Geistliches Wort zu Hesekiel 34,1-2.10-16.31 zum Sonntag Misericordias Domini

18.04.2021

Eigentlich unvorstellbar – die Schafe mucken auf! Sie bleiben nicht mehr still im Pferch. Sie blöken gegen das Einheits-Mäh, mit dem sie sich so lange zufriedengegeben hatten. Sie verbünden sich zu kleinen Gruppen von Gleichgesinnten und scheren sich nicht um ihre Hirten. Sie wollen aufhören, nur ein dummes Schaf zu sein.

Die Zeit der aufmuckenden Schafe, das ist unsere Zeit! Nicht erst seit Corona. Schon längst vorher. Ein Schaf zu sein, abhängig vom Schutz und der Fürsorglichkeit eines anderen. Verzweckt zu werden für die Produktion von Fleisch und Wolle, das scheint längst keine Möglichkeit mehr für uns selbstbewusste, auf ihre je persönliche Eigenheiten stolze Einzelexemplare. Ein Herdentier zu sein – nein danke! Wo die Schafe den Aufstand wagen, ist für ihre Hirten die Uhr abgelaufen. Das Bild von den Schafen und ihrem Hirten – es ist ein Bild, das seine Zeit hatte.

Wirklich? Nein! Der Abgesang beschreibt nur die eine Seite der Wirklichkeit. Die andere: Unausrottbar ist das Bild des fürsorglichen Hirten in der Welt. Ihm ist eine urtümliche, fast archaische Würde zu eigen. Gerade so als ob es so etwas wie eine versteckte Sehnsucht gäbe, einfach einmal nur Schaf zu sein. Und sich bedingungslos einem Hirten anvertrauen zu können. Pastorinnen und Pastoren, zu deutsch nichts anderes als Hirtinnen und Hirten, sind nicht arbeitslos geworden in den letzten Monaten – im Gegenteil. Wo die Pandemie die Menschen in unübersichtliches und unwegsames Gelände treibt, bleiben die Hirtinnen und Hirten ganz gleich welcher Couleur gefragt. Mehr noch: Auf den Hirten, auf die Hirtin kommt es zusehends wieder ganz neu an. Selbst in der Politik ist das so. Die Suche nach Hirtinnen und Hirten, die uns wohlbehütet durch diese Zeiten bringen, ist unübersehbar. Und die Bilder des Streites derer, die ein politisches Hirtenamt in unserem Gemeinwesen anstreben, sind uns tagelang in jeder Nachrichtensendung vor Augen gestellt worden. Dass es auf die Person mehr ankomme als auf das Programm, darauf haben die Gefolgsleute des einen wie des anderen hingewiesen.

Wichtig ist vor allem: Hirtin oder Hirte ist niemand für sich, sondern immer für andere. Hirten, die sich selber weiden, das ist ein Widerspruch in sich. Nicht die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen, sondern die fremdem, ihnen anvertrauten Schafe ans frische Wasser zu führen, das ist ihr Auftrag. Nicht umsonst hat die unverfroren-schamlose Gier, die sich aus der Notwendigkeit, schützende Masken zu tragen, das eigene Säckel zu füllen gedachte, soviel an Entsetzen und Abscheu hervorgerufen. Auch sie - Hirten, die sich offenkundig selber geweidet haben. Gegen eine solche Haltung erhebt Hesekiel Einspruch - im Namen Gottes. Hirten, die sich selber weiden – ein Urteil, das klarer ausspricht, was im Argen liegt, ist kaum vorstellbar.

Hirtin zu sein oder Hirte, ehrenamtlich oder hauptamtlich, Verantwortung zu tragen für das Wohlergehen anderer, das ist Zumutung und nicht selten Überforderung – und doch zugleich auch Privileg und Auszeichnung. Es fällt schwer, dieser Aufgabe wirklich gerecht zu werden, wäre am Ende nicht ein anderer uns Hirte und Hirtin zugleich – Fürsprecher und Bewahrerin, die Wege bereitend und dem Bösen widerstehend. Hier kommt der Prophet in Gottes Namens ins jubelnde Straucheln seiner Zunge: „Erretten und herausführen“ will dieser eine Hirte, „sammeln und weiden“ will er die ihm Anvertrauten. „Gute Auen“ und „fette Weiden“ werden sie haben, und als „Verirrte“ werden sie nicht verloren gehen: „Ich will sie weiden, wie es recht ist!“

Das Beispiel des großen Hirten ist keines nur für amtlich besoldete Nachfolgerinnen und Nachfolger. Einander Hirtin und Hirte sein – das ist die gut protestantische Währung des Priestertums aller, gewechselt in die kleinen Münzen des Alltags von jedermann und jederfrau. Einander Hirtin und Hirte sein – das kann ich gleich an der nächsten Straßenecke üben, im Supermarkt und im Spaziergang mit der Wutentbrannten wie mit dem von Einsamkeit Gezeichneten. Einander Hirtin und Hirte sein – das ist das hohe Amt der Stellvertretung für die, deren Niedrigkeit Gott angesehen hat. Das ist solidarisches Eintreten um Gottes Willen zugunsten der Menschen.

Was aber wie ein vernichtendes Urteil über die aussieht, die Verantwortung getragen haben vor zweieinhalbtausend Jahren, könnte für uns die Türen ins Leben öffnen. Einander Hirtin und Hirte sein, das meint auf der anderen Seite, sich auch als Schaf aufeinander verlassen zu können. Nicht widerspenstig, sondern einfach dankbar. Nicht aus der Zeit gefallen, zurück in eine für überwunden gehaltene Rolle, sondern getragen und gehalten gerade dann, wenn mich anscheinend nichts mehr hält und mir das Heft des Handelns aus der Hand gerissen ist.

Kein Wunder, dass uns – gerade zwei Wochen nach Ostern - im Bild des Hirten dieser eine Hirte vor Augen steht. Der, der seine Freundinnen und Freunde nicht der Zerstreuung überlässt wie Schafe, die keinen Hirten haben. Der, der im Tod die Lebenden sammelt und zum guten Hirten wird für viele.

Schafe, die blöken gegen den Tod und gegen alle Resignation – davon kann es nicht genug geben. Und Hirtinnen und Hirten in der Nachfolge dieses einen, das ist für uns die Möglichkeit, die uns in die Verantwortung stellt und uns - österlich beflügelt - zum Leben befreit.

 

Gebet
Nein, Gott, kein dummes Schaf unter Schafen möchte ich sein, sondern einzigartig von dir geschaffen und gemeinsam unterwegs mit vielen Schwestern und Brüdern.

Trotzdem, Gott, mögest du meinen Blick zu denen lenken, die angewiesen sind auf ein gutes Wort, und die unter die Räder der Einsamkeit zu geraten drohen in diesen Zeiten, in denen wir Menschen uns einander gegenseitig vom Leib halten, als hättest du uns nicht gerade dafür geschaffen, mit unserer Nähe deiner Nähe Gestalt zu verleihen. 

Womöglich, Gott, ist es dein Wille, dass ich beides sein darf: schutzbedürftig wie ein Schaf auf der Weide und mit den Menschen an meiner Seite zugleich ein Schutzwall gegenüber allem Bösen für die, über die manche so gerne herfallen.

Ja, Gott, mein guter Hirte könntest du sein, schützend deine Hand über mich haltend und mir Freiraum zum Leben gewährend

Danke, Gott! Amen.

 

Lied
Ich möcht', dass einer mit mir geht,
der's Leben kennt, der mich versteht,
der mich zu allen Zeiten kann geleiten.
Ich möcht', dass einer mit mir geht.

Ich wart', dass einer mit mir geht,
der auch im Schweren zu mir steht,
der in den dunklen Stunden mir verbunden.
Ich wart', dass einer mit mir geht.

Sie nennen ihn den Herren Christ,
der durch den Tod gegangen ist;
er will durch Leid und Freuden mich geleiten.
Ich möcht', dass er auch mit mir geht.

EG 209, 1.2+4 (Text und Melodie: Hanns Köbler 1964)

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.