Geistliches Wort über Lukas 15,1-10 zum 3. Sonntag nach Trinitatis

20.06.2021

Zahlen spielen in unserem Leben eine wichtige Rolle. Der tägliche Inzidenzwert. Die Prognosen vor Wahlen. Der schwankende Kurs der Aktien. Das erhoffte Wachstum der Wirtschaft. Die Ergebnisse der Spiele bei der derzeit laufenden Fußballeuropameisterschaft. Wesentliche Botschaften spiegeln sich in Zahlen wider. Und manchmal schauen wir wie gebannt auf das, was wir auf dem Bildschirm da in atemberaubender Frequenz immer neuer Zahlen zu lesen bekommen.

Auch Jesus bedient sich der Zahlen, um die Wirklichkeit mit einem Gleichnis ins Bild zu setzen. Er setzt sogar auf Prozentangaben, um zu beschreiben, ab welchem Wert im Himmel gefeiert wird. Ein Prozent umkehrwilliger Menschen reicht aus, um dort ein großes Fest zu feiern. Von daher müssten wir mit einer Kirchenmitgliedschaft von etwa 50 Prozent in Deutschland Anlass zu einem himmlischen Festmodus als Dauerzustand sein. In den Kirchen ist uns meist nicht nach diesem Festtagsmodus zumute. Stattdessen sorgen wir uns zurecht – und zu wenig? - um jeden einzelnen Menschen, der die Entscheidung trifft, in dieser Rechnung nicht mehr mitgezählt zu werden.

Von einem Hirten erzählt das Gleichnis Jesu, der auf einhundert Schafe aufpasst. Als er nur eines verliert, lässt er die Neunundneunzig, um sich auf die Suche nach dem Einen zu machen. Das Gleichnis endet mit einem Happyend. Das eine Schaf wird gefunden. Und der Hirte lädt zum Fest.

Wir würden heute strategisch meist anders vorgehen. Wir würden den Verlust des einen Schafs zum Anlass nehmen, mit erweiterten Schutzmaßnahmen zu verhindern, dass weitere Schafe verloren gehen. Unser Hauptaugenmerk richteten wir auf die neunundneunzig Prozent, für die wir immer noch Verantwortung haben. Ein Prozent Verlust wäre doch verkraftbar.

Wie gut, dass Gott hier im Gleichnis ganz anders denkt. Gott riskiert die neunundneunzig Schafe, um das eine Schaf zu retten. Und das erfolgreiche Rettungsprojekt motiviert womöglich die Neunundneunzig, dabei zu bleiben. Schön, wenn es denn so wäre! Im bekanntesten der drei Gleichnisse, in denen es ums Verlieren und ums Wiederfinden geht, in dem vom „verlorenen Sohn“, bricht der Daheimgebliebene mitnichten in Festjubel aus. Der Vater freut sich über den Rückkehrer, der zu Hause gebliebene Bruder leider nicht. Himmlischer Jubel setzt sich auf der Erde nicht zwangsläufig fort. „Was ärgert‘s dich, dass ich so großzügig bin?“ heißt‘s darum in einem anderen Gleichnis, das Jesus erzählt. Es ist der Frust der neunundneunzig Prozent, die die Erfahrung dieser Großzügigkeit so anscheinend nicht haben machen können.

So ganz kann das nicht stimmen. Zu den neunundneunzig Prozent zu gehören – anders gesagt zu denen, die das Glück hatten, unter Verhältnissen zu leben, die ihnen ersparen, worunter andere tagtäglich zu leiden haben -, das ist Grund genug, dankbar zu sein. Aber es erspart niemandem das Risiko, in anderer Weise genauso verloren zu gehen wie das eine Schaf im Gleichnis. Weil es Jesus zuletzt eben gerade nicht um Prozentangaben geht. Weil das Gleichnis den Blick darauf richtet, jeden Menschen einzeln in den Blick zu nehmen. Das verlorene Schaf von gestern gehört zu den neunundneunzig von heute. Und unter diesen Neunundneunzig befinden sich genügend, die morgen oder übermorgen verloren zu gehen drohen. Verlieren und finden – sie gehören zusammen und beschreiben unsere Situation vor Gott wie Martin Luthers Erkenntnis, dass wir immer „sündig“ und „gerecht“ zugleich sind.

Der Hinweis auf die Bedeutung des einen Schafs, das verloren geht – oder auch des einen Silbergroschens, der sich nach gründlichster Suche wiederfindet – beschreibt einen Perspektivwechsel. Es ist gut, nicht einfach nur den Prozentangaben zu vertrauen. Hinter jeder Prozentzahl verbergen sich konkrete Menschen, ganz egal, um was für eine Statistik es sich handelt.

Eine konkrete Umsetzung dieses Blicks auf die einzelne Person mit globalen Konsequenzen macht mir Mut. Die UN-Konvention aus dem Jahr 2009, der sich der weltweite Prozess der Inklusion verdankt, setzt im Grunde genau diesen Perspektivwechsel politisch um. Wenn einzelne Menschen aus unterschiedlichsten Gründen ausgeschlossen sind von Bildung oder politischer Mitgestaltung, wenn ihnen bestimmte Formen des Lebens und Wohnens und der Teilhabe in einer Gesellschaft nicht möglich sind, dann wird nicht gefeiert, dass die neunundneunzig anderen dabei sein können – im Gegenteil: Das Ziel der weltweiten Bemühungen um Inklusion sucht nach Wegen, diese scheinbare „Minderheit“ der „Mehrheit“ gleichzustellen. Der Gleichnis-Erzähler aus Nazareth hätte sich hier auf jeden Fall sehr gut verstanden gefühlt! Und womöglich hätte er darum auch gleich wieder zu einem himmlischen Fest eingeladen.

Vermutlich wird im Himmel viel mehr gefeiert als bei uns hier auf der Erde. Das eine gerettete Schaf und der eine in den Blick gerückte Mensch sind dafür schon Grund genug. Und wie für dieses Feiern auch schon ganz wenig genügt, damit es gelingen kann, das haben wir in den zurückliegenden Monaten ja ausgiebig lernen und üben können. 

 

Gebet
Dass Menschen verloren gehen, Gott - im Gestrüpp der alltäglichen Überforderungen, in Krankheit, auf der Flucht – dir sei’s geklagt. Auch dem Himmel bleibt da nicht selten nur Schweigen.

Dass Menschen gefunden werden, Gott, - dass sie die verlorengegangene Richtung wieder entdecken, aus Erstarrung und Sprachlosigkeit herausgerissen und neu belebt werden, dass sie dir begegnen, und sei’s ganz einfach nur in einem Menschen an ihrer Seite, ganz unerwartet – es kann den Himmel zum festlichen Beben bringen.

Dass ich viel mehr bin als eine Zahl und eine Prozentangabe, Gott – dass ich bei dir im Blick und von dir geliebt bin, seit allem Anfang und selbst dann, wenn mir diese Gewissheit ein ums andre Mal durch die Finger gleitet, das verdanke ich dem einen, auf den du deinen Blick gerichtet hast, im Tod und viel mehr noch im Leben!

Grund genug zum himmlischen Fest sind wir allemal – nicht länger verloren, vielmehr gefunden, immer wieder neu.

Amen.

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.