Geistliches Wort für die EKIBA-Website

06.09.2020

Als Kind hat mich dieser Anblick fasziniert. Ein Bienenstock, mitten durchgeschnitten, die Schnittfläche nur mit Glas überzogen. So lässt sich das muntere Treiben der Bienen um ihre Königin hinter der sicheren Scheibe gefahrlos verfolgen. Ein Gemeinwesen, in dem ständig alles in Bewegung scheint, aber alles irgendwie doch auch nicht nur zufällig, sondern nach einem unsichtbaren Gesetz und nicht gleich durchschaubaren Regeln verläuft.

Der Bericht aus Apostelgeschichte 6 hat mich an diesen Querschnitt hinter Glas erinnert. Beim Lesen erhalte ich Einblick in eine Bewegung im Dauerprozess der Veränderung. Die Kirche ganz am Anfang ihrer Entwicklung – nicht einfach eine Gemeinschaft, in der die Gläubigen „ein Herz und eine Seele“ sind, wie es kurz davor in der Apostelgeschichte berichtet wird. Vielmehr bewegt sich diese noch junge Bewegung von der Mitte nach außen, auch geographisch; sie bewegt sich hin und her in konfliktreichen Bewegungen unterschiedlicher sozialer Gruppen. Und sie ist auf der Suche nach neuen, angemessenen Organisationsformen. Und am Ende weiß ich: Den sicheren Ort hinter der Glasscheibe gibt es gar nicht. Ich bin irgendwie immer selber mitten drin.

Jetzt aber noch einmal der Reihe nach. Es ist ein dreifacher Blick durch das Glas, den mir dieser Text ermöglicht. Zunächst der erste Blick! Zur jungen Bewegung der vom auferstandenen Christus faszinierten Menschen gehören nicht nur diejenigen, die aus dem Kreis der in Jerusalem und Umgebung lebenden Menschen stammen. In der Region leben auch jüdische Menschen, die griechisch geprägt sind und auch diese Sprache sprechen -  als Nachkommen derer, die im weiten Rund des hellenistisch geprägten Mittelmeerraumes ihren Glauben an den Gott Israels leben gelernt haben. Beide Gruppen leben Tür und an Tür oder Wohnquartier an Wohnquartier, sind sich in ihrem Gottesglauben ganz nah – und gehören doch sehr unterschiedlichen sozialen Gruppen an, was die kulturellen und religiösen Prägungen angeht, aber auch im Blick auf ihre materielle Situation.

Dies legt der zweite Blick durch die Glasscheibe offen! Die Armenfürsorge behandelt nicht alle gleich. Die Bedürftigen aus dem Bereich der nicht aus dem Jerusalemer Umfeld stammenden Menschen – die Witwen werden ausdrücklich genannt – kommen zu kurz. Die selbstbewusste und besser situierte Jerusalemer Gruppe übersieht sehr gerne, dass nicht nur die eigene Klientel auf Unterstützung angewiesen ist. Irgendwann ist das Maß voll. Und aus dem Murren wird Protest. So ungerecht kann es nicht weitergehen.

Was dann folgt, zeigt sich im dritten Blick durch die Glasscheibe auf die Dynamik der jungen Kirche von Jerusalem. Das alte System der ehrbaren Altvorderen, die aufgrund ihrer Nähe zu Jesus aus Nazareth unhinterfragt das Sagen haben, verliert seine Plausibilität. Zum Zwölferkreis kommt ein – durch Auswahl entstandener - Siebenerkreis hinzu. Es geht nicht einfach darum, dass die Zwölf für die Verkündigung, die Sieben aber für die Diakonie zuständig gewesen seien. Angemessener erscheint die Vermutung, dass sich die Leitungsstrukturen ausdifferenzieren. Zum Amt der Weitergabe der Guten Nachricht von der Menschenfreundlichkeit Gottes in Form der Verkündigung kommt die Kommunikation des Evangeliums in Form der Fürsorge und der Weltverantwortung hinzu. Wort und Tat sind eben seit den Anfängen der Kirche zwei Seiten der einen Medaille des Glaubens. Gerechtigkeit will nicht nur angemahnt, sondern auch gelebt werden. Hinter der Glasscheibe, die den Blick auf die wachsende Kirche ermöglicht, herrscht eine kaum vorstellbare Dynamik – bis heute.

Es gehört zu den schmerzlichen Erfahrungen im Umgang mit der Corona-Pandemie, dass sie nicht alle Gruppen in gleicher Weise trifft. Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, betroffen zu werden – weltweit noch viel stärker wahrnehmbar als bei uns. Beengte Wohnverhältnisse, schlechte hygienische Bedingungen, ein mangelhafter Zugang zu frischem Wasser, eine unzureichende medizinische Versorgung, fehlende Grundnahrungsmittel – all das sorgt dafür, dass die einen mehr unter Corona und anderen Krankheiten zu leiden haben als andere.

Aus dem Bericht der Apostelgeschichte ergeben sich durchaus Anfragen an unsere Situation. Wer hat die nötigen offenen Ohren – wie damals, als die ungleiche Behandlung der Witwen einen Prozess des Umdenkens in Gang gesetzt hat? Welches Siebener-Gremium setzen wir ein, das hier mehr Gerechtigkeit einfordert und umsetzt? Welche Ämter müssen wir schaffen oder stärken, damit das Engagement für mehr Gerechtigkeit Hand und Fuß bekommt? Was werden diejenigen bei uns entdecken und wahrnehmen, die in späterer Zeit durch eine andere Glasscheibe einmal auf unser Handeln schauen? Kein Zweifel – sie werden den engagierten Einsatz nicht weniger Menschen entdecken, die mutig für Gerechtigkeit eintreten, aber auch für Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Beeindruckende und mutige Menschen werden sie wahrnehmen, die als Pflegende, als medizinisch Verantwortliche, aber auch als politisch Agierende das Leiden der Menschen an dieser Krankheit zu bekämpfen versucht haben. Ihr Blick wird womöglich auch auf Greta Thunberg, Luise Neubauer und unzählige Schülerinnen und Schüler fallen, aber auch auf viele unbekannt Gebliebene – aber allemal auf viel mehr als nur Sieben.

Zum einen beruhigt mich das. Zum anderen weiß ich: Es sind noch viel mehr Menschen nötig, die bereit sind, Zeit zu opfern und Risiken zu wagen. Und zuletzt frage ich mich: Wie wird der Blick auf mich selber sein? Ob die Zwölf, die Sieben, ob ganz viele weltweit handeln oder ich hier vor Ort – ich finde es allemal höchst entlastend, dass am Ende nicht diejenigen hinter der Glasscheibe das letzte Wort haben, sondern Gott, der einen gnädigen Blick wirft – auf mich und auf alle anderen auch!

Lied (EG 667)
Selig seid ihr, wenn ihr einfach lebt. /
Selig seid ihr, wenn ihr Lasten tragt.
Selig seid ihr, wenn ihr lieben lernt. /
Selig seid ihr, wenn ihr Güte wagt. 
Selig seid ihr, wenn ihr Leiden merkt. /
Selig seid ihr, wenn ihr ehrlich bleibt.
Selig seid ihr, wenn ihr Frieden macht. /
Selig seid ihr, wenn ihr Unrecht spürt. 

(Text: Friedrich Karl Barth, Peter Horst 1979)

 

Gebet
Deine Kirche bleibt in Bewegung, Gott! Von der Mitte an die Ränder – von denen, die ihre Schäfchen im Trockenen haben, zu den Habenichtsen. Von den Lauten und Mächtigen zu denen, die ich leicht übersehe und überhöre. Nimm mich hinein in deinen Weg mitten ins Leben!

Deine Kirche bleibt in Bewegung, Gott! Von denen, deren Leben mir nah ist, zu denen, die ich nicht gleich verstehe - von denen, deren Lebensentwurf mir einleuchtet, zu denen, die so ganz anders sind. Von den vertrauten Farben und Tönen zu den schrillen und grellen Weisen, dem Leben hinterher zu kommen. Nimm mich hinein in deinen Weg mitten ins Verstehen der anderen.

Deine Kirche bleibt in Bewegung, Gott. Von den überlieferten Weisen, ihr Gestalt zu geben, zu vielen Formen des Aufbrechens und neu Anfangens. Aus den eingefahrenen Gleisen in die Unwägsamkeit dessen, was ich noch nicht kenne. Nimm mich hinein in deinen Weg mitten in das unbekannte Land deiner Zukunft. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.