Predigt im Gottesdienst mit Corona-Gedenken in der Heiliggeistkirche in Heidelberg

18.04.2021

Liebe Gemeinde!

Erinnern schmerzt. Erinnern heilt! – Dem Erinnern können wir gar nicht entgehen. Gerade heute nicht. Dieser heutige Sonntag, dieser 18. April 2021 ist ein Tag des Erinnerns. Zentral in Berlin, aber auch an vielen anderen Orten unseres Landes erinnern sich Menschen der Opfer dieser Pandemie. Es ist ein Erinnern auf dem Weg. Wir sind noch nicht am Ende. Nicht mit dem Erinnern. Hoffentlich auch nicht mit unserer Kraft zum Widerstehen.

Erinnern schmerzt. Erinnern heilt! Heilen können die alten bergenden Texte, die uns heilsame Orte zeigen. Orte, an denen sich das Erinnern aushalten lässt. In der schützenden Gemeinschaft der Menschen an unserer Seite. Im Vertrauen auf die fürsorgliche Kraft derer, die anderen beistehen. Die ihnen den Weg weisen durch all die Unübersichtlichkeit. Durch alle Überforderung. Auch durch alle Verzweiflung bisweilen.

Heute geht’s – in der Lesung, die wir eben gehört und ebenso im Lied – um Hirten und Schafe. Und mehr als um die Schafe soll’s heute um die Hirten gehen. Ein gefährliches Terrain, gerade heute über Hirten zu sprechen. In Zeiten, in denen die Hirtinnen und Hirten den Weg selber oft nicht mehr zu kennen scheinen, der in die Zukunft führt.

Eine einzige Hirtenschelte ist dieser Text aus dem Mund des Propheten Hesekiel. Kein sorgsames Unterscheiden zwischen guten und schlechten Hirten. Nein, das Urteil ist verheerend! Nicht weil sie’s womöglich nicht ganz gut gemacht haben – nein, weil sie in Wahrheit, so Hesekiel, gar keine Hirten sind. Ätzend-kritisch nimmt er sich die zur Brust, die den Ansprüchen an ihr Hirtenamt nicht genügen. Vor zweieinhalbtausend Jahren wohlgemerkt. Nicht heute.

Dennoch höre ich das Schimpfen nicht weniger in meinen Ohren. Mit teils verzweifelten, teils unflätigen Worten, die anderen  jegliche Kompetenz absprechen. Sie anklagen. Sie nicht selten beleidigen. Es trifft politisch Handelnde ebenso wie Menschen in der Wissenschaft. Es trifft die Kirche wie die Medien.

Kein Wunder, denke ich – wenn doch der liebe Gott selber mit diesen Worten beinahe irgendwie querdenkerisch daherkommt und die bloßstellende Rede nicht scheut. Doch Vorsicht. Die Linie lässt sich nicht so einfach ziehen von denen, die der Prophet im Blick hat, zu denen, die heute mit Gift und Galle überzogen werden. Da könnte uns ein anderer Blick weiterhelfen – der Blick auf ein Ereignis mittendrin. Auf der Zeitachse zwischen Hesekiel und der Gegenwart. Eine kleine Hirtenschule, an die die Erinnerung aus guten Gründen lohnt.

Erinnern schmerzt. Erinnern heilt! Zweitausend Jahre nach Hesekiel nimmt da einer wieder einmal kein Blatt vor den Mund. Heute auf den Tag vor 500 Jahren war das. Am 18. April 1521. Keine 50 Kilometer von hier. In Worms. Vor Karl V., dem Kaiser und Nuntius Aleander, dem Vertreter des Papstes. Vor den Vertretern der Reichsstände und den Landesherren.

Ich meine Martin Luther. Mit denen, die er für seine Gegner hält, geht er oft nicht gerade zimperlich um. Die Art und Weise, wie er sein Hirtenamt versteht, kommt auch bei ihm nicht selten polemisch, beinahe irgendwie querdenkerisch daher.

Heute vor 500 Jahren war alles anders. Luther soll widerrufen. Auf der ganzen Linie. Er braucht zunächst Bedenkzeit. Es gehe ja gar nicht allein um ihn. Von seiner Antwort hinge das Schicksal der ganzen Kirche und das Seelenheil aller Gläubigen ab. Ein Hirte, wer nicht nur an sich selber und an seine eigenen Quoten denkt. Einem Hirten geht’s immer ums Ganze.

Einen Tag später, heute vor 500 Jahren, führt er dann aus: „Wenn ich nicht durch die Zeugnisse der Schrift und klare Gründe der Vernunft widerlegt werde, will ich nicht widerrufen. Gott helfe mir.“ Der Hirte des Glaubens fragt nicht nach der Macht. Der wahre Hirte vertraut der Gabe der Vernunft. Und in diesem Sinn der heilsamen Kraft des Glaubens.

Selbst in Pandemie-Zeiten war Martin Luther ein vorbildlicher Hirte. Als sechs Jahre später in Wittenberg die Pest ausbricht, setzt er auf beides: auf die Vernunft zum einen. Indem er rät, das Haus zu räuchern. Der Medizin zu vertrauen. Und Abstand zu halten – „so dass ich meinen Nächsten nicht durch meine Nachlässigkeit Ursache zum Tode werde.“

Und er baut auf seinen Glauben und schreibt weiter: „Tue die fleischlichen Augen zu, und die geistlichen auf, und sprich: Ich habe einen Herrn, der mit einem Wort diesem Unrat allem wehren kann. Was will ich mich darum so sehr bekümmern? Gott gebe uns solche geistlichen Augen um Christi Willen, dass wir durch den Heiligen Geist das Unglück anders denn die Welt ansehen, und solchen Trost behalten, und endlich mögen selig werden!“

Erinnern schmerzt. Erinnern heilt! Auch in diesen Hirtenworten. Sie rufen mir erneut die Hirten-Worte des Hesekiel in Erinnerung: „Ich will das Verlorene suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken.“ Das sagt Hesekiel damals.

Die Hirtinnen und Hirten heute. Sie sitzen also wahrhaftig nicht nur an den Schalthebeln der Macht. Auch nicht nur unter den Kirchtürmen. Doch, da hoffentlich auch! Sie sitzen nicht zuletzt am Krankenbett und arbeiten auf Intensiv.  Sie tragen Schutzkleidung und riskieren ihre eigene Gesundheit. Sie weinen mit den Weinenden und sie lachen mit den Lachenden.

Einander Hirtin und Hirte sein, darauf käme es an in diesen besonderen Zeiten. Einander Hirtin und Hirte sein – dazu verhilft uns die Kraft des heilsamen Erinnerns.

Kein Wunder, dass mir – gerade zwei Wochen nach Ostern - im Bild des Hirten dieser eine Hirte vor Augen steht. Der, der seine Freundinnen und Freunde nicht der Zerstreuung überlässt wie Schafe, die keinen Hirten haben. Der, der im Tod die Lebenden sammelt und zum guten Hirten wird für viele. Der, auf den ich mich verlassen möchte gerade heute. Wenn das Erinnern schmerzt. Damit ich im Erinnern heil bleibe und getröstet. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.