Predigt im Gottesdienst zur Eröffnung der 1. außerordentlichen Tagung der 13. Landessynode anlässlich der Wahl eines Landesbischofs/einer Landesbischöfin am 16. Dezember 2021 im Lichthof des Dienstgebäudes des Evangelischen Oberkirchenrats

16.12.2021

Liebe Synodalgemeinde!

Natürlich bin ich schon einem Engel begegnet! Mehr als einmal. Engel gehören zu meinem Leben dazu. Oft merke ich es gar nicht, dass es ein Engel war, der mir begegnet ist. Als Schutzengel. Oder als Warnengel. Als Botin oder Bote einer guten Nachricht. Als jemand, der mich in den Arm nimmt. Meinen Frust mit aushält. Meine Tränen trocknet. Gerade zur rechten Zeit.

„Du bist ein Engel!“, sage ich dann manchmal. Oder jemand sagt es zu mir. Und ich zucke richtig zusammen.

Aber dann gab‘s da auch – die ganz seltenen, aber ganz überwältigenden - Momente. Da ist es mir dann mit einem Mal wie Schuppen von den Augen gefallen, dass es da irgend jemand richtig gut mit mir gemeint hat. Und dass da mehr war als ein Zeichen der Mitmenschlichkeit. Dann, wenn sich himmlische Leichtigkeit eingestellt hat. Und im Dickicht des Lebens plötzlich Durchkommen war. Und da war niemand sonst. Oder eben – unsichtbar oder einer Form von Blindheit für das Wesentliche geschuldet übersehen – eben ein Engel. Arm wäre mein Leben, rechnete ich nicht mit dem Engel an meiner Seite.

Maria, so denke ich, wird es kaum anders gegangen sein. Damals, im bis dahin sicher größten Moment ihres Lebens. So groß, dass dieser Moment in diesem Jahr mit einer eigenen Briefmarke gewürdigt wird. Briefmarken sind ja Beleg für die Denkwürdigkeit großer Momente. Zumindest solange noch Briefe geschrieben und Karten versendet werden, ist das noch so.

Die 80-Cent-Wohlfahrtsmarke der Deutschen Post für die Weihnacht 2021 zeigt einen Engel. Und in das Bild hineingedruckt die Engelsbotschaft schlechthin: „Fürchtet euch nicht!“ Die Ankündigung der Geburt Jesu durch den Engel. Die nächtliche Verkündigungsszene auf den Hirtenfeldern vor Bethlehem. So dachte es sich das Grafikbüro, das die Marke entworfen hat. Und die Deutsche Post hat’s unbesehen geglaubt.

Das Bild des unbekannten Allgäuer Barock-Malers Johann Michael Hertz aus dem 18. Jahrhundert zeigt den Engel aber in anderer Aktion. Es ist der Engel in der Begegnung mit Maria, der großen Engelsgeschichte aus Lukas 1, die wir eben als Lesung gehört haben.

Der Engel auf der Briefmarke trägt nämlich eine Lilie in der Hand. Und das ist in unzähligen Bilddarstellungen das Erkennungszeichen des Verkündigungsengels an Maria. Die Lilie gilt als Zeichen himmlischer Reinheit. Die Post hat ihre erklärenden Worte zum Bild inzwischen angepasst. Aber diese aktuelle Episode eines kleinen Irrtums zeigt: Die Kompetenz, religiöse Bildmotive zu deuten, schwindet mit dem Verlust der Kenntnis biblischer Geschichten. Und längst sind deshalb die Deute-Engel ganz besonders gefragt. Und sie kommen ihren Aufgaben kaum mehr nach.

Der Engel auf der Briefmarke lässt sich an der Lilie erkennen. Wenige Tage vor Weihnachten stellt sich diese Frage aber doch noch viel grundsätzlicher. Woran lässt sich ein Engel erkennen? Oder: Woran erkenne ich meinen Engel?

Ein unveränderliches Kennzeichen der Engel, so wie sie in biblischen Geschichten beschrieben werden, ist ihre Kernbotschaft: „Fürchte dich nicht!“ Das hat sogar der Grafiker der Briefmarke erkannt. Auch wenn er seines Irrtums wegen die Mehrzahl verwendet. Und „Fürchtet euch nicht!“ auf die Briefmarke schreibt.

Engel vertreiben die Furcht. Sie räumen die Hindernisse aus dem Weg. Sie bahnen einen Weg ins Neuland der Zukunft.

Aber der Engel, der Maria begegnet, kommt so typisch daher wie sonst kaum in einer anderen Begebenheit. Auch ohne Lilie in der Hand ist er unschwer als Engel zu erkennen. Sein Gruß setzt die, denen seine Botschaft gilt, ins Licht. Macht sein Gegenüber groß. „Gnadenreiche“ nennt er hier Maria. Er setzt die ins Zentrum, die von sich glaubt, dass sie nichts vorzuweisen hat.

Der Engel schleicht sich nicht einfach in das Leben der Maria hinein. Er macht sich bemerkbar. Er grüßt – und nicht ohne Grund in derart würdigender Weise. Er räumt die Furcht voller Absicht beiseite. Die Worte des Engels machen frei, einen großen Schritt zu wagen. Sie nehmen in Beschlag. Sie muten zu. Sie sprechen eine Beauftragung aus. „Du wirst ein Kind gebären!“, sagt der Engel mit der Lilie. „Ihr werdet finden!“ sagt er, als er den Hirten erscheint.

Wer seinem Engel begegnet, geht das Risiko des Neuanfangs ein. Das war für Maria nicht anders als für die Hirten. Und das ist heute kaum anders als damals. Wenn ich meinen Engel zum Zug kommen lasse, gehe ich in einer neuen Spur weiter. Oder nehme endlich wahr, welche Möglichkeiten Gott in mich gelegt hat.

Wer ist mein Engel der Weihnacht 2021? – so frage ich mich. Wie würde er mich begrüßen? Wozu würde er mir Mut machen? Aus welcher Spur mich herausreißen?

Auch als Mitglieder der Synode haben sie bisweilen Engelspflichten. Geben mitten in allen Strukturprozessen den Menschen die Botschaft weiter: „Fürchtet euch nicht! Auch wenn vieles sich ändert und manch neue Wege zu gehen sind.“ Mitten in der Erfahrung, dass wir weniger werden, kann ihr „Fürchtet euch nicht!“ die Menschen aufrütteln und ihnen Mut machen. Und ihnen womöglich auch einen Zipfel der Erkenntnis ermöglichen, wie gut es tut, ein Synodenengel zu sein.

Und inmitten großer Wahlentscheidungen gilt das „Fürchtet euch nicht!“ der Engel auch Ihnen als Synodale. Gottes mittragende Engel machen keinen Bogen um dieses Haus. Und machen manche Last erträglich.

Was tröstlich ist und befreiend: Ich muss meinen Engel nicht herbeibeten. Engel nehmen sich bisweilen die Freiheit, einfach so zu erscheinen, unbestellt und uneingeladen. Und wenn ich mich am Tag nicht auf sie einstelle, dann erscheinen sie bei Nacht. Im Traum. Wie dem Joseph, dem Mann der Maria. Die Botschaft des Engels – sein „Flieht nach Ägypten!“ - lässt aus den Dreien eine Flüchtlingsfamilie werden. Und bringt sie gerade so in Sicherheit. Die Botschaft des Engels an die Sternenkundigen aus dem Osten, sein „Nehmt einen anderen Weg!“ – lässt sie einen Umweg machen. Und gerade so sicher wieder ans Ziel kommen.

Woran erkenne ich meinen Engel, habe ich vorhin gefragt. Ich erkenne ihn daran, dass er meinen Blick weitet. Und mich über den Horizont des Vorfindlichen hinausschauen lässt. Engel bringen Gott und Mensch miteinander in Verbindung. Genau darum, glaube ich, haben Engel an Weihnachten Hochkonjunktur. Genau darum sind Engels aus dem weihnachtlichen Geschehen nicht wegzudenken.

Gott und Mensch in Verbindung – mit dieser Botschaft rücken die Engel an Weihnachten aber mit einem Mal in die zweite Reihe. Lernen zusammen mit Maria und Joseph, mit den Hirten und Königen das Staunen.

Gott und Mensch in Verbindung – diese weihnachtliche Einsicht macht sich an der lebendigen Unbedarftheit und zugleich Weltzugewandtheit dieses Kindes im Stall von Bethlehem fest.

Gott und Mensch in Verbindung – das macht die Engel nicht überflüssig. Im Gegenteil. Brückenbauer sind sie. Deuterinnen und Deuter unseres Lebens. Bürginnen und Bürgen der Gegenwart Gottes mitten in dieser Welt.

Schon allein deshalb will ich ohne Engel nicht leben.  Schon allein deshalb freue ich mich über diese Briefmarke. Selbst der verwechselte Engel kann in diesem Jahr seine Botschaft an die Frau und den Mann bringen. „Fürchtet euch nicht!“ – wie wohltuend, dass der entscheidende Satz die Empfängerinnen und Empfänger unzähliger Briefe schon ins Herz treffen kann, noch ehe sie den Brief überhaupt geöffnet haben. So kann selbst der Briefträger ganz unerwartet zum Engel werden kann.

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.