Predigt in der Christuskirche in Heidelberg

11.10.2020

An die Grenze geraten. Die Grenze unserer Möglichkeiten. Unseres Handelns. Unseres Agierens. Auch an die Grenzen der Hoffnung, es gäbe irgendeinen Weg zurück. Zurück in eine heilere Welt.

An dieser Grenze richten wir uns ein. Lernen, mit den täglich wieder steigenden Zahlen zu leben. Teilen die Welt ein. In Risikogebiete. Und solche, die es derzeit noch nicht sind. Kein Zweifel – wir sind an der Grenze. Ratlos womöglich. Rat suchend auf alle Fälle.

Wer sind die Ratgeber? Wer bestimmt über das Gesetz unseres Handelns? Die Gesichter der Ratgebenden, die in den Talkshows sitzen, sind mir längst vertraut. Allabendliche Gäste in vielen Wohnzimmern. Wissenschaftler sind dabei. Virologinnen und Statistiker. Medienmenschen. Vorsitzende von Interessenverbänden. Politisch Verantwortliche. Naheliegend ist, was sie sagen. Manchmal auch befremdlich. Den nächsten Schritt, die nächsten Einschränkungen fordernd. Oder all den anderen Unfähigkeit und Böses unterstellend.

Ob es das gelobte Land ist, das hinter der Grenze liegt, an die wir gelangt sind? Wohl eher nicht! Wie finden wir zu dem, was das Gebot der Stunde ist?

(Orgel spielt Choralmelodie – Lesung wird hineingesprochen)

Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern.
Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun?

An die Grenze geraten. Die Grenzen des „Immer weiter so!“. Immer mehr Mitglieder – doch längst nicht mehr. Immer mehr Kirchensteuer - schon dieses Jahr nicht mehr. An die Grenze selbstverständlicher Attraktivität geraten. Ältere gehen weg. Jüngere kommen erst gar nicht mehr.

Nein, noch sind wir keine Minderheitenkirche. Kaum irgendeine andere Institution kann solche Mitgliedschaftszahlen aufweisen. Parteien nicht. Gewerkschaften nicht. Bestenfalls noch die Sportvereine.

Aber wir müssen umdenken. Und umlernen. Wir müssen unser Profil klären. Unser evangelisches, unser kirchliches, unser geistliches Profil. Offensiv müssen wir für das eintreten, was uns prägt und was uns wichtig ist.

Darüber, wie wir als Kirche für die 20 bis 30-Jährigen wieder relevant bleiben oder auch relevant werden, haben die Hauptamtlichen im Stadtkirchenbezirk diese Woche in ihrer Pfarrkonferenz nachgedacht.

Die Landeskirche nimmt das Jahr 2032 als eine Zäsur in ihren Planungen in den Blick. Bis zu dieser Grenze müssen noch viele Entscheidungen getroffen werden. Mut machende und schmerzliche.

Die EKD will die Kirche von Neuem „Ins Weite“ führen. Sie spricht von der „Kirche auf gutem Grund“. Und formuliert in 12 Leitsätzen, wie sie sich eine zukunftsfähige Kirche vorstellt. Fromm. Seelsorglich. Ökumenisch. Diakonisch.

Wer kann hier hilfreicher Ratgeber sein? Wer öffnet den Blick über den Horizont hinaus? Wer lehrt uns, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden? Sind es die Soziologen und Psychologinnen? Sie können klären, wie sich die Rahmenbedingungen geändert haben, gesellschaftlich und persönlich. Sind es die Praktischen Theologen, die deuten können, was sich gerade abspielt? Oder Philosophinnen mit dem Blick fürs Ganze, die wissen, „was die Welt im Innersten zusammenhält.“ Wer hat die Antworten, auf die alle so sehnlich warten?

Naheliegend ist, was sie sagen. Und womöglich von der Wirklichkeit schon wieder überholt. Längst gibt es nicht mehr die eine Antwort. Aber vielleicht sind es verschiedene Wege, die uns alle einer guten Zukunft näherbringen. In Kirche und Welt.

Ob es das gelobte Land ist, das hinter der Grenze liegt, an die wir gelangt sind? Wohl eher nicht. Wie finden wir zu dem, was das Gebot der Stunde ist?

(Orgel spielt Choralmelodie – Lesung wird hineingesprochen)

Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern.
Es ist nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun?

Noch einmal: An die Grenze geraten. Nach 40 Jahren in der Wüste geht nichts mehr. Zumindest für Mose. Für ihn ist diese Grenze die endgültige Grenze seines Lebens. Das Gelobte Land in Sichtweite. Aber ihm bleibt nur der sehnsuchtsvolle Blick hinüber. Ein anderer wird an seiner Stelle die Verantwortung übernehmen. Josua! Der Prototyp des Nachfolgers.

Die Gesetze der Wüstenzeit hatten ihre Zeit. Bald wird anderes das Leben der Menschen bestimmen. Die Jungen werden die Verantwortung übernehmen. Und die Macht dazu.

Das ganze 5. Buch Mose ist eine Art Testament. Mose zieht das Resümee seines Lebens. Er deutet. Er wertet aus. Er gibt Ratschläge für das, was kommt. Wie die es so gerne machen, die das, was sie raten, nicht mehr umsetzen müssen.

Und Mose ruft in Erinnerung, was trägt. Und wie es gelingen könnte, auch in neuer Umgebung die Spur nicht zu verlieren. Mose ruft das Gebot der Stunde in Erinnerung. Die Gebote - genauer gesagt. Gottes Gebote.

Ob es wirklich das gelobte Land ist, das hinter der Grenze liegt? Wohl eher nicht. Im Rückblick wissen wir: Was sich jenseits der Grenze ereignet, geht nicht einfach friedlich vonstatten. Das Land der einen war längst schon das Land der anderen. Der kriegerische Konflikt – er ist vorprogrammiert.

Trotzdem: Es ist gut, diese Gebote zu haben. Nicht nur in den Köpfen anderer. Nicht nur als vage Möglichkeit, es einmal zu versuchen. Nicht nur als Maßstab des eigenen Versagens.

(Orgel spielt Choralmelodie – Lesung wird hineingesprochen)

Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern.
Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.

Das Wort – ganz nahe bei mir. Das Wort in meinem Herzen. Und dann eben auch: Das Wort in meinem Mund. Mein Platz ist nicht einfach auf der Tribüne. In sicherem Abstand. Und mit klugen Kommentaren zu dem, was andere machen.

Mein Ort ist das Spielfeld des Lebens. Wo es um andere geht, geht es immer auch um mich. Mein Zögern – es liegt oft nicht darin begründet, dass ich nicht weiß, was zu tun wäre. Ich müsste nur einfach den ersten Schritt gehen. Dahin müsste ich gehen, wohin mein Herz mich trägt. Mitten hinein ins Leben der Menschen.

Wissen hilft. Und wir wissen viel. „Der Hunger in der Welt ist das größte lösbare Problem, das wir haben.“ Am Freitag habe ich diesen Satz gehört. Nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen.

Beim Klimawandel ist das nicht sehr viel anders. Es sind ja nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Analysen, die fehlen. Und ein gutes Stück von der Bereitschaft, mit der politisch Agierende auf die Erkenntnisse der Virologen hören, würde ich mir bei den Entscheidungen zum Kampf gegen den Klimawandel genauso wünschen.

„Das Wort ist ganz nah bei Euch. Ganz nah in Eurem Herzen.“

Kein Wunder, wie die Rede des Mose weitergeht. Unsere vielen Alternativen – Mose bringt sie auf einen einfachen Nenner. Er elementarisiert sie in radikaler Weise. „Siehe, ich habe euch beides vorgelegt: Fluch und Segen. Wählt das Leben, damit ihr am Leben bleibt. Ihr. Und die, die nach Euch auch noch leben wollen!“

Es gibt guten Grund zum Leben. Und es gibt Wege, die Orientierung nicht zu verlieren. Das Wort, ganz nah bei Dir. Es gibt mehr als nur ein Wort, das mir hilfreich ist.

Wählt das Leben. Ich habe meine Wahl getroffen. Mir ist mir dieses eine Wort näher als die vielen anderen. Das Wort, das meinen Blick immer wieder nach vorne richtet. Das Wort, das mir den Neuanfang ermöglicht. Das Wort, das aufbaut, wo alles zerstört scheint. Das Wort, dem selbst dieses Virus nicht gewachsen ist. Weil es die Welt von der Zukunft her in den Blick nimmt.

Diesen Einen nennen wir gerne das menschgewordene Wort. In der Sprache unseres Glaubens. Gottes Wort in Menschenwort. Gottes Wort in Fleisch und Blut. Seine Worte in meinem Mund, seine Worte in deinem Herzen – näher kann mir nicht kommen, was mich leben lässt. Näher kann mir Gott nicht kommen.

Ich gerate immer noch an Grenzen. Immer wieder. Aber manchmal hilft es schon, das Gelobte Land immerhin zu sehen. Von seiner Existenz zu wissen. Wie Mose.

Auch wenn ich meinen Fuß heute nicht über die Grenze setze, trägt die Hoffnung meine Worte schon hinüber. Ich kann das Leben wählen. Hier und heute. Für immer und ewig. Und dann: Keine Grenzen mehr! Nur noch du und ich. Gott und das Wort. Mitten unter uns. Mitten drin im Leben. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.