Predigt über Prediger 12,1-7 am 17. Oktober 2021 (20.S.n.Tr.) in der evangelischen Kirche in Mückenloch

17.10.2021

Merkwürdige Zeiten, in denen wir gerade leben! Alles im Umbruch. Die Pandemie nicht aus der Welt. Die Rückkehr in die Zeit davor ein vergeblicher Traum. Die Zeit danach steht noch irgendwie in den Sternen. – Und dazwischen die Visitation. Der Besuch aus der Landeskirche hier im Kirchenbezirk. Im Wissen, dass vieles nicht so bleiben wird, wie es war.

Merkwürdige Zeiten, finde ich. Politisch gerade alles im Fluss. Die Kirche in großen Prozessen der Veränderung. Die Terminkalender übervoll. Die Menschen irgendwie ungeduldiger und reizbarer. Der Umgangston wird rauher. – Und dazwischen die Visitation. Der Versuch, die Bindungen zwischen Gemeinden und Bezirk in den Blick zu nehmen und zu stärken.

Merkwürdige Zeiten. Und manchmal denke ich, so kann, so darf es nicht weitergehen. Irgendwie gefallen sie mir nicht, diese Zeiten. Und ich frage mich, wie der liebe Gott derzeit auf diese Erde blickt. Was er uns ins Stammbuch schreiben würde, wenn wir ihn darum bäten. Welchen Visitationseindruck er bei uns hier gewinnen würde.

Warum ich so frage? Der Predigttext für diesen 20. Sonntag nach Trinitatis spielt mir diese Frage zu. „Denk an deinen Gott, so beginnt er, „ehe die Tage kommen, von denn du sagen wirst: Sie gefallen mir nicht!“

Sind das also die Tage, in denen wir zur Zeit leben? Lebe ich in den Tagen, von denen wir sagen: „Sie gefallen mir nicht?“

Jetzt aber der Reihe nach. Im biblischen Predigerbuch schreibt einer, der die Summe seines Lebens zieht. Bilanz vor dem herannahenden Ende. Alt geworden ist er, dieser theologische Lehrer. Eine Art Lehrhaus, ein Bildungshaus hat er betrieben. Eine theologische Akademie, an der er junge Leute ausbildet.

Über viele Jahre hat er sie kommen und gehen sehen. Und je länger je mehr wird er immer skeptischer. Die Früchte seines Lebens faulen vor seinen Augen. Und Gott: Er ist im Himmel. Er, der Lehrer auf der Erde. Alles hat seine Zeit. Und seine Zeit als Lehrer, sie neigt sich dem Ende entgegen.

Ganz am Ende seines Lehrbuches, dem biblischen Predigerbuch zieht er eine ernüchternde Bilanz. Lasst dich warnen, schreibt er einem, der wohl sein Lieblingsstudent war: Es lohnt sich nicht. Alles ist eitel und vergeblich. Das viele Bücherschreiben – nicht das Papier wert. Das theologische Debattieren: Es macht nur müde. Mehr nicht! Lebe so, wie du meinst, dass Gott es von dir erwartet. Versuche, es Gott und den Mitmenschen recht zu machen. Das genügt. Alles andere kannst du vergessen. Es ist eitel und nichtig.

So hört sein Buch auf. Hier lebt einer in den Zeiten, von denen er nichts anderes zu sagen weiß, als: Sie gefallen mir nicht. Direkt vor diesem nüchternen Schluss steht der Text, der heute gepredigt werden soll. Eine letzte Ermahnung an seine jungen Schüler und Studenten. Da heißt es:

Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«; ehe die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne finster werden und die Wolken wiederkommen nach dem Regen –

·      zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind,

·      wenn finster werden, die durch die Fenster sehen,

·      wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leise wird und sie sich hebt, wie wenn ein Vogel singt, und alle Töchter des Gesanges sich neigen;

·      wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt und die Kaper aufbricht.

Denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse; – ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt. Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.

Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, ganz eitel.

Ich erschrecke fast, wenn ich diese Zeilen lese. So doch nicht, liebe Gemeinde! Mit leeren Händen steht dieser große Theologe am Ende da. Hat nichts mehr weiterzugeben an seine jungen Leute als ein „Lebt rechtschaffen! Auch wenn es nichts bewirkt. Alles ist eitel und vergeblich.“ Mit Ihnen zusammen will ich dagegen ansingen, dass es so ist, und Gott um seinen Beistand bitten!

EG 662,1: Schenk uns Weisheit

Merkwürdige Zeiten! Wenn einem Lehrer des Glaubens der Glaube durch die Finger rinnt. Wenn ein altgewordener Theologe eine so vernichtende Schlussblilanz zieht. Wenn einem, der so viele zur Bodenhaftung geführt hat, selber der Boden unter den Füßen wegbricht.

Hier spricht einer, dem sein Altwerden zu schaffen macht, heißt es bei manch klugen Auslegern dieser Stelle. Hier schreibt einer, dem die jungen Leute mit ihrer Weltsicht fern gerückt sind. Ich mag‘s nicht glauben.

Wer ein Leben lang mit jungen Leuten arbeitet, bleibt dabei selber jung, denke ich. Der verliert den Verbindungsfaden zu ihnen nicht so schnell. Ich vermute anderes. Und ich spüre anderes. Es ist nicht das Alter, zumindest nicht nur. Es sind die Zeiten, die sich gewandelt haben. Die nicht mehr so sind, wie dieser theologische Lehrer sie gekannt hat. „Ich versteh die Welt nicht mehr!“ – so würde ich seine Botschaft eher zu deuten versuchen. „Das Vertraute ist mir weggebrochen. Und das stattdessen neu Gewachsene lässt mich fremdeln.“

Dieser unbekannte Lehrer, dieser Prediger, dessen Buch es bis in die Bibel geschafft hat, war ein Skeptiker. Schon früher. Man muss nur die ersten elf Kapitel seines Buches lesen, muss zur Kenntnis nehmen, was er seinen jungen Studierenden beigebracht hat, das war auch nicht viel anders als das, was er am Ende schreibt. Gott und Mensch, Himmel und Erde – sie können eigentlich nicht zusammenkommen.

So jenseitig ist Gott für ihn, zeitlebens, dass ihn seine Einsamkeit am Ende frösteln lässt. Ja, merkwürdige Zeiten, auch schon vor mehr als 2000 Jahren. Ein eigenartig modernes Buch in der Bibel ist das. Ein Buch, in dem Gott kaum eine Rolle spielt. Und doch lässt ihn der Prediger nicht aus der Verantwortung. Nein, er schwört ihm nicht ab. Er stellt Gott nicht in Frage. Aber er warnt seine Schüler davor, sich aus der Verantwortung zu stehlen in dem Irrglauben, dass Gott es schon irgendwie für sie richten wird.

Ich gebe es zu. Ich bin ein Fan dieses Predigerbuches. Aber eben nicht, weil ich auch glaube, alles sei eitel. Oder weil ich auch der Meinung wäre, wir lebten in merkwürdigen Zeiten!

Nein! Nichts von beidem. Sondern weil dieser Lehrer Gott auch dann nicht den Abschied gibt, als er zu spüren meint, Gott sei auf dieser Erde überhaupt nicht präsent. Der Prediger glaubt nicht aufgrund eines frommen Gefühls. Das scheitert an der Einsicht, alle ist eitel. Der Prediger glaubt, weil er seine Grundentscheidung getroffen hat: „Ich will so leben, als sei Gott präsent. „Fürchte Gott und halte seine Gebote!“ schreibt er ganz am Ende.

Der Prediger lebt so, wie er glaubt, dass es im Sinne Gottes ist. Aus Einsicht. Und nicht aus Furcht. Der Prediger setzt auf das rechte Verhalten. Auf die Ethik, wie wir heute sagen würden. Und nicht auf religiöse Verschwörungstheorien. – Mit Ihnen und dem Prediger will ich dagegen ansingen, dass es so ist, und Gott um seinen Beistand bitten!

EG 662,2: Schenk uns Weisheit

So leben, dass es im Sinne Gottes ist – aus reifer Überzeugung und nicht aus Angst vor irgendeiner himmlischen Strafe. Nein, dieser große theologische Lehrer ist kein Fundamentalist. Er ist ein Realist. Kein himmlischer Fundi, sondern ein erdverbundener Realo.

Das gefällt mir. Damit kann ich auch Durststrecken durchstehen. Und merkwürdige Zeiten. Damit kann man auch bei einer Visitation bestehen. Nicht einfach nur machen, was immer schon so war. Das kann zwar guttun. Aber zu fragen, was im Angesicht Gottes sinnvoll ist. So zu leben, dass es im Blick auf die Ewigkeit der bessere Weg ist – das trägt der Prediger uns auf. Gerade in Zeiten, von denen wir sagen: Sie gefallen uns nicht.

Mit diesem Blick mag uns auch Gott visitieren. Mit diesem Blick mag Gott uns ermutigen, alles noch einmal in einem ganz anderen Licht zu sehen. Uns aus der Perspektive der Zukunft in den Blick zu nehmen. Nicht nur in der Kirche. Sondern überhaupt. Wie werden unsere Kinder und Enkel einmal auf uns blicken? Auf unser Tun und Lassen. Auf unser Abwarten und Handeln. Auf unsere Träume und unsere verpassten Gelegenheiten. Auf unsere schönen und auf unsere merkwürdigen Zeiten.

Gut, wenn ich dabei an die Quelle denke, aus der sich mein Leben speist. Gut, das Leben zu feiern, ehe sich anderes in den Vordergrund drängt. Und wenn Gott mir weit wegrückt und mein Glaube am seidenen Faden hängt – dann bleiben mir die Menschen an meiner Seite. Schwestern und Brüder – mit mir unterwegs. Dann bleibt mir der eine, in dem Gott mir ganz nahe kommt. Menschliches zu seiner Sache gemacht hat. Der eine, der mich einlädt, nicht mehr sein zu wollen als eben: ein Mensch!

Das Beispiel Jesu von Nazareth hilft mir, nicht bin die Altersresignation des Predigers zu verfallen. Nein, es ist nicht alles eitel. Auch nicht in merkwürdigen Zeiten. Da bin ich mir ganz sicher. Am Ende ist nicht nur der Himmel, sondern auch die Erde neu. Mit diesem Glauben bin ich unterwegs. Auch in merkwürdigen Zeiten. Mit diesem Glauben kann ich am Ende auch ans Ziel kommen. Weil Gott mir entgegenkommt. Sogar heute. Mit Ihnen will ich das Feiern. Und Singen. Und Gott um seine Weisheit bitten. Gerade in schwierigen Tagen und in merkwürdigen Zeiten. Amen.

EG 662,3+4: Schenk uns Weisheit

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.