Sieben Thesen zum Glück gottesdienstlichen Feierns im tristen November 2020

11.11.2020

„Kneipen, Sportplätze, Museen – alles geschlossen, um die Verbreitung des Coronavirus zu bremsen. Doch warum dürfen ausgerechnet Gotteshäuser (…) offen bleiben?“ Auf der Website des SWR stand diese Frage unlängst am Anfang eines kritischen Kommentars. Ich nehme das zum Anlass, nicht einfach nur pikiert zu reagieren, sondern mache mir dazu Gedanken.

1. Zunächst: Der beschriebene Sachverhalt trifft zu. Im Unterschied zum ersten Lockdown zwischen Mitte März und Anfang Mai sind die Kirchen mit ihren Gottesdiensten dieses Mal nicht betroffen. Das wollen wir dankbar registrieren. Die politisch handelnden Personen – darunter die Bundeskanzlerin und auch der Ministerpräsident von Baden-Württemberg – sind offensichtlich der Meinung, dass zu den Aktivitäten, die im „kleinen Lockdown“ derzeit nicht untersagt bleiben sollen, das gottesdienstliche Feiern gehört. Das ist allemal Grund zur Dankbarkeit. Selbstverständlich ist es jedenfalls nicht.

2. Dahinter verbergen sich womöglich noch weitere Überlegungen. Die Pandemie fordert den Menschen in diesem Jahr sehr viel ab. Menschen fühlen sich unter Druck, allein und alleingelassen, schuldig, wenn sie anderen nicht im gewohnten Maß zur Seite stehen können, vielfach auch überfordert. Dazu kommen Fragen nach der Verletzlichkeit und der Endlichkeit unseres Lebens. Zu den Quellen, die Menschen dennoch getrost leben lassen, gehören ihre tragenden Grundüberzeugungen, für Christenmenschen ihr Glaube. Zu den Möglichkeiten, diesen Glauben auch unter schwierigen Bedingungen zu leben gehören Gottesdienste. Wenn Menschen weiter Zugang zu diesen Quellen haben, verbirgt sich dahinter die Einsicht, dass gottesdienstliches Feiern auch eine – freilich andere – Art des schützenden Umgangs mit Leben ist.

3. Das Feiern der Gottesdienste spielt sich aber durchaus in einem rechtlich und verfassungsmäßig höchst geschützten Raum ab. Es muss schon gute Gründe geben, die freie Ausübung der Religion in Form des gottesdienstlichen Feierns einzuschränken. Es gibt derzeit solche Gründe. Deshalb sind viele kirchliche Aktivitäten ähnlich wie die anderer Organisationen nicht im normalen Umfang möglich. Gottesdienste sind da eher die Ausnahme. Sie sind auch nicht einfach gesellig oder bedienen soziale Bedürfnisse. In den Gottesdiensten schlägt, wenn auch auf unterschiedliche Weise, das Herz der Kirchen. Insofern war es im März eine ultima ratio, wenn das Feiern öffentlicher Gottesdienst für einige Wochen ausgesetzt wurde. Laut schreiend durch die Innenstädte zu laufen und dem Staat blinde Verbotswillkür zu unterstellen, ist deshalb einfach nur „verquer“ – mit Querdenken hat das wenig zu tun.

4. Die Kirchen der ACK wissen sich im Glauben an den dreieinigen Gott auf der Grundlage der Bibel und des Bekenntnisses von Nicäa-Konstantinopel miteinander verbunden. Weil dies auch ihr gottesdienstliches Feiern betrifft, sind sie darum bemüht, ihrer Verantwortung gegenüber Gott und den Menschen gerecht zu werden. Deshalb nehmen sie die jeweils gültigen Rahmenbedingungen und staatlichen Verordnungen sehr ernst und setzten die notwendigen Schutzmaßnahmen um. Diese sind immer aktuell auch auf der Website der ACK-Baden-Württemberg nachzulesen. Der christliche Glaube leistet nicht dem Ausstieg aus der gesellschaftlichen Verantwortung Vorschub, sondern nimmt die Schutzbedürftigkeit der Mitmenschen sehr ernst.

5. Insofern ist die Möglichkeit des gottesdienstlichen Feierns nicht einfach nur ein Recht, sondern auch eine aus guten Gründen bewahrte und zugestandene Möglichkeit. Indem wir sie nutzen, nehmen wir nicht nur das Recht auf persönliche Erbauung wahr, sondern lassen uns geistlich stärken, um fürsorglich für andere tätig sein zu können. Vergleich zu unseren Geschwistern, die ihren Glauben derzeit an vielen Orten der Welt in Bedrängnis leben, haben wir auch im November 2020 wahrhaftig immer noch Grund genug zur Dankbarkeit.

6. Es gibt Anlass genug, auch das Leiden der anderen wahrzunehmen. Dazu gehören zuerst diejenigen, die coronabedingt Leid und Tod erfahren mussten. In den solidarischen Blick sind aber in der Tat auch diejenigen zu nehmen, die in diesem Monat erneut in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind, u.a. die Besitzer und Inhaber gastronomischer Betriebe, aber auch Künstlerinnen und Künstler, um nur zwei Gruppen zu nennen. Sie und andere verhelfen mit ihrem Tun dazu, dass Menschen gut und schön leben können. Im Moment tragen sie mehr als andere dazu bei, das Ziel der Verringerung der Kontakte zu erreichen. Das möchte ich ausdrücklich wahrnehmen und damit die Bitte verbinden, Möglichkeiten der Solidarität und Unterstützung zu suchen. Nicht nur einzelne, sondern die Gesellschaft als ganze hat ihnen viel zu (ver)danken!

7. Wir gehen auf den Advent und auf das Fest der Weihnacht zu. Die Menschwerdung Gottes stellt einen unüberbietbaren Kontakt her, den wir in zwischenmenschlicher Nähe in diesem Jahr so nicht abbilden können. Aber es steht nicht in Frage, dass Gott uns gegenüber auf jedes Abstandsgebot verzichtet. Damit wir dies im Dezember 2020 feiern können, mutet uns der November auch als Kirchen zu, unseren Beitrag zum Brechen der Corona-Welle zu leisten. Niemand wird darüber glücklich sein. Aber das Ziel, den Menschen die weihnachtliche Botschaft nahe zu bringen, ist, so denke ich, die Einschränkungen wert. „Mach’s wie Gott: werde Mensch!“ – so lautet eine zugegebenermaßen flapsige Zusammenfassung des Weihnachtsevangeliums. Einander Mensch zu werden und zu bleiben – das geht in diesen Tagen etwas anders. Aber das Ziel ist allemal zentral und anspruchsvoll genug.

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.