Umkehr in die Zukunft! - Ist das denn die Möglichkeit?

20.11.2019

Liebe Gemeinde!

Immer wieder der Römerbrief! Das war schon ganz am Anfang so, als Paulus diesen Brief von seinem Schreiber Tertius in Korinth zu Papyrus bringen ließ, irgendwann in der Mitte der 50er Jahre des ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt. Eine theologische Programmschrift, zunächst nur für die Gemeinde in Rom gedacht. Aber von einer theologischen Brillanz und Strahlkraft, die ihre Wirkung auch auf andere nicht verfehlt.

Das letzte Kapitel mit der langen Liste der zu Grüßenden – es lässt darauf schließen, dass wir im Neuen Testament womöglich eine Abschrift des Briefes vor uns haben, die nicht nach Rom, sondern an die Gemeinde in Ephesus gerichtet war. Dass darin Junia genannt wird - jene Frau, die als erste den Aposteltitel trägt – das zeigt neben vielem anderen wie der Römerbrief theologisch fast alles aus den Angeln hebt.

Immer wieder der Römerbrief! Kurz nach Ostern 1515 beginnt Martin Luther in Wittenberg seine große Vorlesung zum Römerbrief. Ohne sie ist seine Reformation nicht zu denken! „Der Gerechte wird aus Glauben leben“. „Der Mensch wird gerecht ohne die Pflichten des Gesetzes zu erfüllen, nur durch den Glauben“ – diese Sätze finden sich im Brief des Paulus nach Rom. Luther ist ein anderer, als er mit seiner Vorlesung im Jahr darauf endet. Und der Oktober 1517 rückt in greifbare Nähe.

Immer wieder der Römerbrief! Gerade 100 Jahre ist es her, seit ein Pfarrer in einer Arbeitergemeinde im Aargau den Römerbrief auslegt. Ein Paukenschlag, der die damalige theologische Welt aus den Angeln hebt. Karl Barth betritt - im Widerspruch zu dem, was sich da abspielt vor seinen Augen - die große Bühne der Theologie. Ganz unbescheiden trägt sein Buch, 1918 in erster Auflage erschienen, den Titel „Der Römerbrief“! Es ist eine Abrechnung mit allem, was protestantische Theologie in ihrem liberalen Grundgefüge bis dahin ausgemacht hat. Bis heute arbeitet sich die Theologie an diesem Buch ab.

Immer wieder der Römerbrief, liebe Gemeinde hier in der Christuskirche! Heute, am Buß- und Bettag 2019 mit einem Predigttext, irgendwie herausgeschlagen aus dem theologischen Haupttraktat des Paulus wie ein Trümmerstück aus der Berliner Mauer vor 30 Jahren. Rhetorisch gewaltig, voller Kraft, und für den Buß- und Bettag wohl wie geschaffen. Sonst hätte dieses Textfragment nicht auch in der neuen Ordnung der Predigttexte am angestammten Ort verbleiben können.

Trotzdem - wenn wir nur dieses Trümmerstück hätten und nicht den ganzen Brief – dieser Buß- und Bettag meinte es nicht gut mit uns. Wir blieben selber als menschliche Trümmer zurück. Kaum Evangelium. Nur Gericht ohne Aussicht. Für alle. „Bei Gott gibt es kein Ansehen der Person! Darum kannst du dich auch nicht entschuldigen!“ Keine mildernden Umstände also! Was bleibt uns dann noch, liebe Gemeinde?

Paulus entwirft sein Menschenbild. Und das heißt konkret: „Alle sind sie schuldig geworden!“ Die einen verdanken’s der Stimme des Gewissens, die anderen der Kenntnis der Thora Gottes. Die einen wie die anderen hätten wissen können, was ihnen und der Welt zuträglich ist, sie hätten wissen können, ja sie wissen, was Vernunft und Menschlichkeit, was Gott von ihnen erwartet. Nur: Ihr Leben und der Zustand der Welt spiegeln das nicht wider. Das Urteil des Paulus kann kaum härter ausfallen!

Buß- und Bettag in der Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt – gut zwei Jahrzehnte nach Karfreitag und Ostern. Paulus schreibt da:

Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest. Wir wissen aber, dass Gottes Urteil zu Recht über die ergeht, die solches tun.

Denkst du aber, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst? Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?

Du aber, mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen, häufst dir selbst Zorn an für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der einem jeden geben wird nach seinen Werken: ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; Zorn und Grimm aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die das Böse tun, zuerst der Juden und auch der Griechen; Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die das Gute tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen. Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.

Umkehr in die Zukunft - ist das denn die Möglichkeit? Das ist das Thema dieses Buß- und Bettag-Gottesdienstes. Keine Möglichkeit oder zumindest kaum eine, so scheint‘s nach dieser harschen Rede des Paulus. Und wenn Karl Barth recht hat, der meint, dieser Römerbrief sei genauso für uns geschrieben wie für die Menschen damals, dann sinken unsere Zukunftsaktien in Bodenlose.

Und so ich wünschte mir, der große Bußtags-Theologe Paulus säße hier, mitten unter uns. Und ich könnte ihn fragen können, ob uns denn für ein Leben in Gerechtigkeit nichts anderes bliebe als der Gang durchs Nadelöhr des bestenfalls bei Gott Möglichen. Was ist deine Botschaft für diesen Buß- und Bettag 2019 hier bei uns. Lieber Paulus? Umkehr, Buße – wie werden sie für uns zur Möglichkeit. Hier in Mannheim? Ein Anfang, wirklich ganz neu? Tabula rasa in meinem Leben? Oder ein Anfang mitten im Alten? Was war wirklich neu an dir, als dir nach dem Sturz vor Damaskus die Augen neu geöffnet worden sind?

Und bevor er antworten könnte, würde ich mir das Leben des Paulus selber in Erinnerung rufen. Ein Leben auf der Spur von Saulus zu Paulus. Halt, leuchtet es da in mir auf. Das stimmt gar nicht, was da fast schon sprichwörtlich geworden ist. Zeitlebens bleibt er doch beides. Saulus, aus dem Stamm Benjamin, pharisäisch gebildeter Jude. Im Anklang an den ersten König trägt er den Namen Schaul. Saul. Hat ihn nie aufgegeben. Hat sich ein ums andere Mal auf seine jüdische Herkunft berufen. War nie etwas anders – wollte nie ein anderer sein als Jude.

Und doch war er zugleich immer auch Paulus, römischer Bürger aus Tarsus stammend, der keinen Moment zögert, sein Bürgerrecht zu seinen Gunsten in die Waagschale zu werfen, als er sein Leben in Gefahr sieht. Und der darum an den Kaiser appelliert. Das eine oder andere dranzugeben, nur noch Paulus sein zu wollen oder nur noch Saulus – das kann also nicht die Antwort sein, wenn ich Paulus nach dem frage, was Buße, was Umkehr meint.

Und ich bin sicher: Paulus würde darauf abheben auf die Möglichkeit, im Glauben ein anderer zu werden - und dabei doch der geblieben zu ein, der er immer gewesen ist. Paulus – und das lerne ich gerade aus seinem Römerbrief – Paulus ist der Globalisierer des Glaubens an den einen Gott. Die Thora, die göttliche Weisung, das ist für die einen in der Nachfolge ihres Stammvaters Abraham. Eine fast überfordernde Möglichkeit. Aber eine Möglichkeit – dennoch. Für die anderen, die aus den Völkern, wie er sagt, gibt’s noch einen anderen Weg. Die Orientierung an dem einen, durch den Gott aufscheinen lässt, wie er uns gemeint hat. Leben im Widerspruch. Leben in Solidarität. Leben, in dem ich an die Stelle des Menschen trete, der nicht tragen kann, was ihm zu tragen auferlegt ist. Leben an dem Ort, an dem Gott in dieser Welt seine Gegenwart aufleuchten lässt. Leben in der Nachfolge des einen, der Tod und Auferstehung für uns zur Möglichkeit macht.

„So zu leben, das meine ich, wenn ich von glauben rede“ – so höre ich Paulus. Das gibt es also wirklich: ein neues Leben, mitten im alten. Der zu sein, der ich bin, oder die zu sein, die ich bin – und dennoch und darin ein neuer und eine neue zu werden.

Und säße Martin Luther hier unter uns, ich würde auch ihn fragen: Buße, Umkehr? Was war das für dich? Bruch deines Mönchsgelübdes? Bruch mit deiner Kirche? Bruch mit allem, was dir vorher wichtig und heilig gewesen ist? War dein Weg der vom Priester zum Professor?

Und bevor er antworten könnte, leuchtete auch sein Leben vor mir auf. Die durchgehende Linie in seiner Theologie. Der mittelalterliche Theologe, der er immer geblieben ist. Der Seelsorger, der zeitlebens gepredigt und Beichte gehört hat. Und der für sich nie zur Disposition stellte, der einen Kirche Jesu Christi anzugehören.

„Es ist vieles anders gekommen“, höre ich Luther sagen. „Und was ihr heute an mir verherrlicht, stand nicht in meiner Absicht. Umzukehren aus der Kirche des nicht genug zu lobenden Augustinus, nie! Aber aus den Keimzellen der Macht derjenigen, die ihr eigenes Wort höher setzten als das, das in Gott seinen Ursprung hat, schon. Ein anderer bin ich schon geworden, ein Umkehrer irgendwie, aber doch auch der alte geblieben, Sohn meiner Eltern durch alle Entfremdung hindurch, Vater meiner Kinder, Mann meiner Käthe und treuer Untertan meines Kurfüsten, des weisen Friedrich. Einen stinkenden Madensack, ja du weißt, so habe ich mich genannt, als sich meine Anhänger selber als lutherisch bezeichnen wollten, nur um mir einen Gefallen zu tun.“

„Mehr ist von uns dann auch nicht verlangt an diesem Buß- und Bettag 2019“, frage ich zur Sicherheit nach. „Mehr nicht, als der alte Mensch zu bleiben auf neuen Wegen“, gibt er zurück. „Das ist schwer genug. Und ohne den Glauben des Paulus wird’s euch kaum gelingen.“

Das soll genügen. Und der Hinweis auf den Glauben des Paulus macht mir Mut, mich jetzt auch noch neben Karl Barth zu setzen, den ich ebenfalls mitten unter uns entdecke. „Du hast den Römerbrief für uns neu zum Sprechen bringen wollen“, setze ich ein. Und er fällt mir schon gleich ins Wort: „Neu. Nicht nötig. Mir ging‘s darum, dass ihr den alten recht versteht. Dass ihr Gott Gott sein lasst, und euch nicht selber an seine Stelle setzt. Dass ihr nicht meint, ihr könntet Gott mit euren Bußübungen für euch gewinnen, anstatt darauf zu warten, dass Gott euch verwandelt – mitten im Alten.“

Und während ich noch zuhöre, wird mir klar, dass Karl Barth nie etwas anderes hat sein wollen als ein Pfarrer, der Gottes Wort verkündigt. Der Basler Bürgersohn ist er geblieben - und hat dabei doch ein ums andere Mal die Kleider gewechselt. Vom Pfarrer einer Arbeitergemeinde zum Professor in Deutschland, dann, von den Nazis vertrieben, für lange Jahr in der Schweiz. Der alte geblieben ist er, und doch ein ums andere Mal in den Widerstand gegangen: gegen die Theologie seiner Lehrer, die am Ende den 1. Weltkrieg begrüßt haben; gegen eine Theologie, die sich aufzulösen schien in Kultur und Menschenfreundlichkeit, der er sein Nein entgegengeschleudert hat; mutig in seinem Widerstand gegen die Deutschen Christen, die ihrem Führer heilsgeschichtliche Bedeutung zugemessen haben; am Ende auch mutig im Einspruch gegen das Vertrauen in die neue  Widerbewaffnung.

Nein, er war kein Heiliger, auch nicht in seinem Privatleben, aber ein Theologe war er im Dauerwiderspruch, im Bußtags-Modus tagaus, tagein, einer, der fast allem entgegengetreten ist, was bisher gegolten hat, und der am Ende doch nie ein ganz anderer geworden ist.

Und wenn ich mich nun neben sie setze oder sie – und frage, was denn nun ihre Antwort ist auf die heutige Predigtfrage: Umkehr in die Zukunft - ist das denn die Möglichkeit? Ich würde mir ihr „Ja“ herbeisehnen. Und dieses „Ja“ finde ich auch bei Paulus, wenn ich seinen Römerbrief ganz lese – zumindest auch das Kapitel nach unserem Predigttext.

Buße, Umkehr in die Zukunft – ja das ist eine Möglichkeit. Es ist womöglich sogar die einzige Möglichkeit. Im Glauben daran, dass ich noch einmal ganz anders leben, dass ich neue Wege gehen kann – ohne meine Identität gänzlich dran geben zu müssen.

Es geht nicht um einen abhakbaren Katalog des einzig Richtigen und Wahren. Es geht um Glauben, den rechten Glauben, der meinen Sinn ändert und meine Haltung. Der mich das Rechte tun lässt. Und mich im Scheitern nicht verwirft. Oder Paulus im Originalton: „So bin ich ganz und gar der Meinung, dass ich recht leben kann vor Gott, nicht im Nachahmen des scheinbar einzig Guten und Korrekten, sondern im Vertrauen darauf, dass ich Gott recht bin – vor allem rechten Tun! Im Vertrauen auf Gott. Im Glauben“, fügt er noch hinzu.

So schreibt Paulus im dritten Kapitel des Römerbriefes. Und auf heute gewendet. Die einen nennen es Bekehrung. Die anderen Buße. Die dritten Umkehr in die Zukunft. Eine Sinnesänderung ist es allemal. Ein Weg, auf dem ich alle daran setze, neu anzufangen - ohne dranzugeben, der ich bin. Von Gott gewollt. Aber in erneuerter Perspektive.

Immer wieder der Römerbrief! Heute auch wieder. Damit ich, gestärkt am Tisch der Menschenfreundlichkeit Gottes, neugeworden davon gehe. Mitten im Alten. Aber unterwegs zum Ziel einer Welt, wie Gott sie gemeint hat. Wie gut, dass das möglich ist. Alles Gut! Ja, eigentlich ist „alles gut“! Das lasst uns jetzt feiern. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.