GEISTLICHES WORT ZUM 7. SONNTAG NACH TRINITATIS AM 23. JULI 2020
(HEBRÄER 1,1-3)

26.07.2020

Erinnern Sie sich noch an die Bilder aus dem Jahr 2015? Als in München die Züge voll von Geflüchteten in den Bahnhof einfuhren. Als gejubelt wurde, wenn wieder eine Gruppe von Menschen strahlend ihrer Freude Ausdruck verliehen hat, endlich angekommen, endlich in Sicherheit zu sein. Die Kirchen waren in diesen Wochen mit vielen Ehrenamtlichen unterstützend dabei. Aber auch viele Menschen aus anderen Institutionen und mit anderer Prägung – weil alle einfach zu tun wussten, was die Menschlichkeit gebietet. Eine klare Einsicht führte zu einer klaren Botschaft. Und zu einem eindeutigen Handeln. Fürs erste zumindest.

Das letzte Kapitel des Hebräerbriefes redet ebenfalls Klartext. Und ist in seiner Botschaft viel eindeutiger als wir es gewohnt sind. Um ehrlich zu sein: Normalerweise sind mir Menschen, die immer schon zu wissen scheinen, worauf es ankommt, eher verdächtig. Nicht immer liegt doch von vornherein klar auf der Hand, worauf es gerade ankommt. Aber diese Sätze am Ende des Hebräerbriefes haben in ihrer Klarheit für mich etwas geradezu Frisches und Beflügelndes. Sie verzichten darauf, um den heißen Brei herumzureden. Und dabei sind die ersten drei Sätze, die den Predigttext für diesen Sonntag bilden, nur der Auftakt einer ganzen Reihe weiterer klarer Ansagen.

Gastfreundschaft wird angemahnt. Und Gastfreundschaft meint hier nicht einfach eine freundliche Geste. Sie bedeutet nichts anderes, als Verzicht zu üben und den damals ohnedies knappen Wohnraum mit anderen zu teilen. Meist mit Menschen, die man vorher nicht einmal gekannt hat. Mit Menschen vermutlich vor allem, die den eigenen Glauben geteilt haben. Mit Menschen, die unterwegs waren und vor Ort keine andere Unterkunft gefunden haben. Oder sich diese nicht leisten konnten. Und hinter deren Armut nicht selten die überraschende Anmut eines Boten oder einer Botin der Gegenwart Gottes verborgen gewesen ist.

Eine Art Vorläufer der „Refugees Welcome“-Aufkleber hat es dann also wohl auch schon vor knapp 2000 Jahren gegeben. Eine Bereitschaft, die eigenen Türen zu öffnen, um anderen Menschen – als Schwestern und Brüder – Unterkunft und Schutz zu gewähren.

Gastfreundschaft ist aber nur das eine. Der Brief lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Im nächsten Schritt nimmt er die zu Unrecht Eingesperrten und Gefolterten in den Blick. Dass Menschen willkürlich inhaftiert werden, gefoltert wegen einer Überzeugung, die den Machthabenden nicht gefällt, gehört auch im Jahre 2020 zu den Realitäten der Gegenwart. Religion, politische Überzeugungen, Hautfarbe, sexuelle Orientierung – fast nichts gibt es, was die Handlanger des Bösen nicht zum Anlass nehmen, Menschen mit Gewalt aus dem Weg zu schaffen.

Die Kirchen protestieren im Verbund mit anderen Menschen guten Willens hier schon immer lautstark – gottseidank! Aber oftmals setzt sich auch das interessengeleitete Schweigen durch. Die Gastgeber eines Staatsbesuchs sollen nicht brüskiert werden. Lautstarkes Protestieren könnte den Geschäften schlecht bekommen. Und im Übrigen gilt das Gesetz, sich in die Angelegenheiten der anderen nicht einzumischen.

Der unbekannte Schreiber des Hebräerbriefes legt hier vehementen Wiederspruch ein. Gefordert ist von uns als Christenmenschen, die aus dem Weg Geschafften so im Blick zu behalten, als ginge es um uns selber. Deutlicher lässt es sich nicht formulieren: „Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten, weil auch ihr noch im Leibe lebt.“ Verbundenheit, die aus der Solidarität lebt. Gemeinschaft, die im Füreinander-Eintreten ihren Grund hat – was für ein Erkennungszeichen des Glaubens! Was für eine Beschreibung dessen, was Kirche meint.

Auch an den weiteren Beispielen, die in diesem letzten Kapitel des Hebräerbriefes aufgelistet werden, ließe sich dies verdeutlichen: Verlässlich die eigene Beziehung leben. Nicht geizig sein. Diejenigen achten, denen ich verdanke, was ich bin, was ich weiß und was ich kann - nicht zuletzt also den eigenen Lehrerinnen und Lehrern.

In den ersten Wochen der Corona-Krise wurde auf den Balkonen geklatscht. Was konkret den Pflegekräften gegolten hat – in der Denkweise des Hebräerbriefes wären diejenigen gemeint, die Eigenes geteilt haben zugunsten der anderen. Geschwisterliche Liebe nennt das der Hebräerbrief. Sie gibt den Rahmen ab. Sie bildet das erste Gebot der Solidarität. Alles andere ist Übersetzung. Konkretisierung. Es ist wichtig, dass wir diese Tradition des Hebräerbriefes aufnehmen. Dass wir Klartext reden. Und selber glaubwürdig umsetzen, was von uns gefordert ist. Aus der simplen Tatsache heraus, dass wir Menschen sind, die anderen Menschen gegenüber nichts voraushaben. Und schon deshalb für sie einstehen. So wird konkret, was das bedeutet: zu leben in der Nachfolge dieses Jesus aus Nazareth, in dem Gott mit uns Menschen solidarisch geworden ist.

Gebet
Wer immer ich schweigend ertrage, wenn Hand angelegt wird an einen anderen Menschen, Mensch gewordener Gott, stelle ich mich selber als Mensch in Frage.

Wer immer ich meine Hand geschlossen halte, wo ein Mensch Hunger leidet, Mensch gewordener Gott, lasse ich meinen eigenen Mangel an Menschlichkeit aufscheinen.

Wo immer ich mich nicht zuständig fühle, wenn Menschen eingesperrt und misshandelt werden, Mensch gewordener Gott, gerät meine Seele in größte Gefahr.

Wer immer ich mein Dach für nicht für weit genug, um anderen Menschen Schutz zu bieten, Mensch gewordener Gott halte ich mir womöglich deine Engel vom Leibe.

Wer immer ich einem Menschen verwehre, Mensch zu sein und menschlich zu leben, Mensch gewordener Gott, verbanne ich womöglich dich selber aus unserer Mitte.

Wo immer die Schönheit der Blüten in meinem Garten andere Menschen erfreut, Mensch gewordener Gott, verströmt deren Duft bis hinauf zu dir in den Himmel.

Wo ich mich als Mensch unter Menschen erkenne, Mensch gewordener Gott, entdecke ich mich verbunden mit allen, die dein Ebenbild sind wie ich.

Amen.

Lied
1. Brich mit den Hungrigen dein Brot, sprich mit den Sprachlosen ein Wort,
sing mit den Traurigen ein Lied, teil mit den Einsamen dein Haus.

2. Such mit den Fertigen ein Ziel, brich mit den Hungrigen dein Brot,
sprich mit den Sprachlosen ein Wort, sing mit den Traurigen ein Lied.

3. Teil mit den Einsamen dein Haus, such mit den Fertigen ein Ziel,
brich mit den Hungrigen dein Brot, sprich mit den Sprachlosen ein Wort.

4. Sing mit den Traurigen ein Lied, teil mit den Einsamen dein Haus,
such mit den Fertigen ein Ziel, brich mit den Hungrigen dein Brot.

5. Sprich mit den Sprachlosen ein Wort, sing mit den Traurigen ein Lied,
teil mit den Einsamen dein Haus, such mit den Fertigen ein Ziel.

(EG 420: Friedrich Karl Barth 1977)

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.