Corona und der liebe Gott - Vortrag im Evang. Gemeindezentrum Neuendorf auf der Insel Hiddensee am 11. August 2021

11.08.2021

Einstieg

Ich bin kein Virologe. Ich bin kein Politiker. Ich bin Theologe! D.h. ich möchte das Thema Corona heute als theologisches Problem angehen. Ich möchte es als Herausforderung an meinen Glauben verstehen.

1. Corona als Ereignis und unser Deute-Bedürfnis

1. Die Pandemie hat uns – obwohl von Wissenschaftlern vielfach vorausgesagt – unvorbereitet getroffen. Das führt dazu, dass wir sie nicht nur medizinisch und politisch in den Griff bekommen wollen. Es gehört zu unserer menschlichen Grundausstattung, dass wir versuchen, diese Erfahrungen sinnvoll in unser Leben einzuordnen. Dazu nehme ich mindestens vier Wege an:

·      Weg 1: Corona als eine Strafe Gottes (wie vor Jahren auch schon in New Orleans: Hurrican Katrina 2005).
·      Weg 2: Die Pandemie als erwartete Erfüllung biblischer Voraussagen: vgl. die Offenbarung des Johannes am Ende der Bibel. Da passen dann die Brände und die Überflutungen bestens dazu. Aber schon seit den Tagen Noahs leben wir unter dem Zeichen des Regenbogen: „Ich will die Erde hinfort nicht mehr zerstören!“
·      Weg 3: Die Pandemie als ein von geheimen Strippenziehern nach einem genauen Plan gesteuertes Ereignis, gegen das wir uns zur Wehr setzen müssen.
·      Weg 4: Die Pandemie als ein rein binnenweltliches Ereignis, das mit unserem Gottesglauben zunächst nichts zu tun hat und das auch mit den Mitteln der Vernunft und der Politik überwunden werden muss.

Gottes Handeln aus den Abläufen der Geschichte herauszulesen und etwa auch eine Pandemie als göttlich gesteuertes Ereignis verstehen zu wollen, finde ich durchaus nachvollziehbar - und dennoch viel zu gewagt. Es ist eine Unmöglichkeit.

·      Das Gelingen der einen ist die Niederlage der anderen.

·      Die Opfer finden sich viel zahlreicher bei den Ausgegrenzten, Prekären und sozial Schwachen.

·      Gebetet wird oft auf beiden Seiten.

·      Gott ist nicht einfach der Gott der Erfolgreichen. („Erfolg ist keiner der Namen Gottes“!)

·      Gott ist oft gerade im Scheitern an meiner Seite.

Auch wenn sich eine Krisenerscheinung wie die Pandemie nicht als Ergebnis eines planvoll gesteuerten Handelns Gottes verstehen lässt, muss Gott in deren Bewältigung nicht außen vor bleiben. Es gehört es zu den Grundüberzeugungen des christlichen Glaubens, dass es keine Zonen oder Reservate unseres Lebens gibt, in denen der Gottesglaube keine Bedeutung hat.

Die Erfahrung von Bedrohung und Krisen verführt dazu, hinter der scheinbaren Sinnlosigkeit einen Plan zu erkennen, um die Situation besser zu ertragen. („Kontingenzbewältigung“)

·      Wir müssen damit leben, dass vieles in unserem Leben zufällig, ungerecht und sinnlos erscheint.

·      Dennoch kann unser Gottesglaube gerade in solchen Situationen hilfreich und lebensdienlich sein, indem Gott nicht außen vor bleibt.

·      Am Ende geht’s um Lebensdeutung (im Rückblick), nicht darum, Teil eines gigantischen Projektes Gottes zu sein.

2. Corona als Herausforderung an Theologie und Glauben

Corona fordert uns theologisch heraus. Teilweise hat die Pandemie auch unsere Theologie verändert. Ich will das an vier Beispielen erläutern.

Schöpfungslehre: Wir müssen einen Mythos aufgeben. Der Mythos lautet: Die Schöpfung ist von Gott gut inszeniert. Sie wäre auch immer in einer gelingenden Balance, wenn es den Menschen nicht gäbe. Die eigentliche Bedrohung der Schöpfung ist (nur) der Mensch! Stattdessen lernen wir: Die Schöpfung ist nicht einfach nur gut. Sie ist aus sich heraus doppeldeutig. Zu dem Auftrag, sie zu bebauen und zu bewahren kommt auch der hinzu, ihren bösen Anteilen Grenzen zu setzen.

Gotteslehre: Zur Frage nach Gott gehört immer auch die Frage: Warum lässt Gott, wenn er selber nur gut ist, das Böse zu?

Hier sind wir beim sogenannten Theodizee-Problem, bei der Frage danach, ob denn Gott gerecht ist, wenn es soviel Böses in der Welt gibt.

Der Erfinder des sogenannten Theodizee-Problems, der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes ist Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646 – 1716 / Leipzig, Hannover). Leibnitz geht davon aus, dass Gott unendlich viele Welten hätte schaffen können. Die, die er als einzige dann geschaffen hat, muss dann eigentlich, wie er sagt, „die beste alle möglichen Welten“ sein. Eine andere als diese wolle und könne Gott gar nicht habe schaffen wollen. Diese Vorstellung, in der besten aller möglichen Welten zu leben, hat die Menschen damals unheimlich beflügelt.

Aber dann fiel diese großartige Einsicht mit einem Mal in sich zusammen. Am 1. November 1755, morgens um 9.40 Uhr, ereignete sich eine der größten Natur-Katastrophen, die Europa bis dahin je getroffen hat: ein Erdbeben in Lissabon. Es hatte wohl den Wert 9 auf der Richterskala. Um 100.000 Menschen wurden getötet. Dieses Erdbeben schlug ein, so ähnlich wie der 11. September 2001. Oder eben wie die Corona-Pandemie. Jedes Mal heißt es: Danach war nichts mehr wie es war.

Der Optimismus von Leibnitz fällt mit einem Mal in sich zusammen. Die Menschen haben sich gefragt: Warum lässt Gott das zu? Sie stellten also die Frage nach der Gerechtigkeit des göttlichen Handelns. Das „Theodizee-Problem“ als eigenständiges Problem, von Theologie und Philosophie war geboren!

Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes ist also vergleichsweise jung. Viel älter ist dagegen eine andere Variante dieser Frage. Wenn wir danach fragen, ob Gott wirklich gerecht ist, fragen wir, warum Gott dem Bösen soviel Raum einräumt. Es geht also um die Macht, die das Böse in unserer Welt ausüben kann. Wir können die Frage „Warum lässt Gott das zu?“ also auch anders formulieren. Frühere Theologen haben diese Frage mit der einfachen Formel gestellt, die auf Lateinisch nur vier Worte hat: Si Deus unde Malum? Zu Deutsch: Wenn es Gott gibt, woher kommt dann das Böse? Es ist diese Frage, die viele Menschen theologisch auch im Blick auf Corona stellen.

Lehre vom Menschen, die Anthropologie: Die alte Theologie, teilweise auch noch der Pietismus – sie gehen von einem Prozess im Menschen aus, der als „Heiligung“ umschrieben wird, d.h. sie haben ein optimistisches Menschenbild, das darauf vertraut, das der Mensch und die Menschheit immer besser werden.

Luther bleibt bei einer radikalen Doppelexistenz: Simul iustus, simul peccator, gleichzeitig gerecht und Sünder. Die Möglichkeit, dass der Mensch Böse tut, ist nicht aus der Welt und aus eigener Anstrengung heraus nicht zu überwinden. Insofern sind wir bleibend gefährdet.

Die Sündenlehre: Sünde, ein meist aus der Theologie ausgeklammertes Thema. Wenige Anmerkungen: Es ist eigentlich eine Banalität – Sünde meint nicht, sich moralisch irgendwie zu verfehlen. Sünde meint ein aus egoistischen Motiven auf sich und auf die eigenen Möglichkeiten zu setzen und die Möglichkeit des Handelns Gottes zur Unmöglichkeit zu erklären.

Auch wenn die Schöpfung aus sich selber heraus nicht einfach gut ist: Corona hat sehr viel mit menschlichem Handeln zu tun, genauer gesagt mit menschlichem Handeln ohne Einsicht in die Folgen. Ich nenne nur die Stichworte: Globalisierung, Klimakrise, Ausbeutung der Natur, individuelle Bedürfnisbefriedigung.

3. Corona und die Gottesfrage: fünf Antwortversuche

Welche Antworten bleiben denn auf die Frage, in welchem Verhältnis die Corona-Pandemie zur Gottesfrage steht – ich will fünf Antwortspuren legen:

Antwort 1: Diese Frage darf man gar nicht stellen – die Strategie der Verdrängung

Natürlich befriedigt mich diese Antwort nicht. Denn das Böse geschieht doch kaum nach Gottes Willen. Gott hat Gutes im Sinn mit seiner Welt. Deshalb muss ich die Frage nach Gottes Gegenwart in Corona-Zeiten nicht aussparen.

Antwort 2: Es gibt gar keinen Gott – die Atheismus-Strategie

Ein Gott, der das Böse zulässt, kann es gar nicht geben. Das Böse ist also das stärkste Argument für die Bestreitung Gottes. Die Vorstellung eines Gottes, der das Böse zulässt, macht keinen Sinn. Da es aber das Böse unbestreitbar gibt, kann es keinen Gott geben. Das wäre ein Widerspruch in sich selber. Aber auch diese  scheinbar logische Folgerung stellt mich nicht zufrieden.

Antwort 3: Gott ist im Himmel und du bist auf Erde – die Strategie der getrennten „Welten“

Das biblische Predigerbuch geht mit diesem Satz nicht ganz so weit wie der Atheismus. Aber seine Botschaft lautet auch: Das Leben auf der Erde müsst ihr alleine bewältigen. Gott, ja den gibt es, aber er greift in euer Leben nicht ein. Sein Handlungsfeld ist der Himmel. Das eure, das ist die Erde. Wenn es euch da also schlecht geht, ist Gott nicht im Spiel. Da seid ihr schon selber verantwortlich.

Antwort 4: Der Mensch braucht „Bewährungsräume“, um zu reifen: Klagen, Fragen, das „dennoch“ des Glaubens aushalten

Ich traue das Gott ehrlich gesagt nicht zu. Gott stürzt niemanden ins Verderben – nur um zu testen, wie lange ein Mensch durchhält. Auschwitz – ein göttliches Testprogramm – das will ich nicht glauben. Corona – ein himmlisch initiierter Härtestest? Wo immer das Böse herkommt – Gott ist nicht der Verursacher dieses Unrechts. Da bin ich mir sicher.

Antwort 5: Gott hat dem Menschen größtmögliche Freiheit zugestanden - die Strategie der Anerkennung der Freiheit als Grundbestimmung menschlicher Existenz.

Dieser Satz ist ein Teil der Lösung. Die Ursache des Bösen liegt bei uns Menschen. Und Gott greift nicht ein, weil er uns Menschen frei erschaffen hat. Gott will keine Marionetten. Gott nimmt unsere Gottebenbildlichkeit, Gott nimmt unsere Würde ernst. Gott gängelt uns nicht. Und die Hölle – die richten wir uns selber zu.

Kein Zweifel – wir hätten es gerne anders. Wir hätten gerne die beste aller möglichen Welten, wie der Philosoph Leibnitz das genannt hat. Die haben wir auch. Aber eine bessere Welt als die gegenwärtige ist dennoch möglich. Wenn wir sie in Freiheit dazu weiterentwickeln. Gottes Beitrag dazu – das ist die Freiheit, die er uns als Rahmen gegeben hat.

4. Bleibende Einsichten über Gott

Am Ende fünf Grundeinsichten über Gott, die bleiben – auch in und mit Corona! Fünf Einsichten - in fünf Sätzen:

Satz 1: Gott hat Corona nicht verursacht. Allgemeiner formuliert: Gott verursacht das Böse nicht! Das ist mein fester Glaube. Gott prüft uns nicht in irgendwelchen Erprobungsräumen. Gott trägt uns nicht auf, durch unser Leiden zu reifen. Vielmehr gilt: Gott will, dass alle Menschen gerettet werden!“

Satz 2: Wir leben in der – theologisch gesprochen - noch nicht erlösten Welt. Viel zu viel gibt es, das uns fragen und das uns leiden lässt. Nicht selten kostet das Menschen auch ihr Leben. Paulus spricht vom „Seufzen der Kreatur“ (Römer 8,22). Da steht also noch etwas aus. Da gibt es noch eine Lücke, ja einen breiten Graben zwischen dem Ist-Zustand und dem, wie die Welt nach Gottes Willen sein könnte. Da bleibt uns noch einiges aufgetragen: an Hoffnungspotential und an Mitgestaltung an Gottes guter Schöpfung!

Satz 3: Gott ist auch als Verborgener Gott! Gott ist als Gott nicht immer erkennbar und sichtbar. Gott tritt uns nicht einfach als Lösung aller Rätsel unseres Lebens entgegen. In seiner Menschwerdung macht Gott sich den Zustand der Welt zu eigen. Unser Zweifeln und Suchen, unser Klagen und Leiden werden so zu Gottes Sache. Gott hilft uns, die Frage nach seiner Gerechtigkeit auszuhalten. Gott hält sie mit uns aus!

Satz 4: Der Umgang mit der Frage nach dem Handeln Gottes in der Corona-Pandemie kann sich am Ende auch zum Gebet an Gott verwandeln! Die neutrale Frage: Warum lässt Gott das zu? kann sich wandeln zum Gebet: Warum lässt du, Gott, das Böse, auch Corona, in der Welt zu? Warum greifst du nicht ein? Der Glaube an Gott spielt sich nie auf der Tribüne des Lebens ab. Wir sind nicht Beobachter. Wir sind - mit unseren Fragen, mit unseren Erfahrungen, mit unserem Leiden – tief in das Leben hinein verwickelt und verwoben. Gott ist nicht länger nur Gegenstand unseres Nachdenkens. Gott ist unser großes Gegenüber. Ziel unseres Singens und unseres Feierns.  Unserer Bitten und unseres Dankes. Unseres Lobes und unserer Klagen.

Satz 5: Ich kann im Rückblick auf schwierige Etappen meines Lebens oder auf mein Leben im Ganzen dennoch zu einer Haltung der Dankbarkeit gelangen. Die bedrohlichen Erfahrungen sind nicht alles, was mein Leben ausmacht und prägt. Die Erfahrung der Gegenwart Gottes deutet den Urgrund meines Seins, lässt sich aber nicht logisch aus Einzelerfahrungen ableiten. Gotteserfahrungen sind in aller Regel deutende Erfahrungen im Rückblick!

 

Schluss

Corona und der liebe Gott! Gott ist also nicht der Urheber von Corona. Aber wir sind in Corona auch nicht alleingelassen. Das ist wie in der alten bekannten Legende, mit der ich meine Überlegungen abschließe:

Da geht ein Mann in ein Geschäft. Dort bedient ihn ein Engel. „Mein Herr“, sagt der. „Bei uns gibt es alles, was sie wollen Der Kunde unterbricht ihn: ... „ „Dann hätte ich gerne Frieden und Gerechtigkeit, eine unversehrte schöne Welt, ewiges Leben, das Ende von Corona ...“ „Halt!“ unterbricht ihn da der Engel: „Ich war noch nicht fertig. Wir verkaufen hier nicht die reifen Früchte. Wir verkaufen nur den Samen!“

Den Samen also hat Gott in uns gelegt. Als Wissen, was gut und böse ist. Als Sehnsucht nach einer anderen Welt. Viele Möglichkeiten hat Gott uns gegeben. Auch Möglichkeiten, Corona in den Griff zu bekommen. Corona zu leugnen ist keine von ihnen. Denn die Umsetzung dessen, was wir uns wünschen, die hat er uns selber als Aufgabe und als Auftrag anvertraut.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.