Geistliches Wort zum Ewigkeitssonntag über Jesaja 65,17-25

21.11.2021

Eine ganze Weile hatte ich dem Disput der beiden schon zugehört. Um Gott und die Welt ging‘s den beiden, die im Zug auf der anderen Seite des Gangs saßen. Plötzlich der Satz: „Die Kirche ist doch das Letzte!“ Die Frau sprach diese Worte aus, voller Emotionen. Wie ein endgültiges Urteil. Was für Erfahrungen da dahinterstecken, habe ich mich gefragt. Und gedacht: Es ist doch auch ein Urteil über dich! Jahrzehnte meines Lebens und viele Stunden beinahe jeden Tag bringe ich in dieses „Letzte“ ein. Die Empörung legt sich schnell. Ich kann diesen Satz doch auch anders hören, dachte ich plötzlich. Wie gut, wenn die Frau Recht hätte. Wenn die Kirche das Letzte wäre, was Menschen bliebe, wo’s doch tatsächlich drunter und drüber geht in der Welt. Und im Leben vieler Menschen.

Um das Letzte geht’s auch an diesem Sonntag, dem letzten im Kirchenjahr. Um letzte Fragen geht es. Schließlich ist Ewigkeitssonntag. Menschen gehen in die Gottesdienste, um dort womöglich ein letztes Mal den Namen eines lieben, für sie wertvollen  Menschen zu hören, begleitet von einer entzündeten Kerze und von der Fürbitte für die, die nun um einen Menschen ärmer im Leben zurückbleiben.

Um die letzten Fragen geht es an diesem Sonntag. Um die Frage, was am Ende bleibt. Von denen, die vor uns gelebt haben. Auch von mir selber. Vor kurzem saß ich vor dem Beginn einer Beerdigung auf der Bank vor der Friedhofskapelle. Eine Frau setzt sich neben mich. „Er“ - gemeint der hochbetagte Mann, der gleich beerdigt werden sollte – „hat doch ein langes Leben gehabt. Aber ich muss immer daran denken, dass mich das auch irgendwann trifft. Ich will doch noch lange leben!“ Um die letzten Fragen kommen wir nicht herum. Am letzten Sonntag des Kirchenjahres schon gar nicht. Es ist der Sonntag der Erinnerung an diese letzten Dinge. Und von den Hoffnungen auf Leben, die damit verbunden sind.

Vom Letzten lässt sich am besten in Bildern reden. So, wie’s der Predigttext zum Sonntag tut. Ein uns unbekannter Prophet fühlt sich vom Vorletzten überrollt. Gut, viele Menschen aus der israelitischen Oberschicht haben aus dem Exil in Babylon zurückkehren dürfen. Der neue Herrscher, der Perserkönig Kyros, ordnet nach seiner Machtübernahme die Verhältnisse neu und schafft sich einige der von den Babyloniern geerbten Probleme vom Hals. Dazu gehören die Angehörigen dieses fremden Volkes, das sich zwar zu integrieren sucht, aber größtenteils vor Ort eben nicht neu Heimat findet.

Die vom Rückkehrerlass des Kyros in die Freiheit Entlassenen kehren nicht in die paradiesische Welt zurück, von der sie geträumt und die sie in ihren Liedern besungen hatten. Die Äcker liegen brach. Die Häuser sind zerfallen, oder sie werden längst von anderen Menschen bewohnt. Die Wirklichkeit ist meist unbarmherziger als die Zukunft, die wir uns ausmalen.

Gerade deshalb brauche ich diese Bilder in meiner Seele. Vorweggenommene Zukunft. Die Welt, so wie sie sein könnte. Der unbekannte Prophet ist kaum zu stoppen. Aus seinen Zukunftsträumen kann man schließen, wie unbarmherzig er die Gegenwart für sich erlebt. Kinder, die nicht mehr vorzeitig sterben. Alte Menschen, deren Leben sich erfüllt. Der Himmel ganz nah auf Erden. Sogar in der Tierwelt. Der Kampf aller gegen alle hat ein Ende. Nicht nur die Fittesten überleben. Zukunft haben alle. Ohne sie sich auf Kosten anderer erkämpfen zu müssen.

So viel anders würde der Prophet heute gar nicht schreiben. Intensivstationen, die sich zu Oasen der Erholung verwandeln. Grenzzäune, die in sich zusammenfallen und den Blick in die Weite der Schöpfung hin öffnen. Kriegsgeschrei, das sich mit einem Mal als Jubel des hereinbrechenden Letzten entpuppt. Und die Sehnsucht, dass der Tod nicht das letzte Wort über mein Leben hat, ist heute nicht geringer als vor zweieinhalbtausend Jahren.

Wie gerne möchte ich noch das Bild der Kirche dazu malen. In aller Herausforderung ein Ort, an dem die Unruhe meines Lebens heilsam unterbrochen wird. Die Kirche als das Letzte, was Menschen bleibt, wenn sie an so vielen Orten an ihre Grenzen stoßen. Ich weiß - auch als Kirche bleiben wir hinter unseren Möglichkeiten, auch hinter unserem Auftrag oft genug weit zurück, Gott sei’s geklagt. Aber immer wieder finde ich in dieser Kirche Bilder, die mir mit den Träumen des Letzten das Vorletzte erträglich machen. Immer wieder begegne ich in der Kirche Menschen, die für andere als Botinnen und Boten einer besseren Zukunft den Blick zum Himmel auf Erden hin ausrichten. Immer wieder finde ich diese Bilder aber auch außerhalb der Mauern der Kirche. Und ich ahne, dass Gott die Grenzen zwischen Himmel und Erde, zwischen Vorletztem und Letztem noch einmal ganz anders zieht.

Heute, wenn die letzten Fragen so drängend sind, möchte ich dem entsetzten Ausruf dieser Frau im Zug am Ende doch auch widersprechen. Nein, die Kirche ist nicht das Letzte. Aber sie könnte ein Ort sein, an dem dieses Letzte, diese bessere Welt Gottes in den Blick kommt. Und ich mir plötzlich ganz sicher sein darf, dass da noch etwas kommt. Dass da noch etwas aussteht. Für die, die wir haben hergeben müssen. Für uns alle. Für mich! Gerade diese Hoffnung lässt sich am Ewigkeitssonntag von Neuem feiern.

Gebet
Zuletzt bleiben die Erinnerungen, Gott. Die, die mir die Menschen im Gedächtnis halten, die ich schon habe hergeben müssen. Die guten Erinnerungen, die meine Hoffnung nähren, dass am Ende alles Belastende sich verwandelt.

Zuletzt bleiben Fragen, Gott. Fragen, warum das alles hat sein müssen. Warum mir so vieles fürs Erste verwehrt bleibt. Fragen auch nach mir und dem, was kommt, auch jenseits meines Lebens hier auf dieser Erde.

Zuletzt bleibt mir nichts anderes mehr als die Dankbarkeit, Gott. Dafür, dass alles gut wird, irgendwann jedenfalls, in deiner Zukunft mit mir. 

Zuletzt, wenn’s drauf ankommt, bleibt mein Blick an dir haften, Gott. Und ich sehe wie in einem Spiegel, dass ich dein Ebenbild bin. Dass ich deine Schönheit auf meinem Antlitz trage. Und kein Mensch dir zu schade ist, um in ihm selber gegenwärtig zu sein.

Zuletzt bleibt mein Schweigen, weil es genug ist mit meinem Gottesgestammel, wenn du selber alles in allem und alles in mir bist.

Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.