Predigt im Gemeindehaus in Neuendorf und in der Inselkirche in Kloster auf der Insel Hiddensee

16.08.2020

Liebe Gemeinde!

Die Nacht vom vergangenen Mittwoch auf den Donnerstag – das war die Nacht der Nächte. Wie jedes Jahr in dieser Nacht und in den Nächten davor und danach sind unzählige Sternschnuppen zu sehen. Eigentlich ist es nur die Staubspur eines Kometen, von dem nichts anderes mehr übriggeblieben ist. Aber das Licht der Sonne verleiht diesen toten Gesteinsbrocken einen himmlischen Glanz. Und es ist geheimnisvoll und anmutig zugleich, die Leichtspuren der Perseiden am Himmel zu beobachten – zumal hier auf der Insel, wo nicht so viele Lichter wie zu Hause dieses Ereignis unsichtbar machen.

Das Zerstäuben eines Kometen, das dessen Endlichkeit zum Ausdruck bringt – das ist auch der Grund dafür, dass in der Tradition immer wieder auch von Laurentiustränen gesprochen wird – nicht zuletzt deshalb, weil am 10. August der Tag des altkirchlichen Märtyrers Laurentius gefeiert wird.

Kometen, die in einzelne Meteoriten auseinanderfallen – sie erinnern daran: Das ganze Weltall unterliegt letztendlich denselben Gesetzmäßigkeiten. Am Anfang der Big Bang, der Urknall, eine unvorstellbare Energie, die sich Bahn bricht in einem sich anschließenden Prozess der Ausdehnung. Der Unterscheidung. Der Herausbildung dessen, was wir als Universum bezeichnen. Galaxien. Milchstraßensysteme. Planeten, die Sonnen umkreisen. Und in einem verschwindenden Zeitraum dieses Prozesses wird die Erde bewohnt. Vor uns längst schon. Mit uns. Und hoffentlich auch noch nach uns. Bebaut. Bewahrt. Oder auch immer wieder neu dem Risiko ausgesetzt, zerstört zu werden.

Der Big Bang, der Urknall als Beginn einer Neuorganisation. Ein schönes Bild auch für ganz andere Prozesse. Etwa auch für die Bildung dessen, was heute den Kosmos christlicher Religion, christlicher Religiosität ausmacht auf diesem Planeten. Und eine der großen Energiequellen dieses Prozesses – das ist Paulus. Der große Theologe am Anfang dieses Weges, der seine Orientierung findet und der sich speist aus dem Reden und Handeln, vor allem auch aus dem Sterben und Leben dieses Jesus aus Nazareth.

Eines der großen Urdokumente – die Himmelskarte dieses neu sich bildenden Kosmos des rechten Verstehens von Gott – das ist sein Brief an die Gemeinde in Rom. Wenn ich verstehen will, wie sich aus diesem Big Bang des Paulus eine neue Himmelskarte herausbildet – oder wie die bis dahin bestehende neu gezeichnet werden muss, dann komme ich um den Römerbrief nicht herum.

(Melodie: Gott des Himmels und der Erden)

Auf dem Weg in neue Zeiten
und der Tage Besserung
möge Gottes Geist uns leiten,
uns bezaubern neuer Schwung.
Aufrecht geh ich durch die Zeit -
Glauben meint: Ich bin bereit!

Immer wieder der Römerbrief! Er steht im Zentrum der Bahnen theologischen Nachdenkens. Das war schon ganz am Anfang so, als Paulus diesen Brief von seinem Schreiber Tertius in Korinth zu Papyrus bringen lässt, irgendwann in der Mitte der 50er Jahre des ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt. Eine theologische Programmschrift, ein theologisches Himmelsprogramm gewissermaßen - zunächst nur für die Gemeinde in Rom gedacht. Aber von einer theologischen Brillanz und Strahlkraft, die ihre Wirkung auch auf andere nicht verfehlt – bis heute Abend / bis heute Vormittag, in diesem Gottesdienst. Und wenn wir nicht darum herumkommen, diesem Paulus das ein oder andere Mal auch mit heftigem Widerspruch entgegenzutreten.

Eine Galaxie, zumindest aber ein Sonnensystem mit Planeten und Monden, mit Kometen und Meteoriten, die das eine Mal zerstören, was bisher in Geltung steht. Und die das andere Mal einen Glanz entfalten wie die Perseiden in der vergangenen Woche.

Einer der großen Ein leuchtender Komet mit Schweif findet sich ganz am Ende des Briefes. Dort, wo Paulus von Junia spricht und sie als erste Apostelin bezeichnet. Auch wenn ihm das selber womöglich gar nicht gefällt – schließlich schreibt er an einer anderen Stelle, dass die Frauen in den Gottesdiensten zu schweigen hätten – hier aber unterschlägt Paulus diese Botin des Gottesglaubens nicht.

Und es wäre mehr als nur zu wünschen gewesen, wenn in den Kirchen mit dem Namen dieser Junia ein ganz anderes Programm verbunden gewesen wäre – eines, das von Anfang an den Segen zu schätzen gewusst hätte, der in einem angemessenen und ausgewogenen, einem rechten und gerechten Verhältnis von Frauen und Männern liegt. Was für ein Schaden, dass eine Männerkirche viel zu lange vor dieser Leuchtspur die Augen verschlossen hatte.

Drei Planeten des theologischen Sonnensystems dieses Paulus will ich kurz skizzieren. Um den Menschen geht es Paulus. Immer wieder. Und um dessen Stellung vor Gott. Juden und Griechen hat Paulus im Blick, wie er das in seiner Sprache nennt. Menschen, die in traditioneller Weise religiös sind. Und Menschen, die sich für neue Weisen der Sinndeutung und Welterklärung öffnen.

Beide Lebensentwürfe, so ist Paulus überzeugt, können an sich nur scheitern. Die Liste der Normen gelingenden Menschseins müssen zur Überforderung werden – wenn wir nicht gerade auch aus dem, das unsere Möglichkeiten übersteigt, unsere Kraft, unsere Energie gewinnen. Und dies tun im Vertrauen auf diesen Jesus aus Nazareth. Auf den, der diesem ganz großen Scheitern, dem Tod, erfolgreich Widerstand geleistet hat.

Und so kommt Paulus dann zu diesem Satz, der später auch als einer der Kernsätze der Reformation Karriere machen wird: „So sind wir überzeugt, dass der Mensch gerecht wird nicht durch die Werke des Gesetzes, sondern durch das Vertrauen auf diesen Jesus, in dem wir Gottes Gegenwart spüren können.“

Gerade hier gilt also: Immer wieder der Römerbrief! Gerade für Martin Luther steht er im Zentrum der Bahnen seines theologischen Nachdenkens. Kurz nach Ostern 1515 beginnt Luther in Wittenberg seine große Vorlesung zum Römerbrief. Ohne diese Vorlesung ist seine Reformation nicht zu denken! „Der Gerechte wird aus Glauben leben“. „Der Mensch wird gerecht ohne die Pflichten des Gesetzes zu erfüllen, nur durch den Glauben“ – diese Sätze finden sich in eben diesem Brief des Paulus nach Rom. Luther ist ein anderer, als er mit seiner Vorlesung im Jahr darauf endet. Und der Oktober 1517 rückt schon in greifbare Nähe.

Auch da hält der Römerbrief den Kosmos der Theologie am Laufen. Trotzdem: Vorsicht, lieber Paulus, möchte ich seinem Schreiber zurufen. Recht hast du zwar. Aber du solltest die Wirkung ethischer Normen damit nicht diskreditieren wollen. Rechte Ethik ist heute längst eine Überlebensbedingung der Menschheit. Auch wenn sie nicht immer dafür sorgt, dass meine Seele wirklich zur Ruhe kommt. Und ich zu meiner Bestimmung und zu meinem Platz vor Gott finde.

Lass mich unter deinem Segen
meine Schritte fröhlich gehn.
Und auf allen Lebenswegen
mutig in die Zukunft sehn.
Bau ich auch auf Hoffnung nur -
Glauben meint: Bleib in der Spur!

Der zweite Planet des Paulus ruckelt noch viel deutlicher und gewaltiger auf seiner Bahn. Es geht um das Verhältnis zum Staat. „Bleibt der Obrigkeit untertan!“, schreibt Paulus. „Sie ist allemal von Gott eingesetzt!“ Ehrlich gesagt, das bin ich gehörig anderer Meinung. Die Vorstellung des Gottkönigtums hat glücklicherweise ausgedient – gottseidank! Zuviel Schindluder wurde mit einem Anspruch getrieben, der Gott in die Schuhe schiebt, was am Ende nur dem eigenen Machterhalt zu dienen hat. Bis in die Gegenwart ist das so. Gott sei’s geklagt.

Heute müssen wir mehr denn je dafür sorgen, ja dafür kämpfen, dass „alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht“ – um Artikel 20 des Grundgesetzes zu zitieren. Nicht ohne dass wir uns je und je im eigenen Handeln und Entscheiden von Gott getragen wissen. Aber auch nicht ohne den Möglichkeiten der eigenen Vernunft zu vertrauen und dabei die Freiheit zu eigenen Verantwortung zu nutzen.

Vorsicht, lieber Paulus, möchte ich ihm also zurufen. Du hast recht, wenn du uns zum Respekt gegenüber denen aufforderst, die politische Verantwortung tragen. Und ich will dir gar nicht widersprechen, dass auch das Zahlen von Steuern, wofür du dich aussprichst, einen Ausgleich zwischen arm und reich ermöglicht. Aber um des Gemeinwesens willen. Und nicht, um gottlosem Machtgebaren irgendeine Art von Segen zu erteilen.

Gegen alle Gier der Mächte
stärken Schwestern, Brüder mich.
Endlos sind sie nicht, die Nächte,
Widerstand verbindet sich.
Böses muss nicht ewig sein -
Glauben meint: Sag mutig nein!

Bleibt der dritte Planet. Der, um den es heute ganz besonders gegen soll: die rechte Beziehung zwischen Menschen jüdischen Glaubens und denen, die ihren Lebensgrund im Glauben an diesen Jesus von Nazareth finden – in dem, was er gelehrt und in dem, was er gelebt hat.

Bei diesem Thema ist Paulus bei seinem Lebensthema. Drei Kapitel seines Briefes widmet er ganz explizit dieser Thematik. Paulus, der nie in einem anderen Kosmos seine Bahn ziehen wollte als in dem seines jüdischen Glaubens – er wird zum Türöffner und Globalisierer dessen, wovon die Mehrzahl der Menschen damals fürs Erste ausgeschlossen bleiben musste. Paulus vermittelt eine Ahnung davon, wie groß dieses Universum wirklich ist. Und er sieht in diesem Jesus aus Nazareth - schmählich gekreuzigt und von Neuem lebendig, wider alle Erwartung und Erfahrung – er sieht in ihm den Schlüssel, den Glauben an diesen Gott in die ganze Welt hinauszutragen. Zumindest in die Provinzen des ganzen römischen Reiches.

Dass ihm viele seiner eigenen Glaubensgenossen darin nicht folgen – es macht ihn an seinen eigenen Überzeugungen nicht irre. Aber es schmerzt seine Seele so sehr, dass er um eine Erklärung ringt. Und dass er zuletzt einer Logik folgt, die es wahrhaftig in sich hat. Paulus schreibt – und diesen Abschnitt hören wir jetzt in der einem Predigttext zustehenden Ausführlichkeit:

Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«

Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen.

Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Mehr als einmal habe ich mir schon gewünscht, dieser Apostel Paulus, dieser Veranlasser des Urknalls christlicher Theologie, lebte mitten unter uns. Genug hätte ich, wofür ich ihm meinen Dank abzustatten hätte. Genug zu fragen hätte ich auch allemal. Aber immer wieder auch genug an Widerspruch, wo ich mich von ihm herausgefordert fühle.

Zustimmen möchte ich ihm, wo ich bei ihm lese, dass es die Wurzel ist, die die Bäume trägt. So, wie er das Verhältnis der Menschen jüdischen Glaubens und derjenigen, die aus einer anderen Tradition kommen, beschreibt. Aufgepfropfte Zweige seien wir an diesem Baum des Gottesglaubens – was für ein sprechendes Bild! würde ich zu ihm sagen.

Aber dass die große Zahl der Menschen jüdischen Glaubens verstockt sei, um die anderen zum Glauben zu reizen, wie wir es eben aus seinem Brief gehört haben, – da möchte, da kann ich Paulus nicht folgen. Vorsicht, lieber Paulus, möchte ich ihm da zurufen, es ist doch ihr Recht, einen anderen Weg zu Gott zu finden als den, den du, den ich mit dir in diesem Jesus aus Nazareth finde. Und ehrlich gesagt, wäre Paulus heute wirklich hier: Ich bin sicher: Er würde es genau so sehen. Würde die Gefahr erkennen, hier missverstanden zu werden. Ich bin ganz sicher, er würde ein anderes Bild wählen. Würde von der Würde und der Freiheit der eigenen Glaubensentscheidung sprechen.

Und ich bin mir gänzlich sicher, er würde allen kraftvoll und mit Mut und Wut entgegentreten, deren Ideen neuem Antisemitismus die Bahn bereiten. Das ganze Universum christlichen Denkens, alle Versuche, Menschen mit der Idee des Glaubens an diesen Gott seit allem Anfang zu infizieren – es würde alle Planeten aus ihrer Bahn werfen, es würde alles in sich zusammenfallen lassen, wenn wir die Verwurzelung der Kräfte dieses Kosmos in der großen Kraft dieses Gottes Israels und des ganzen Kosmos vergäßen – im Handeln jenes Gottes, der die Unterdrückten aus der Sklaverei befreit und den nach Babylon Verschleppten eine neue Perspektive bietet und eine neue Zukunft ermöglicht.

Neues müssen wir erproben.
Alte Wahrheit ist oft blind.
Grenzen werden weggeschoben,
die dem Morgen feindlich sind.
Vor dem Irrtum scheu dich nicht!
Glauben meint: Du findest Licht!

Und wer weiß, dieser Paulus würde uns die Augen dafür öffnen, wo heute neu Türen aus den Angeln zu heben sind. Und wo der Gottesglaube sich in anderer Weise von Neuem Grenzen überschreitend Raum schafft. Uns womöglich überraschend, aber deswegen nicht weniger wirksam.

Vorsicht! würde Paulus jetzt womöglich mir zurufen, die Grenzen deiner Wahrnehmung und die Beschränktheit deines Denkens und Glaubens – für Gott ist es ein Leichtes, sie zu überwinden. In anderer Weise, religiös zu sein. Und in anderer Weise, sein Leben zu gründen – da gewährt Gott uns allen dazu erst einmal die Freiheit. Alle Scheiterhaufen der Welt – sie haben ihren Ausgangspunkt beim Menschen. Und eben nicht bei Gott.

Schweigen müsste ich da. Und neu denken. Und Ausschau halten, welche Leuchtspuren dieser Gott von Neuem aufleuchten lässt, um seine Schönheit zu entdecken. Und seine Strahlen aufscheinen zu lassen. In diesem Kosmos des Paulus, in dieser Welt von Gott geschaffen, möchte ich leben. Nicht nur heute. Amen.

Zauber liegt auf unserem Leben,
Himmlisch‘ Glänzen, das uns bleibt.
Lebst von dem, was Gott gegeben,
Hoffnung neue Lieder schreibt:
Nichts muss bleiben wie gewohnt -
Glauben meint: Das Leben lohnt!

 

 

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.