Spiritueller Impuls zur Eröffnung des digitalen 7. Gesundheitskongresses ErholungsKUNST

29.09.2020

Guten Morgen, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses 7. Gesundheitskongresses!

Allein schon der Titel hat mich aufhorchen lassen. ErholungsKUNST. Dem Stichwort der Erholung möchte ich nachspüren – in sieben kleinen Oasen kurz innehalten und jeweils einen nötigen KUNSTgriff entdecken – pro Oase nicht länger als je eine Minute. Bei sieben Minuten bleiben von den mir zugestandenen zehn Minuten dann immerhin noch drei übrig – natürlich zu Ihrer Erholung.

Oase 1: der Begriff
Erholung – ein altertümelndes Wort in Zeiten von Life-Work-Balance und Salutogenese. Holen bedeutet im Mittelhochdeutschen soviel wie herbeirufen und zuführen. Mit der Vorsilbe „er“ wird das Wort gewissermaßen intensiviert. Da soll etwas herbeigeholt werden, was wir irgendwie verloren haben.

Den nötigen Abstand. Die Kunst des Loslassens. Die Zeit für mich. Und die für andere. Die Entdeckung des Selbst.

Vielleicht – und das ist der erste KUNSTgriff – vielleicht geht es auch darum, dass ich mir den Blick über das Vorfindliche hinaus zurückhole. Das Wissen, dass das, was mir guttut, nicht nur im Weniger des Vertrauten liegt, sondern im Mehr – mit „h“ geschrieben – im Mehr des anderen. Dessen, was mich meine Wurzeln jenseits der vertrauten Grenzen schlagen und mich so meine Kräfte neu gewinnen lässt,

Oase 2: Die Erinnerung
Als Kind wurde ich im Sommer immer "in Erholung" geschickt. Mit der Inneren Mission, wie die Diakonie damals noch in Wichern’scher Tradition geheißen hat. Ich erinnere mich an Erholungsaufenthalte in Menzenschwand, in Isny, in Dagebüll. Vierwöchige Sommeraufenthalte, bei denen man am Anfang und am Ende gewogen wurde. Die erfolgreiche Erholung kam vor allem in der Differenz dieser beiden Zahlen zum Ausdruck.

Die pädagogischen Prinzipien dieser Maßnahmen hielten unseren aktuellen Standards in fast keiner Hinsicht mehr Stand. Aus heutiger Sicht habe ich diese Erholung aufs Ganze betrachtet dennoch einigermaßen unbeschadet überstanden.

Aber dennoch: Erholung hat etwas mit einem Zugewinn zu tun – Zugewinn nicht an Gewicht, sondern an Einsicht, wie es anders gehen könnte. Der Fürsorge gerade auch für meine Seele, wenn sie denn einfach einmal baumeln und zur Ruhe kommen kann. Erholung verstanden am Ende auch als Zugewinn an Lebensqualität – das ist der zweite KUNSTgriff, auf den es meiner Ansicht nach ankommt.

Oase 3 – der Blick in die Geistesgeschichte
Seit der Philosophie der Antike dreht sich im Grunde fast alles um die Lebenskunst, die ars vivendi. Alles Nachdenken über das, was die „Welt im Innersten zusammenhält“ soll doch dem zu Gute kommen, was mich zufriedener und glücklicher Leben uns dann auch sterben lässt.

Denn im Mittelalter, als der Schwarze Tod, die Pest, Hunger und Kriege ohne Ende die Menschen bedrohten, fing man an, in die Kunst des rechten Lebens auch die des rechten Sterbens zu integrieren, die sogenannte ars moriendi.

Leben heißt mehr als nur seine Tage zu verbringen, heißt mehr als sein Leben zu fristen. Und die wesentlichen Stationen meines Lebens sollen die Weichen in Richtung meines Lebensglückes stellen. Am Anfang, am Ende – und eben auch in der weiten Spanne dazwischen. Die Erholung ist darum die große Kunst dazwischen. Und es ist mein KUNSTgriff-Angebot Nummer 3 Erholung als etwas zu verstehen, das mir nicht einfach in den Schoß fällt, sondern das einer eigenen „KUNSTfertigkeit bedarf. Einer Übung, einer Praxis, die ich lernen und die ich dann auch pflegen muss.

Oase 4: ein Engel schadet nie
Heute ist ja der 29. September. Die Engelskundigen unter Ihnen wissen: Dieser Tag ist der Tag des Erzengels Michael. Michael ist ein Engel der Fürsorge. Er will mich vor Bösem bewahren und mich auf die rechten Wege zurückführen.

Michael ist der Prototyp des Schutzengels. Und gerade deshalb ist er auch der Engel der Erholung. Der Engel, der mich davor schützt, mich zu übernehmen und mit am Ende in meinem Tun zu schaden. Dass ich mich darauf verlasse, dass es Kräfte gibt, die es irgendwie gut mit mir meinen, das ist der vierte KUNSTgriff, der mir einfach guttut.

Oase 5: einfach ein Menschenrecht
Unbelehrbare Geister mögen in der Thematisierung der ErholungsKUNST eine Vermeidungsstrategie wahrnehmen. Nur nicht zuviel arbeiten. Und ihnen wäre es recht, die Hürden hochzusetzen. Das Gegenteil ist richtig: Erholung ist ein Menschenrecht. Da reicht schon der Blick in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948. Artikel 24 lautet ganz lapidar:

"Jeder hat das Recht auf Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und regelmäßigen bezahlten Urlaub." Unmenschlich ist es also, nicht auf die ErholungsKUNST zu setzen. Erholung ist ein Mindesstandard des Menschlichen. ErholungsKUNST die Konsequenz daraus und der Versuch, daraus noch mehr zu machen. Erholung aus der Schmuddelecke der unprofessionellen Haltung herauszuholen und sie gewissermaßen zu einer Grundausstattung unserer Geschöpflichkeit zu machen – auch dieser fünfte KUNSTgriff liegt doch eigentlich nahe.

Oase 6: Schöpfung im Vollzug
Die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen spricht von Rest and Leisure, wenn sie Erholung meint. Es gibt im Eglischen aber einen noch viel schöneren Begriff: Recreation – auf deutsch: Neu-Schöpfung. Genau darum geht es doch. Die Schöpfung, die Entstehung und Entwicklung alles Lebens ist ein unendlicher Prozess. Ein Prozess, der immer noch im Gange ist. Und dessen neu schaffende Anteile sich ständig gegen die Prozesse der Zerstörung zur Wehr setzen müssen.

Zerstörung der Schöpfung, die ereignet sich nicht nur in den Themen, die Fridays fur Future zu Recht thematisiert. Diese Zerstörung findet auch statt, wenn ich mit mir selbst nicht sorgsam umgehe. Wenn ich mich weigere, die ErholungsKUNSt zu erlernen. Ich finde das einen faszinierenden Gedanken: Es ist ein KUNSTgriff des Lebendigen - der sechste nach meiner Zählung -, dass ich mich am Prozess der Schöpfung beteilige, indem ich auf mich achthabe – indem ich die KUNST der Erholung erlerne und übe.

Oase 7: Spiritualität und Religion – warum nicht!
Ich könnte auch sagen: Erholung und Religion. Denn genau das ist der Zweck gelingender Spiritualität, gelingender religiöser Praxis: mein Leben in Balance zu bringen. Zwischen mir und meinen Mitmenschen. Zwischen mir und der Welt, in der ich lebe. Zwischen Tradition und Innovation. Zwischen Tun und Lassen. Zwischen Engagement und Erholung. Es ist, wie wenn ich auf einer Slagline balanciere. Das ist nicht einfach eine Technik. Das ist eine KUNST.

Mit etwas zu rechnen, das jenseits meiner Tagaus-Tagein-Welt existiert, ein Grundvertrauen zu entwickeln in eine Kraft jenseits meiner vertrauten Möglichkeiten – das ist ErholungsKUNST pur. Für mich ist das mein mir eigener Gottesglaube, in der mir vertrauten und für mich hilfreichen Weise – das ist mein KUNSTgriff Nummer 7. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie im Atelier Ihres Lebens Ihren eigenen KUNSTgriff Nummer 7 finden und entwickeln, der ihrem Leben zufügt, was Sie zu einem erfüllten Leben brauchen.

Ich wünsche Ihnen auch, dass Sie die kleine Unterbrechung dieses Tages im Atelier der ErholungsKUNST genießen. Und sich gerade in diesen besonders herausfordernd Zeiten einüben in dieser KUNST der Erholung. Bleiben Sie behütet und erholen Sie such gut! Gerade heute!

 

 

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.