Predigt im Gemeindezentrum in Neuendorf und in der Inselkirche in Kloster auf der Insel Hiddensee

09.08.2020

Liebe Gemeinde!

 Eine Predigt, geschrieben im Ostwind, der über die Insel weht, umgeben vom gleichbleibenden Geräusch des Vor und Zurück des Wassers, über mir das Kreischen der Möwen, alles bei strahlendem Sonnenschein, direkt nebendran die Pferde, Menschen mit Handtüchern auf dem Hin- oder Rückweg zum Strand - was kann das anderes Werden als eine Urlaubspredigt. Manchmal nur unterbricht der gnadenlose Stich einer Mücke die unbeschwerte Idylle.

Doch dann fällt da auch noch anderes in meinen Blick. Und mir wird klar: Auch hier auf der Insel habe ich nicht alles einfach zurückgelassen, was zu Hause meinen Alltag und mein Leben prägt. Die Masken, noch vor wenigen Monaten gänzlich ungewohnt in unseren Breiten, der Abstand, der soviel Raum zwischen uns lässt, auch hier in dieser Kirche und auf den Bänken draußen, die legendären 1,50 die auch hier gelten. Die Spender von Desinfektionsmittel, inzwischen überall zum Standard geworden.

Es kann keinen Zweifel geben, welches Wort dieses Jahr zum Unwort des Jahres werden wird. Der Name dieses Virus, der uns als Gesellschaft und als einzelne doch gehörig aus allen Bahnen der Normalität geworfen hat.

Und dann kommt mit dieser Prophet Jeremia dazwischen, irgendwo im 7. Jahrhundert vor Christus im Mittleren Osten geboren, ein Kind der Oberschicht. Einer, der dann plötzlich auch aus der Bahn geworfen wird. Einer, den Gott aus der Bahn wirft. Seine beruflichen Pläne einfach handstreichartig über den Haufen wirft. Der zum Propheten wird. Zum Propheten wider Willen. Und gegen alle Einsprüche, die er einbringt.

Und ich frage mich, was hat dieser Prophet aus grauer Vorzeit beizutragen zu dem, was uns gegenwärtig in Atem hält.

Und während ich überlege, fährt sich das Programm für Zoom-Videokonferenzen mit einem Mal hoch, ein Gesprächspartner kündigt sich an, einfach unter dem Namen Prophet (groß) J. (punkt). Ich lasse ihn zu – und er stellt sich vor: Jeremia! Aus Anatot. Du hast nach mir gefragt.

Ganz so war’s ja nicht, denke ich. Aber wo ich ihn nun einmal in dieser kleinen Videokonferenz habe, nutze ich die Gelegenheit. „Du bist für mich ganz schön weit weg!“, sage ich. „Beschäftigst dich mit irgendwelchen Königreichen in Ägypten und Babylon. Hast Jerusalem vor Augen. Seinen Tempel. Für Dich geht’s doch immer nur um Macht. Und um die rechte Religion. Zu dem, was uns derzeit beschäftigt, hast du kaum Weiterführendes beizutragen, denke ich!“

„Wenn du meinst“, sagt er. „Als ob Macht und Religion bei Euch keine Rolle spielen!“ „Ja, schon“, sage ich, „aber hier im Urlaub, auf der Insel, da tauchen plötzlich die letzten Monate vor meinen Gedanken auf. Und ich frage mich, was das alles zu bedeuten hat, ob diese besondere Situation eine Botschaft bereithält, für mich, für uns alle hier.“

„Alles, was ist, ist mehr als es ist!“, fährt der Prophet fort, der mich aus dem Display heraus anschaut. Natürlich liegt eine Botschaft drin. Alles ist eine Botschaft!

Schau, ich habe das auch ganz anders gesehen. Habe das Leben auf mich zukommen lassen. Bis Gott mir ganz elementar dazwischengekommen ist. Die Botschaften des Lebens sollst du deuten. Für die Menschen um dich herum. Es ist wichtig, dass es solche Deuter gibt.

Warum gerade ich, habe ich gefragt. Ich bin da nicht der Richtige. Um Botschaften zu deuten, da braucht es Lebenserfahrung. Ich bin ja kaum zwanzig Jahre alt. Ich bin dafür entschieden zu jung.

Lass das meine Sorgen sein, hat Gott geantwortet. Botschaften zu deuten, das ist keine Frage des Alters. Das ist eine Frage der offenen Augen. Eine Frage des empfindsamen Herzens. Ich habe dich längst im Blick. Gerade, weil du so bist, wie du bist. Widerständig. Und nicht einfach nur ein Mitläufer. Weil du es mir nicht leicht machst, war die Entscheidung für dich gar nicht schwer.

Und jetzt bin ich zum Deuter der Botschaften geworden. Beherzige in Zukunft die Prophetenregel Nummer 1: Niemand ist zu alt. Oder zu jung. Werde ein Deuter. Oder eine Deuterin. Du kannst das. Weil Gott dich längst im Blick hat.

Strophe 1
Brich auf und kehre um,
das Steuer reiß herum
und wag zu leben!
Beflügelt durch den Geist,
der Zukunft dir verheißt –
von Gott gegeben.

„Was als willst du von mir hören?“ Der Prophet hakt nach. Ich zögere nicht. Und nutze die Gelegenheit: „Was es mit diesem Virus auf sich hat. Hat dein Gott uns das geschickt?“

Jeremia überlegt nur kurz. „Mein Gott ist dein Gott. E s gibt nur einen. Aber er kommt dir immer anders entgegen. Nein, wenn du meinst, dieses Virus sei so eine Art himmlische Strafmaßnahme, dann kennst du diesen Gott nicht richtig. Er ist an Gesundheit und an Gelingen interessiert. An Gerechtigkeit und Wohlergehen. Dafür, dass ihr meist ganzschön hinter diesem Programm zurückbleibt, seid ihr selber verantwortlich.

Eure aktuelle Situation hat mit eurem Leben zu tun. Mit dem Überschreiten heilsamer Grenzen. Mit eurer Lust, alles ins Leben zu ziehen, was nur möglich ist. Manchmal auch mit eurer mangelnden Bereitschaft, Spannungen auszuhalten. Und Durststrecken durchzustehen. Es hat auch etwas mit der Verfasstheit der Natur zu tun. Sie ist nicht einfach nur gut. Sie folgt eigenen Gesetzen. Euer Virus: Es kennt weder gut noch böse. Es weiß nur, wie es funktioniert. Und wie es überlebt.“

„Das weiß ich doch!“, gebe ich zur Antwort. „Aber die Botschaft. Was ist die Botschaft?“ „Das liegt doch auf der Hand,“ höre ich es aus dem kleinen Tischlautsprecher tönen. „Kehrt um“, lautet die Botschaft. Lebt bewusst. Lebt so, dass es nicht nur für euch von Vorteil ist. Sondern für eure Gemeinschaft. Für den ganzen Planeten müsstet ihr heute sagen. Aber so weit ging mein Blick damals noch nicht.  Beherzige in Zukunft die Prophetenregel Nummer 2: Der Weg in die Zukunft verläuft nur durch Umkehr nach vorne. Umkehr in die Zukunft, darum geht’s am Ende!“

Strophe 2
Sing für Gerechtigkeit
dein Lied und lass weltweit
den Frieden blühen!
Was noch nicht ist, kann sein.
Zur Umkehr lade ein!
Lass Hoffnung glühen.

Ich muss nachdenken. „Also moralische Appelle – ist es das, was du mir als Rat gibst?“ Manchmal sind die gar nicht so übel“; antwortet der Prophet J. Aber es geht um etwas anderes. Es geht um Botschaften des Lebens. Es geht um Botschaften der Zukunft. Es geht um Botschaften des Neuanfangs. Das sind die Botschaften, die Gott mir aufträgt.“

„Aber manchmal warst du ganz schön konservativ!“ unterbreche ich ihn. „Suchet der Stadt Bestes, hast du deinen Landsleuten ins Exil geschrieben. Kein Widerstand. Anpassung an den Unterdrücker!“ „So einfach ist das nicht. Und so falsch kann ich damit nicht gelegen haben. Kaum eine Festrede in euren weltlichen Empfängen kommt ohne diesen Satz aus. Man muss die Botschaft jedes Mal neu suchen. Und statt blindem Untergang kann sie auch einmal Wandel durch Annäherung lauten.“

Und was heißt das jetzt für deine Botschaft für uns?“, frage ich keck zurück. „Irgendwie schon so, wie du mich einschätzt. Mit blindem Protest und mit Aufrufen zum Widerstand kommst du gegen das Virus nicht an. Also: einfach negieren. Einfach sagen, mich betrifft das nicht, das ist höchst gefährlich. Nicht nur für dich. Sondern auch für andere. Fürs Erste müsst ihr lernen, euer Leben drauf einzustellen. Mit allen Vorsichtsmaßnahmen. Aber ohne dabei das Leben zu vergessen. Ihr habt noch Freiräume genug.

Beherzige in Zukunft die Prophetenregel Nummer 3: Stärke, was dem Leben dient, darauf setze all dein Kraft. Nicht darauf, dich von den lebenszersetzenden Kräften lähmen zu lassen.

Strophe 3
Gib deinem Glauben Raum!
Lass wie von einem Baum
viel’ Früchte fallen -
nicht nur für dich allein!
Üb’ dich ins Teilen ein.
Auch Gott gibt allen.

„Du hast gut reden!“, lege ich jetzt aber trotzdem Widerspruch ein. Mit solchen Dingen wie mit Viren und ganz neuen Krankheiten musstest du dich vor zweieinhalbtausend Jahren nicht herumschlagen. Wahrscheinlich hast du auch von Stress und Burnout noch nichts gehört.“

„Du irrst dich!“, gibt der Prophet entschieden zurück. Hast du noch nie etwas von meinen Klageliedern gehört? Es ist nur der Güte Gottes zu verdanken, dass es nicht längst Garaus mit mir war. Mein Amt hat mich immer wieder an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Nicht weil es mich überfordert hätte. Sondern weil kaum einer auf mich gehört hat. Einfach auch einmal nur still zu halten, das war nicht das Ding meiner Landsleute. Dafür sind sie am Ende im Exil gelandet. Verschleppt nach Babylon. Mich hat man am Ende in Ägypten inhaftiert. Und dort zuletzt auch umgebracht. Beherzige darum in Zukunft die Prophetenregel Nummer 4: Es braucht allemal Mut, die Botschaften des Lebens weiterzusagen. Es kann dich Kopf und Kragen kosten. Aber um Gottes und der Menschen Willen – du hast keine Alternative.

Strophe 4
Verwirf die böse Tat!
Vertrau nur nicht dem Rat
stets nur zu mehren.
Wer dem Verzicht vertraut
und nach den Nächsten schaut,
wird so Gott ehren.

Ich versuche es ein letztes Mal. „Was also ist die Botschaft dieser besonderen Wochen und Monate bei uns?“ frage ich den Propheten (groß) J. (punkt). „Es ist doch alles gesagt!“, gibt der Prophet zurück. Dieses Mal fast etwas unwirsch. „Macht Gott nicht verantwortlich, sondern übernehmt selber Verantwortung. Schaut, wovon ihr umkehren müsst. Aber lasst euch das Leben nicht verleiden! Im Übrigen: Gott ist dennoch nicht aus dem Spiel. Gott will, dass ihr lebt. Und dass ihr Zukunft habt.

Nutzt diese Sommerwochen, um Abstand zu gewinnen. Nicht den körperlichen meine ich jetzt. Sondern den seelischen. Da, wo du jetzt bist, hast du den besten Ort dafür gefunden. Urlaub, das heißt doch: Grenzen einüben auf Zeit. Den kleinen Ort genießen. Die kleine Unterbrechung. Die kleine Erfahrung purer Lebensfreude. Meine fünfte und letzte Prophetenregel lautet daher: Es sind nicht die Grenzen, die andere dir setzen, die dein Leben eng machen. Es sind die Grenzen, die du dir selber setzt. Gott weiß diese Grenzen allemal zu weiten. Zuhause und hier auf der Insel. Im Alltag und im Gottesdienst. Im Zweifel und im Suchen. Und im Finden und im Feiern.

Deuter, Deuterin des Lebens bist auch du. Um zu entlarven, wo’s nur Macht geht. Auch im Interesse von Religion. Es muss ums Leben gehen. Dann kann euch keine Grenze mehr halten. Über Königreiche und Völker hat Gott mich gesetzt. Mir die Macht verliehen, einzureißen und aufzubauen. Aber nicht nur mir. Ihr alle – du, Sie und ich – Deuterin des Lebens können wir sein. Und eurem Virus am Ende seine Grenze setzen. Und diese Umkehr in die Zukunft – wo kannst du die besser einüben als da, wo du gerade bist.“

Da verschwindet das Bild des Propheten von meinem Bildschirm. Und kurz und schemenhaft taucht ein anderes Bild in der Galerie auf. „Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben“, versehe ich. Und dann noch: Ich bin gekommen, damit Ihr das Leben gewinnt, Leben in Fülle!“

Ich weiß, das war noch einmal ein anderer. Mir ganz nah. Und doch auch gegenüber. So wie Gott mir gleichermaßen nahekommt und mir Gegenüber bleibt. Der Schlüssel, um recht zu deuten, was mir im Leben widerfährt. Was mir entgegenkommt. Was mein Leben das eine Mal leicht macht. Und das andere Mal so unglaublich schwer.

Und mit einem Mal bin ich dem Propheten (groß) R. (punkt) unendlich dankbar. Gott hat mich im Blick. Und: Ich habe Zukunft. Das trägt. Hier auf der Insel. Und danach auch. Ganz gleich, was noch alles kommt.

Und wieder spüre ich den Ostwind. Höre das Geräusch des Wassers und das Kreischen der Möwen. Und sehe die Welt doch mit einem Mal ganz neu. Was für ein Wunder. Amen.

Strophe 5
Nimm wahr: Gott lädt dich ein,
ganz einfach Mensch zu sein
mit wachen Sinnen -
dem Leben auf der Spur,
versuch das Wagnis nur,
neu zu beginnen.

 

(Anmerkung: Der Liedtext stammt vom Prediger, zu singen auf die Melodie EG 659/Baden: Die Erde ist des Herrn

 

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.