und meine großen theologische Frage dazu. Dafür bin ich dir unendlich dankbar." Es ist Martin Luther, der da plötzlich wie aus dem Nichts neben uns auftaucht.

"Und was war dein Problem?", fragt Paulus! "Ganz einfach", antwortet Bruder Martin. "Und doch zunächst unendlich schwierig für mich. Ich wollte sicher sein, dass ich Gott recht bin. Aber so sehr ich versucht habe, recht zu leben - ich wusste, dass es mir so nicht gelingt. Dann habe ich bei dir diesen wunderbaren Gedanken gefunden. Mach dich frei von diesem alten Denken. Lebe so, als ob es außer Kraft gesetzt wäre. Das Gesetz Gottes, die heilsamste Lehre des Lebens, kann den Menschen nicht zur Gerechtigkeit bringen; es ist ihm vielmehr ein Hindernis auf dem Wege dazu. Diesen Satz habe ich hier an dieser Stelle vorgetragen. Schon vor 500 Jahren. Es war der erste Satz meiner Thesen beim Generalkapitel damals.

Für mich hieß das: Mache von der Welt Gebrauch, als brauchtest du sie nicht. Gewinne deine Sicherheit anders. Vertrau darauf, dass dein Glaube an diesen Christus ausreicht. Ich hab das damals an dieser Stelle so in eine These gefasst: Nicht der ist es wert, ein Theologe genannt zu werden, der Gottes "unsichtbares" Wesen durch seine Werke erkennt und versteht. Vielmehr verdient der ein rechter Theologe genannt zu werden, der das, was von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, als in Leiden und Kreuz sichtbar gemacht begreift."

Paulus hat gut zugehört. Dann sagt er: "Da fühle ich mich schon eher verstanden. Aber trotzdem: Ob meine Werke, ob mein Gesetz, ob meine Ethik ausreichen, damit Gott Gefallen an mir findet, das hat mir keine schlaflosen Nächte bereitet. Dass ich zu Gott finde, das ist Geschenk." "Ja!", entgegnet Luther, "das ist Gnade, gratia, wie wir das damals lateinisch genannt haben. Gnade heißt dann, so leben, als ob die alten Normen und Bindungen nicht mehr in Geltung stehen. So leben, als ob es auf nichts anderes ankommt."

Wir haben gar nicht gemerkt, dass sich längst eine Gruppe neugieriger Menschen um uns gebildet hat. Bisher haben sie nur zugehört. Jetzt meldet sich dann doch einer zu Wort.

"Pures Theologengeschwätz!", sagt er. "Gnade, Gesetz, Kreuz, Rechtfertigung. Wer soll das denn noch verstehen! Um gelingendes Leben sollte es euch gehen. Um den Zuspruch des Rechtes, dass ich sein darf. Dass ich meine eigene Würde habe. Dass überhaupt alle Menschen ihre eigene Würde haben. Leben heißt doch nicht, allem was ist, den Rang von etwas Vorläufigem zuzuweisen. Von der Welt Gebrauch machen, als machte ich keinen Gebrauch von ihr, das nimmt allem seinen Wert."

Der Sprecher erntet Widerspruch aus der Menge der übrigen Menschen, die dem Gespräch zuhören. "Vielleicht gerade doch", sagt eine Frau. "Ich verstehe das so: Wenn ich etwas kaufe, als wollte ich es nicht besitzen, dann nimmt das die Zukunft vorweg. Ich träume davon, dass die Gier abnimmt, immer nur haben zu wollen."

Eine dritte Person aus der Menge der Zuhörenden mischt sich ins Gespräch ein. Sie wendet sich an Martin Luther. "Deine Sätze vorhin haben mir gut gefallen. Ich will einen hinzufügen: "Wir dürfen unser Engagement nicht auf die beschränken, die uns nahestehen. Wenn wir die in den Bick nehmen, die uns fremd sind, werden sie uns womöglich mit einem Mal auch nah." "Und liebenswert", fügt Luther hinzu. "Das klingt fast wie meine letzte These hier in Heidelberg: Die Liebe des Menschen entsteht nur an dem, was sie liebenswert findet. Die Liebe Gottes findet nicht vor, sondern schafft sich, was sie liebt.

"Da stimme ich zu." Paulus hat längere Zeit nur zugehört. "Ich denke, ich muss mit dem Befremdlichen so umgehen, als sei es ohne Bedeutung. So, als ob es nicht existierte. Die Schattenspiele dieser Welt vergehen. Was am Ende bleibt, ist die Welt, wie Gott sie gemeint hat."

"Nur sind wir leider noch lange nicht so weit." Wieder meldet sich ein Mensch aus der Reihe der Zuhörenden. "Was du Schattenspiel nennst, hat die Welt ganz schön im Griff. Kann ihr am Ende sogar den Garaus machen. Viel Zeit haben wir nicht, um das Ruder herumzureißen."

"Das habe ich doch auch geschrieben. Die Zeit ist kurz. Nur dass alle Generationen dieses Gefühl immer von Neuem beschleicht. In meiner Heiligen Schrift steht aber auch die Zusage Gottes. Damals, nach der großen Flut, sagt Gott doch: Ich will die Erde nicht mehr zerstören. Saat und Ernte, Frost und Hitze - sie sollen nicht aufhören. Mit diesem Satz habe ich damals ausgehalten, dass die Zeit drängt. Mit diesem Satz müsstet auch ihr in die Zukunft gehen können."

Mit einem Mal sind alle verschwunden. Paulus und Luther. Und die Passanten laufen vorbei, ohne diesen besonderen Ort wahrzunehmen. Ich stehe alleine vor der Gedenkplatte.

Da liegt sie, als gäbe es sie nicht. Es ist wichtig, dass sie da liegt. Seit 35 Jahren. Aber viel wichtiger ist es doch, dass ich die Thesen wahrnehme, auf die sie verweisen. Viel wichtiger ist es doch, dass ich den Glauben ins Leben ziehe, den sie beschreiben. Viel wichtiger ist doch, dass es Orte gibt, von denen aus dieser Glaube immer wieder neu seinen Ausgang nimmt.

Wo dieser Glaube Heimrecht findet, muss der Zweifel nicht außen vor bleiben.

Wo dieser Glaube einen Menschen trägt, werden Menschen ihres Wertes und ihrer Einzigartigkeit gewiss.

Wo dieser Glaube zu Sprache und Gestalt hindurchdringt, bleibt er auf Dauer nicht im Verborgenen.

Wo dieser Glaube mich ins Leben aufmachen lässt, und seis mit leeren Händen, da tritt Gott aus seiner Verborgenheit heraus.

Wo dieser Glaube gelebt wird, da ist Kirche. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.